Die künstliche Ernährung am Ende des Lebens

Imago Hominis (1998); 5(2): 124-128
Gottfried Roth

Die Betreuung schwerstkranker Menschen im Rahmen der Notfalltherapie und die Begleitung sterbender Menschen im Rahmen einer Palliativtherapie hat in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren. Seit langem wird die Therapie der Schmerzzustände am Ende des menschlichen Lebens diskutiert, arztethisch beurteilt und klinisch durchgeführt: Divinum dolorem sedare. Mit der zunehmenden Intensivtherapie und den Reanimationsmaßnahmen wandte man sich der Hydrationstherapie zu: Der Patient dürfe nicht verdursten; und nunmehr ist die Ernährungstherapie dazu gekommen, es könnte die Kachexie eine Mitursache des Sterbens sein; der Patient dürfe auch nicht verhungern.

Je mehr man über die todbringende Beeinträchtigung am Ende des altersbedingten bzw. krankheitsbedingten Endes des menschlichen Lebens weiß, um so komplexer wurden die kausalen, symptomatischen bzw. palliativen Maßnahmen, die arztehtisch gefordert sind.

Es ist also notwendig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob eine Notfalltherapie indiziert ist, sei diese nun kausal und/oder symptomatisch, oder ob die akute Situation eine auch organmedizinisch auszuübende Sterbehilfe erfordert; dies alles im Rahmen einer ärztlichen Ethik, die sich nicht nur an einem humanistischen Menschenbild orientieren kann, sondern an einem christlichen Menschenbild, da dieses unter der Berücksichtigung, daß der Mensch immer ein ens religiosum ist, den kranken Menschen in seiner (tatsächlichen) Ganzheit in die heilsamen Maßnahmen einbezieht1. Im Hildegardis-Jahr sei an Hildegard von Bingen erinnert, deren heute oft zitierte Medizin mehr ist als eine Naturheilkunde, mehr ist als eine Pflanzenheilkunde, sondern das heilsame Umfaßtwerden der kranken Menschen durch Gottes Schöpfung.

In der gegenwärtigen Zeit eines Verfalls der ärztlichen Ethik ist hinsichtlich unseres Themas darauf hinzuweisen, daß man eine „Euthanasie“ auch durch Entzug von Nahrung und Flüssigkeit bewerkstelligen kann.

Es ergeben sich folgerichtig einige Probleme, die rein medizinisch-naturwissenschaftlicher Natur sind, aber auch anthropologisch-personelle Probleme, da der Mensch ein Natur- und Geistwesen ist, ein Natur-Geistseele-Wesen, was auch am wie immer verursachten Ende seines Lebens die ärztlich-therpeutischen Maßnahmen bestimmt, mit Respekt und Verantwortung.

Es gibt mehrere ethische Systeme in der Medizin; unter diesen kommt der Verantwortungsethik ein Vorzug zu, weil dieser der Würde des kranken Menschen am besten entspricht und eine gute Übereinstimmung mit führenden Ärzten, Theologen, Philosophen und Rechtsgelehrten aufweist2.

Der naturwissenschaftliche Anteil der Humanmedizin führt (gegenwärtig nicht selten) an die Grenzen der Ethik; mit anderen Worten: Der Arzt darf nicht all das tun, was er medizinisch könnte, sondern nur das, was er arztethisch verantworten kann. Für die folgenden Erörterungen des vorgegebenen, im Titel formulierten Themas sind einige Leitgedanken notwendig:

Zu den lebenserhaltenden Maßnahmen gehören insbesondere künstliche Wasser- und Nahrungszufuhr, Sauerstoffzufuhr, künstliche Beatmung, Medikation, Bluttransfusion und Dialyse.

1. Die künstliche Ernährung gehört an sich zu den lebenserhaltenden Maßnahmen im Rahmen der Intensivmedizin, die auch beim Sterbenden in der Sterbebegleitung eine wichtige Bedeutung haben.

2. Es bedarf einer Entfaltung, um nicht im allgemeinen zu bleiben: künstliche Ernährung bei schweren Erkrankungen mit (höchstwahrscheinlich) infauster Prognose; künstliche Ernährung bei chronischem Sterben im Rahmen des sogenannten physiologischen Todes bzw. bei bestehenden therapieresistenten Erkrankungen; künstliche Ernährung bei unfallbedingten bzw. kriegsbedingten Verletzungen bei vordem leiblicher Gesundheit.

Es gibt jeweils einen verschiedenen Ausgangspunkt für die zu treffenden Entscheidungen.

3. Es ist zu entscheiden, ob der Patient urteilsfähig ist, ob er urteils- und/oder äußerungsfähig ist, ob er in medizinisch-ärztliche Maßnahmen einwilligen kann oder ob er dazu unfähig ist. Eines bleibt trotz allfälliger Behinderung: der personale Status des Sterbenden. Die Personalität existiert beim ungeborenen oder schlafenden Menschen, beim bewußtseinsgetrübten und beim bewußtlosen Menschen, ebenso in der Psychose. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde, die der normative Grund für alles ärztliche Handeln ist3.

4. Die klinische Erfahrung lehrt, daß es Übergänge gibt: die Notfalltherapie kann in eine palliative Therapie im Sinne einer Hilfe für den Sterbenden übergehen. Der Neurochirurg R. Kautky, in seinem Fach der Hirnchirurgie von hoher Kompetenz, hat in früheren Gesprächen darauf hingewiesen, daß viele subtile Überlegungen zweifelsohne notwendig sind, ebenso auch hochkomplizierte Maßnahmen, daß aber der Ausgang, der exitus, aufgrund einer Eigengesetzlichkeit des krankhaften Zustandes sich ergibt, welche oftmals nicht durchschaut werden kann, sondern gewissermaßen schicksalhaft eintritt; was keine Resignation bedeutet, sondern die Einsicht aus sorgfältig geprägter klinischer Erfahrung.

5. Eine weitere Überlegung: wieweit ist die künstliche Ernährung eine kausale Therapie, wie stellt sie eine verloren gegangene Ordnung wieder her? Bei Hungerzuständen, die zu einem (chronischen) Sterben geführt haben, ist die künstliche Ernährung kausale Therapie; wieweit ist die künstliche Ernährung palliative Therapie – lindernde Behandlung – im Gegensatz zu heilender Behandlung? Meist ist die künstliche Ernährung symptomatische Therapie im Rahmen einer Intensivtherapie.

Die Frage, ob die Pflicht zur künstlichen Ernährung bis zum Tod gilt, ist dahingehend zu beantworten, daß geprüft werden muß, ob der Verzicht auf Ernährung nicht zur Hauptursache für den Todeseintritt wird4. Denn vom Patienten her ergibt sich das Problem eines maskierten Selbstmordes, vom Arzt her gesehen das Problem der Beihilfe zum Selbstmord oder der „passiven Euthanasie“, wenn der Patient unfähig ist, selbst zu entscheiden.

Die ärztliche Aufgabe ist sehr komplex: „Im körperlichen Bereich wird es vor allem um eine kunstgerechte Behandlung etwa vorhandener Schmerz- und Angstzustände gehen; denn Todesangst ist keineswegs nur ein psychogenes Phaenomen, nicht nur eine Folge der Furcht vor dem Sterben. Sie kann vielmehr gleichzeitig oder unabhängig davon, somatogen entstehen. Dann muß sie als psychische Seite des Paroxysmus von Regulation und Gegenregulation gelten, der dem tödlichen Zusammenbruch der vegetativen Steuerung vorausgeht. Die moderne Pharmakologie gestattet dem Kundigen, diesen Paroxysmus zu durchbrechen und quälende Angst ohne Narkose zu beseitigen. Die Todesfurcht dagegen, jenes Zurückschrecken des Menschen vor dem „eigentlich Untragbaren“, bedarf anderer Mittel als die Pharmazie bereiten kann. Auch gutes Zureden wird dem Todkranken nicht zu jener letzten Reife verhelfen, die ihn befähigt, „das Zeitliche segnend“ nach Ewigem auszulangen. In dieser Not bedarf der Leidende des im Umgang mit dem Tod gereiften Arztes, der gelernt hat, aus der Ich-Verstrickung herauszutreten und seinen Patienten auch in äußerster Bedrängnis in Akten sinnsetzender Bewältigung zu befreien“5.

Diese Überlegungen machen deutlich, wie komplex die Frage nach einer verantwortlichen künstlichen Ernährung ist, und daß die Heilkunst des Arztes, die sich der bewährten Heilkunde bedient, letztere überschreitet quo ad sanationem und quo ad vitam. Die klinische Erfahrung weiß zahlreiche gut dokumentierte Beispiele dafür6.

Es geht um die Hilfe des Arztes, um medizinische und pflegerische Maßnahmen, um die menschenwürdige Hilfe für den Sterbenden, aber auch um die Beendigung derselben (Behandlungsabbruch), wenn jene Maßnahmen nur allein (isoliert) apersonale Vorgänge aufrecht erhalten, die kein notwendiges Substrat mehr für gesamtmenschliche Leistungen darstellen. Es geht weder um die Fortsetzung aus Gründen der Forschung noch um vorzeitige Beendigung aus Gründen der finanziellen Ersparungen.

Es gibt apersonale Vorgänge, die nicht mehr dem Geistseele-Leib-Wesen Mensch integriert sind, dessen Leben an sich an apersonale Vorgänge (in der somatischen Dimension) gebunden ist.

Der irdische Tod ist ein Recht des Menschen, worüber Philosophie und Theologie kompetente Aussagen machen, und auch die an diesen orientierten Medizinphilosophie und Pastoralmedizin (eine Verbindung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft mit der beide integrierenden Gotteswissenschaft) sind „zu Nutz und Frommen“ des gesunden und des kranken Menschen befaßt7.

Da verschiedene Länder in dieser obigen Frage ein unterschiedliches Strafrecht haben, soll die Erörterung des im Titel vorgegebenen Problems im Rahmen der Humanmedizin verbleiben, zumal diese einen allgemein gültigen, positives Recht überschreitenden Geltungsbereich hat. Gewiß (ärztliche) Ethik und (staatliches) Recht hängen eng zusammen, decken sich aber nicht immer. Naturrechtliche Aspekte werden hilfreich, um einer menschenwürdigen Vorgangsweise die notwendige Begründung zu verschaffen.

Im ärztlich-klinischen Bereich ergeben sich nun – konkret – mehrere Probleme und auch mehrere Folgen der künstlichen Ernährung. Im Verlaufe des chronischen Sterbens treten belastende Hunger- und Durstgefühle auf, die durch eine künstliche Wasser- und Nahrungszufuhr vermindert werden können. Diese sind nicht nur aus Gründen der Linderung der Beschwerden des Sterbenden, des todkranken und sterbenden Menschen angemessen, sondern auch wegen einer nie letztlich sicher abzuschätzenden Prognose. „Man sollte auch nie vergessen, daß viele Menschen der Intensivmedizin die Rettung ihres Lebens verdanken und oft nur aus dem Grunde, weil sich die Ärzte im Zweifelsfalle für den Versuch einer Behandlung entschieden hatten. Denn dies ist die Regel: Wenn über den möglichen Ausgang auch nur eine geringe Unsicherheit besteht, so pflegt man sich zunächst für die Behandlung zu entscheiden.

Markus von Lutterotti verweist auf Beispiele in der medizinischen Literatur, in welchen gezeigt wird, „wie Patienten nach schwersten Traumen und mit zunächst höchst zweifelhafter Prognose nach der Intensivbehandlung schließlich geheilt wieder nach Hause entlassen werden konnten. Diese Beispiele würden genügen, um eine intensive ärztliche und pflegerische Aktivität – man spreche hier nicht vom Aktionismus (den es natürlich auch gibt) – in allen jenen Fällen, bei denen auch nur eine geringe Hoffnung besteht, zu rechtfertigen“8 in dubio pro moribundis.

In letzter Zeit ist besonders das Phaenomen der Dehydration untersucht worden: die Pathophysiologie der Dehydration9. Der Wasserverlust entsteht dadurch, daß mehr Flüssigkeit in den extrazellulären Raum austritt, wenn es gastrointestinal durch Erbrechen oder Durchfall, zumal iatrogen durch Diuretika zu einem Verlust von Wasser kommt, ebenso dadurch, daß über den Respirationstrakt durch Schweiß und Schleimhautsekrete Wasser verloren geht. Es gibt aber auch Flüssigkeitsverluste bei Darmverschluß, Peritonitis, Pankreatitis, Blutungen, Frakturen und Thrombosen größerer Venen, bei der sogenannten Flüssigkeitssequestration. Die aufgezählten Formen von Wasserverlust finden sich in wechselnden Kombinationen bei praemoribunden und moribunden Patienten. Die negative Volumensbilanz entspricht einem verminderten arteriellen Blutvolumen und führt dazu, „daß die Gewebe, die Muskelzellen usw. zu wenig Blut erhalten, ungenügend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt und ungenügend von Schlackenstoffen und Kohlensäure befreit werden“. Abweichungen von der normalen Herztätigkeit, Hochdruck, Änderung der Nierentätigkeit und damit Verminderung der Salzausscheidung sind die Folge; nicht nur die Funktionen von Herz und Niere, sondern auch die des Gehirns werden beeinträchtigt. Natürlicherweise werden Vorgänge angeregt, um die renale Salzausscheidug zu „reduzieren“ und die Wasserverluste auf ein Minimum zu beschränken – über den Durst, d.h. über das Trinken, aber auch über die Infusion werden die extrazellulären Volumensverluste ersetzt.

Folgerichtig bleibt zunächst eine Intensivtherapie geboten, eine „maximale Konzentration therapeutischer Maßnahmen unter optimalen klinischen Bedingungen bei lebensbedrohlichen Situationen“, wobei die Unsicherheit der Prognose bedacht werden muß, so daß die Intensivtherapie, wie eben erwähnt, auch beim sterbenden Menschen zunächst noch sinnvoll ist, daher arztethisch geboten ist, die neben einer genauen Bilanzierung und Ausgleichung eines gestörten Wasser- und Elektrolythaushaltes sowie des Säure-Basen-Gleichgewichtes eine langdauernde künstliche (parenterale) Ernährung, eine Dialyse, eine Langzeitbeatmung etc. erfordert10.

Im Sinn der oben gewählten Zielsetzung aufgrund einer Verantwortungsethik, die vor allem die Personalität des Menschen achtet, geht es nicht um eine maximale Konzentration therapeutischer Maßnahmen, sondern um eine optimale Therapie, die gegenüber Leben und irdischem Tod des Menschen (gleichermaßen) eine arztethisch verantwortete Harmonie erreicht.

Die biochemischen und pathophysiologischen Phaenomene sind gut untersucht und können entsprechend korrigiert werden, um organische Schäden und funktionelle Abweichungen zu vermeiden. Es gibt zahlreiche Symptome, die aufgrund des verminderten effektiven und arteriellen Blutvolumens (=Dehydration) auftreten: Durstgefühl, Bauchschmerzen infolge einer Darmischaemie, Thoraxschmerzen infolge einer Ischaemie der Coronargefäße, Lethargie und Verwirrung als Folgen cerebraler Ischaemie; ferner Hypotonie und Tachycardie, orthostatischer Blutdruckabfall, Verminderung des Hautturgors. Die Hyponatriaemie ist ein führender Befund der Dehydration. Bei cerebralen Phaenomenen wird der Bewußtseinszustand vermindert, die Wahrnehmung und auch die Schmerzen (dehydrierte Patienten brauchen weniger Schmerzmittel). Man liest von Vorteilen der Dehydration bei Sterbenden, indem gewisse Symptome gelindert werden. Damit ergibt sich ein weiteres Dilemma, wenn bei Dehydration wiederum Schmerzen und andere negative Gefühle auftreten.

Trotz aller Kenntnisse der naturwissenschaftlich faßbaren Vorgänge im Sterben ist mit J.Pieper festzuhalten: „...wenn die exakt messende und beschreibende, mit den Methoden der wissenschaftlichen Physiologie und Pathologie vorangehende moderne ’Thanatologie‘ zu einem unbestrittenen Resultat gelangt ist, dann ist dieses Resultat die Einsicht in die Schwererkennbarkeit dessen, was im Tode des Menschen wirklich geschieht“11.

Referenzen

  1. Paris, J. The Catholic Tradition on the use of nutrition and fluids, 189-208. In: Wildes, K.Wm.: Birth, Suffering and Death: Netherlands 1992
  2. Balkenohl, M.: Ethische Aspekte der Gen-Technologie und der Fortpflanzungsmedizin; 7-24. In Balkenohl, M., Reis, H., Schirren, C.: Vom beginnenden menschlichen Leben. Bernward, Hildesheim, 1987
  3. Guardini, R.: Das Recht des werdenden Menschenlebens. R. Wunderlich, Stuttgart-Tübingen, o.J. S 18
  4. Donatsch, A.: Gilt die Pflicht zu Ernährung bis zum Tode? Beurteilung der Fragestellung aus strafrechtlicher Sicht. Schweiz, Rundschau Med. 82(199), S 8, 1047-1052
  5. Engelmeier, M.P.: Sterbehilfe, Theol.prakt. Quartalschrift 124(1976) 336-349
  6. von Lutterotti, M.: Menschenwürdiges Sterben, Herder, Freiburg im Breisgau, 1985
  7. Roth, G.: Authentische Pastoralmedizin; In: Glaube und Politik, Festschrift für R.Prantner. Duncker und Humblot, Berlin, 1991, 341-352
  8. von Lutterotti, M.: siehe 4, S 71
  9. Brunner, F.P.: Pathophysiologie der Dehydration, Schweiz.Rundschau Med. 82, 29/30 (1993)
  10. Medizinisch-ethische Richtlinien für die ärztliche Betreuung Sterbender und cerebral schwerst geschädigter Patienten. Schweiz. Akademie für medizinische Wissenschaften, Schweiz, Ärztezeitung 76(1995)29, 1223-1225
  11. Pieper, J.: Tod und Unsterblichkeit, Kösel, München 1968, S 144

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. med. Gottfried Roth
o. membr. Pontific. Academ. pro vita
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Anthropologie und Bioethik
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