Rolle der Pflege bei ethischen Entscheidungen

Imago Hominis (2012); 19(2): 97-105
Sabine Ruppert, Patrik Heindl, Vlastimil Kozon

Zusammenfassung

Mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung müssen ethische Entscheidungen am Lebensende von ÄrztInnen getroffen werden. Die Pflege als Profession wird in diesem Kontext kaum wahrgenommen. Anhand von Ergebnissen einer Untersuchung zur Rolle der Pflege bei ethischen Entscheidungen am Lebensende soll die Frage beantwortet werden, ob die Pflegenden überhaupt einbezogen werden sollen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Pflegepersonen eine sehr wichtige Rolle innehaben, die Entscheidungsprozesse aber meist informell und unstrukturiert ablaufen. Um die geleisteten Tätigkeiten und die damit verbundene Verantwortung der Pflegepersonen sichtbar zu machen und weiterzuentwickeln, bedarf es der Implementierung einer klinischen Ethikberatung durch die Organisation.

Schlüsselwörter: Rolle der Pflege, ethische Entscheidungen am Lebensende, klinische Ethikberatung, Ethikkommission

Abstract

With the development of technical options for prolonging life at the end of life ethical decisions will be made by doctors. Nursing as a profession is hardly perceived in this context. Based on results of a study on the role of care in ethical decisions at the end of life the question is to answer whether care should be included at all. Results show that carers hold a very important role. The decision processes are more informal and unstructured. To make the activities already undertaken visible and the associated responsibility of nurses in connection with ethical decisions at the end of life and to develop them further, it needs the implementation of clinical ethics consultation by the organization.

Keywords: Role of Nursing, End-of-life Decisions, Clinical Ethics Consulting, Ethics Committee


Problembeschreibung

Pflegepersonen müssen im täglichen Berufsalltag viele ethische Entscheidungen treffen, wie beispielsweise: Führe ich heute bei diesem Patienten eine Ganzkörperwaschung durch oder akzeptiere ich seinen Widerspruch? Muss ich bei dieser Patientin eine Schutzfixierung durchführen? Gestatte ich der Ehefrau einen Besuch auch außerhalb der offiziellen Besuchszeiten? Wie führe ich das Setzen eines Dauerkatheters bei einer Patientin im Vierbettzimmer durch, ohne ihre Würde zu verletzen? Bei diesen Entscheidungen müssen ethische Konzepte wie Würde, Autonomie, Gerechtigkeit und Fürsorge beachtet werden. Die Pflege als Profession hat im letzten Jahrhundert eine eigene Berufsethik entwickelt,1 da sie erkannt hat, dass ethische Themen im Gesundheitswesen eigene ethische Konzepte der Pflege benötigen. Diese Konzepte werden in der täglichen Praxis in der Beziehung zwischen Pflegepersonen und den von ihnen betreuten Menschen angewendet.

Die häufigsten Diskussionen und Probleme im Krankenhausalltag treten bei ethischen Entscheidungen am Lebensende auf. Durch den medizintechnischen Fortschritt, vor allem auf den Gebieten der Intensivmedizin, Transplantationsmedizin und Onkologie, können viele Krankheiten gebessert und auch geheilt werden. Aber dadurch können auch Situationen und Zustände entstehen, die menschenunwürdig wirken oder sind. Mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung zeigt sich, dass „dieser Fortschritt zwar das Leben, aber nicht unbedingt auch das gute Leben verlängerte.“2 Kneihs (1998)3 und Kodalle (2003)4 sind der Meinung, dass die Gefahr heutzutage nicht ein zu schneller Tod ist, sondern ein zu lange künstlich verlängertes Leben. Daher müssen manchmal ethische Entscheidungen am Lebensende getroffen werden, die in den meisten Fällen von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten entschieden werden. Immer wieder wird, wie auch am 10. Kongress der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin und Notfallmedizin, betont, dass „diese Entscheidung eine ärztliche sei und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte die alleinige Verantwortung tragen“. Auch in Empfehlungen zur Entscheidungsfindung in der Literatur wird die Pflege als Profession nicht wahrgenommen.5

Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Soll oder muss die Pflege überhaupt bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende einbezogen werden? Die Autoren möchten aufgrund der Darstellung der Ergebnisse einer deskriptiven Untersuchung zum Thema „Rolle der Pflege bei ethischen Entscheidungen am Lebensende“ aufzeigen, dass dies notwendig und erforderlich ist. Bereits mit der Begriffsauswahl „ethische Entscheidungen am Lebensende“ im Gegensatz zum gängigen Begriff „medizinische Entscheidungen am Lebensende“ oder „end-of-life-decisions“ (EOLD) möchten wir die Bedeutung und Tragweite dieser Entscheidungen betonen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass bei diesen Entscheidungen viele verschiedene Berufs- und Personengruppen betroffen sind, dass sie viele Aspekte – nicht nur medizinische – beinhalten und dass es sich letztendlich um eine ethische multidisziplinäre Entscheidungsfindung handelt.

Forschungsmethodik

Wie sieht die Rolle der Pflegepersonen bei diesen ethischen Entscheidungen am Lebensende in der Praxis aus? Werden sie miteinbezogen, beteiligen sie sich aktiv oder wollen sie mit diesen Entscheidungen nichts zu tun haben? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, wurde ein pflegewissenschaftliches Forschungsprojekt zur „Rolle der Pflege bei ethischen Entscheidungen am Lebensende“6 in einer österreichischen Universitätsklinik durchgeführt. Es wurde ein deskriptives exploratives Querschnittdesign angewendet. Die Datenerfassung erfolgte mittels teilstrukturiertem Fragebogen, der in Anlehnung an die Untersuchung von Van Bruchem et al.7 entwickelt wurde. Der Fragebogen wurde an insgesamt 341 Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen verteilt, die an Intensivstationen und Normalpflegestationen aus den Bereichen Onkologie, Palliative Care, Kardiologie, Hämatologie, plastischer Chirurgie und Notfallmedizin tätig sind. Die Pflegepersonen füllten die Fragebögen freiwillig und anonym aus. Die Rücklaufquote betrug 51,6% (n= 176). Die geschlossenen Fragen wurden unter Zuhilfenahme des Datenverarbeitungsprogrammes Microsoft Excel deskriptiv ausgewertet. Die Antworten auf die offenen Fragen wurden entsprechend der Inhaltsanalyse nach Mayring8 ausgewertet.

Der Fragebogen ist in die Bereiche gegliedert:
  •    Schmerztherapie bei sterbenden Patientinnen und Patienten
  •    Patientenverfügung
  •    Entscheidungsprozess
  •    Rolle der Patientinnen und Patienten im Entscheidungsprozess
  •    Rolle der Angehörigen im Entscheidungsprozess
  •    Therapierückzug
  •    Pflege bei Therapierückzug
  •    Konflikte
  •    Fortbildungsbedarf
  •    Begriffsdefinitionen 

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass den befragten Pflegepersonen eine große Rolle bei ethischen Entscheidungen am Lebensende zukommt, die Entscheidungsprozesse aber sehr unstrukturiert, informell verlaufen und schwer nachvollziehbar sind. Es zeigt sich ein Schulungsbedarf der Pflegepersonen hinsichtlich Pflegeethik, Organisationsethik, Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende.

Nachfolgend werden einige Ergebnisse dargestellt, die die Bedeutung der Pflegepersonen bei ethischen Entscheidungen am Lebensende belegen.

Entscheidungsprozess

Patientinnen und Patienten und ihre Angehörige äußern häufig den Wunsch nach Therapierückzug/-abbruch zuerst gegenüber den Pflegepersonen. Diese handeln damit sehr professionell, indem sie diese Wünsche nicht ignorieren, sondern darauf eingehen und mit den PatientInnen Gespräche führen.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass sehr häufig Gespräche über einen möglichen Therapierückzug/-abbruch zwischen den Pflegepersonen und den Ärztinnen und Ärzten stattfinden. Diese Gespräche laufen jedoch unstrukturiert und informell ab, da sie oft während der Arbeitstätigkeiten stattfinden. Für viele Pflegepersonen ist nicht nachvollziehbar, ob dieselbe Person den Therapierückzug wieder aufhebt, die ihn angeordnet hat. Die Tatsache, dass nur relativ wenige Pflegepersonen mit der Entscheidung für oder gegen einen Therapierückzug/-abbruch immer einverstanden sind, wirft Fragen über die Struktur und Qualität der interdisziplinären Gespräche auf. Man könnte davon ausgehen, dass der Anteil an Pflegepersonen, die mit der Entscheidung einverstanden sind, höher ist, wenn diese Gespräche tatsächlich Diskussionen und strukturierte Entscheidungsprozesse wären. Auch die Tatsache, dass diese Gespräche meist nur zwischen den beiden Berufsgruppen der Pflegepersonen und der Ärztinnen bzw. Ärzte stattfinden, ist kritisch zu betrachten. Sollten in diese Gespräche nicht auch die Patientinnen und Patienten selbst beziehungsweise deren Angehörige und möglicherweise auch andere Berufsgruppen, wie zum Beispiel Seelsorgerinnen und Seelsorger, einbezogen werden? Die Kommunikation sollte in einem Kreis, und zwar in einem größeren Kreis stattfinden. Dadurch werden andere Sichtweisen in den Entscheidungsprozess miteinbezogen, und trotz der alleinigen Entscheidungsverantwortung der Ärztinnen und Ärzte können diese dadurch unterstützt und entlastet werden.

Ein Großteil der Pflegepersonen ist der Meinung, dass sie einen Beitrag im Entscheidungsprozess für oder gegen einen Therapierückzug/-abbruch leisten sollen. Dies zeigt, dass sich die Pflegepersonen ihrer Verantwortung und Kompetenz bewusst sind und diese auch wahrnehmen möchten.

n%
soll beitragen89~51,1
darf beitragen23~13,2
soll nicht beitragen6~3,4
muss beitragen26~17,9
kann beitragen25~14,4
will nicht antworten5~2,9
Tab. 1: Wie ist Ihre Meinung in Bezug auf den Beitrag der Pflege bei der Entscheidung für oder gegen einen Therapierück- zug/-abbruch?

Therapierückzug/-abbruch

Bei den Definitionen des Therapierückzugs/-abbruchs und der passiven Sterbehilfe zeigt sich, dass die Pflegepersonen Schwierigkeiten haben, Handlungen entsprechend zuzuordnen. Vor allem der Begriff der passiven Sterbehilfe wird häufig als eine Erhöhung der Schmerztherapie definiert.

Bei Therapierückzug/-abbruch werden die Pflegemaßnahmen an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen angepasst. Dies kann sowohl eine Steigerung der Maßnahmen als auch eine Reduzierung der Pflegemaßnahmen beinhalten beziehungsweise auch eine Veränderung der Schwerpunkt- und Zielsetzung. Die Definitionen, die die Pflegepersonen angeben, machen deutlich, dass das Konzept Palliative Care nur sehr wenig bekannt ist.

Der Therapierückzug/-abbruch wird laut der Ergebnisse in fast 80% der Fälle von den Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Diese Resultate sind aufgrund der Rückmeldungen aus den Reflexionsrunden mit den TeilnehmerInnen und aufgrund der Praxiserfahrung kritisch zu betrachten. Vor allem auf Intensivstationen führen Pflegepersonen oft selbst den Therapierückzug/-abbruch durch, indem sie kreislaufunterstützende Medikamente stoppen, die künstliche Beatmung reduzieren oder die Sedoanalgesierung erhöhen – auf Anordnung der Ärztinnen und Ärzte.

In diesen Reflexionsrunden berichten die TeilnehmerInnen, dass ein Therapierückzug/-abbruch selten von Seiten der Pflegepersonen dokumentiert wird. Als extremes Beispiel dafür wird sogar ein Verbot der Dokumentation angeführt. Die Pflegepersonen berichten auch, dass sie die Ärztinnen und Ärzte auf ihre Dokumentationspflicht immer wieder hinweisen müssen.

n%
Oberarzt/ -ärztin131~54,1
Konsiliararzt/-ärztin5~2,1
weiß nicht00
diensthabende/r Ärztin/Arzt82~33,7
Pflegepersonen23~9,5
andere Personen2~0,8
Tab. 2: Wer führt den Therapierückzug/-abbruch durch? (Mehrfachnennungen möglich)

Schmerztherapie bei sterbenden PatientInnen

Bezüglich der Schmerztherapie gibt es auf vielen Stationen keine Richtlinien oder Standards. Pflegepersonen haben dennoch im Gegensatz zu den Ärztinnen und Ärzten9 kaum Ängste, dass es durch die Schmerztherapie zu einer Lebensverkürzung bei den PatientInnen kommt. Die Pflegepersonen orientieren sich an ihrer Erfahrung bzw. den ärztlichen Verordnungen und sind der Meinung, dass die Schmerztherapie individuell verabreicht wird. Diese Ansicht steht im Widerspruch zu den Ergebnissen, die zeigen, dass die Patientinnen und Patienten erst an vierter Stelle nach den Pflegepersonen, diensthabenden Ärztinnen und Ärzten und den Oberärztinnen und Oberärzten zur Beurteilung der Wirksamkeit der Schmerztherapie herangezogen werden.

Pflegepersonen haben bei der Definition der indirekten Sterbehilfe Schwierigkeiten, da sie diese sehr oft in Zusammenhang mit Maßnahmen des Therapierückzug/-abbruchs setzen.

Patientenverfügung

In Bezug auf die Patientenverfügung herrscht unter den Pflegepersonen eine große Unsicherheit. Sie fühlen sich nicht ausreichend über die Rechtslage und die Reichweite der Patientenverfügung informiert und wünschen sich mehr Fortbildungen zu diesem Thema. Sie geben bei der Beantwortung der Definitionsfrage über die Patientenverfügung sehr viele richtige Inhalte zur Patientenverfügung und Rechtslage an. Die Aktualität und allgemeine Präsenz des Themas Patientenverfügung in Österreich könnte zur Unsicherheit auf Seiten der Pflegepersonen beitragen. Zusätzlich spielt in diesem Zusammenhang die geringe Erfahrung im Umgang mit der Patientenverfügung von Seiten der Pflegepersonen eine Rolle. Pflegepersonen sind sich nicht nur in Bezug auf eine vorliegende Patientenverfügung unsicher, sondern auch in Bezug auf ihre eigene Rolle. Eine Pflegeperson stellt die Frage, ob sie Patientinnen und Patienten über die Patientenverfügung informieren darf, wenn sie noch keine haben. Wie Löser feststellt, kann dieses Thema sogar im Rahmen von Pflegevisiten oder anderen Gesprächen angesprochen und entsprechende Hilfe angeboten werden.10

Die Ergebnisse zeigen auch strukturelle Schwierigkeiten auf, beispielsweise wird zum Erhebungszeitpunkt noch nicht standardmäßig in den Patientenunterlagen/-dokumenten und Depositen nach einer Patientenverfügung gesucht.

Einstellung der Pflegepersonen zur aktiven Euthanasie und zum eigenen Sterben

Die Pflegepersonen verwechseln häufig aktive mit passiver Sterbehilfe. Dies ist anhand der Beschreibung der Maßnahmen, die sie in den Definitionen nennen, erkennbar. Beispielsweise erachten Pflegepersonen das Abbrechen einer Therapie als aktive Sterbehilfe und den assistierten Suizid als passive Sterbehilfe.

Auf die Frage „Sollte in Österreich aktive Euthanasie nach dem Vorbild der Niederlande11 möglich sein?“ antwortet die Mehrzahl der Pflegepersonen mit „ja“ und „nur in besonderen Fällen“.

n%
nein22~14,9
ja38~25,6
nur in besonderen Fällen64~43,2
bin mir nicht sicher24~16,3
Tab. 3: Sollte in Österreich aktive Euthanasie nach dem Vorbild der Niederlande möglich sein?

Die Resultate entsprechen Ergebnissen aus der Literatur.12,13 Die Begründungen für die Einstellung der Pflegepersonen spiegeln die Kernthemen der Euthanasiedebatte wider, wie beispielsweise „Autonomie“, „unerträgliches Leid“, „Tötungsverbot“, „Fehlentscheidung und Missbrauch“.

Die Pflegepersonen wünschen für sich selbst einen schnellen, schmerzlosen, angstfreien und würdevollen Tod im Beisein von Angehörigen zu Hause und ein Sterben, das autonom und bewusst gestaltet wird. Dies sind eigentlich Kennzeichen der aktiven Euthanasie und des Konzepts der Palliative Care.

Die Einstellungen der befragten Pflegepersonen zur aktiven Euthanasie und die Wünsche in Bezug auf ihren eigenen Tod resultieren möglicherweise aus den praktischen Erfahrungen der Pflegepersonen im Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden. Der Wunsch zu Haus zu sterben, resultiert aus der Erfahrung, dass zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher in Krankenanstalten versterben.14

Konflikte

Am häufigsten treten Meinungsdifferenzen zwischen den Berufsgruppen der Pflege und der Medizin auf, wobei diese ausgelöst werden durch Meinungsänderungen innerhalb der Ärzteschaft. Als Beispiele werden Situationen beschrieben, in denen ein angeordneter Therapierückzug von anderen Ärztinnen und Ärzten wieder aufgehoben wird oder die leitenden Oberärztinnen und Oberärzte immer weiterbehandeln möchten und das übrige Team in die Entscheidung nicht miteingebunden ist. Im Zusammenhang mit der Patientenverfügung wird von den Pflegepersonen angegeben, dass aufgrund von unterschiedlichen Bewertungen der vorliegenden Patientenverfügung von Seiten der diensthabenden Ärztinnen und Ärzte Konflikte entstehen.

Auf diese Konflikte reagieren die Ärztinnen und Ärzte in den meisten Fällen kompromissbereit und lassen Diskussionen zu, aber sie erwidern auch mit Ignoranz, Unverständnis und Wut beziehungsweise Ärger.

Diskussion

Betrachtet man die Ergebnisse dieser Untersuchung, so zeigen sie, dass den befragten Pflegepersonen eine große Rolle bei ethischen Entscheidungen am Lebensende zukommt. Sie beurteilen die Wirksamkeit der Schmerztherapie, sind oft erste Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Wünsche von Patientinnen und Patienten und deren Angehörige nach Therapieabbruch und gehen mit diesen Wünschen auch sehr professionell um. Es wird auch häufig nach ihrer Meinung in Bezug auf Therapierückzug/-abbruch gefragt, und sie sind auch teilweise die Ausführenden eines Therapierückzuges/-abbruchs. Es finden viele interdisziplinäre Gespräche statt, die nicht dokumentiert werden und informell und unstrukturiert sind.

Die Eingangsfrage, ob die Pflegepersonen in ethische Entscheidungen am Lebensende einbezogen werden sollen oder müssen, kann man angesichts der Ergebnisse aus der Praxis nur bejahen. Die Resultate zeigen, dass sie tatsächlich bereits Teil dieses Entscheidungsprozesses sind. Jedoch nehmen die Pflegepersonen und die ärztliche Berufsgruppe dies nicht so wahr. Aufgrund fehlender Strukturen und unzureichender Dokumentation wird die Rolle der Pflege nicht sichtbar.15 Die Tatsache, dass die Pflegepersonen in der Praxis am Entscheidungsprozess teilnehmen, sowie die Professionalisierung der Pflege und anderer Gesundheitsberufe führen dazu, dass die Fokussierung auf die Rolle der Ärztinnen und Ärzte als alleinige Entscheidungsträger aufgebrochen wird.16 In die Entscheidungsfindung sollen aber nicht nur die Pflegenden miteinbezogen werden, sondern auch andere Berufsgruppen, wie beispielsweise Seelsorgerinnen und Seelsorger, Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter17 und vor allem die betroffenen Patientinnen und Patienten oder ihre Angehörigen. Dieser gemeinsame Entscheidungsprozess führt zu einer emotionalen Entlastung der Ärztinnen und Ärzte, die zwar noch immer die rechtliche Endverantwortung für die Entscheidung übernehmen müssen. sich aber von allen Beteiligten unterstützt fühlen. Durch die multidisziplinären Gespräche und Diskussionen übernehmen alle Beteiligten eine ethische Verantwortung.

Die Frage stellt sich: Ist die Pflege überhaupt befähigt, diese Rolle anzunehmen und verantwortlich auszufüllen? Prinzipiell ist davon auszugehen, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter „durch seinen Beruf, seine Lebensgeschichte und seine [sic!] Haltung ethische Fachfrau und ethischer Fachmann ist.“18 Dies sind die „Grundwerkzeuge“ für Pflegepersonen, hinzu kommt noch, dass Pflege ein zutiefst ethisches Geschehen ist, dessen Handeln auf Wert- und Normvorstellung basiert.19 Das „ethisch-aktive“ Handeln wird als höchstes Kompetenzniveau in der Literatur dargestellt. Diese Kompetenz wird von der Dauer der Berufszugehörigkeit, der entwickelten Reflexionsfähigkeit, der Einbeziehung und dem Engagement der Person selbst und der Entwicklung moralischer Urteilfähigkeit beeinflusst. Bildungsmaßnahmen und die Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten wirken unterstützend.20

Diese Sichtweise kann dazu führen, dass ethische Verantwortung individualisiert und personalisiert wird. Aber die Thematik „ethische Entscheidungen am Lebensende“ braucht fachliche, interdisziplinäre, soziale und organisationale  Erweiterung. Die Verantwortung der Einzelnen und des Einzelnen soll nicht aufgehoben, sondern durch einen Diskurs der verschiedenen Argumente, durch die Organisation dieser Diskurse und durch das Entstehen eines guten Gefühls bei der Summierung der guten Gründe gestärkt werden.21 Dies bedeutet, dass eine aktivere Gestaltung der Rolle der Pflegepersonen nicht allein den Pflegepersonen vor Ort überlassen werden kann. „Engagierte Einzelpersonen können auf Dauer nicht die strukturellen Defizite der Gesamtorganisation kompensieren. Menschenwürdiges Sterben erfordert eine Aufmerksamkeit für die Personen und eine Aufmerksamkeit für die Organisation. Es braucht motivierte, kompetente Personen und geeignete Strukturen, Rahmenbedingungen und Regeln.“22

Bezogen auf die Ergebnisse der Untersuchung benötigen die Pflegepersonen Fortbildungen, Ressourcen wie Zeit und Räumlichkeiten für interdisziplinäre Gespräche mit Patientinnen und Patienten und Angehörigen sowie Richtlinien und Konzepte als Grundlagen für ihr tägliches Handeln. Ebenso sollte die Dokumentation den Beitrag, den Pflegepersonen bei ethischen Entscheidungen am Lebensende leisten, sichtbar machen. Ein weiteres hilfreiches Instrument, um die ethische Entscheidungsfindung besser in eine klinische Kommunikation einzubetten23 und zu strukturieren, ist die klinische Ethikberatung. Diese umfasst nicht nur ethische Fallbesprechungen, die sowohl retro-spektiv als auch prospektiv und von extern als auch von intern abgehalten werden können.24 Auch die Erarbeitung von Ethikleitlinien für die Institution und die Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Fragen der Ethik sind Teile einer klinischen Ethikberatung.25

Pflegepersonen geben in der Untersuchung einen erhöhten Bedarf an Aus-, Fort- und Weiterbildung an. Sie fühlen sich mehrheitlich „nicht“ oder „nur manchmal“ ausreichend geschult. Die Auswertung der Definitionen von End-of-life-decisions von Seiten der teilnehmenden Pflegepersonen hat gleichfalls gezeigt, dass ein großer Schulungsbedarf besteht. Die Schulungsmaßnahmen stehen an erster Stelle, wenn Entscheidungen am Lebensende in einer Organisation professionell integriert werden sollen. Zugleich müssen aber die strukturellen Bedingungen angepasst werden, wie zum Beispiel Räumlichkeiten oder Zeiten für Kommunikation, und es müssen organisationsspezifische Richtlinien erstellt werden. In Bezug auf ethische Fallbesprechungen gibt es verschiedene Modelle, die ebenso entsprechend den Rahmenbedingungen und Bedürfnissen der Institution ausgesucht und adaptiert werden müssen.26

Die Pflegepersonen möchten eine wichtige Rolle bei ethischen Entscheidungen einnehmen, wie sie es in der Praxis bereits tun. Diese Bereitschaft und die informelle und unstrukturierte Rolle reicht für die neuen Herausforderungen in Bezug auf ethische Entscheidungen am Lebensende nicht mehr aus. Die Pflege als Profession muss eine ethische Diskussion über ihre Rolle und Aufgaben in diesen sensiblen Situationen wagen. Es müssen von Seiten der betroffenen Organisationen Maßnahmen und Strukturen gesetzt werden, um die bereits geleisteten Tätigkeiten und die damit verbundene Verantwortung der Pflegepersonen sichtbar zu machen. Dies ermöglicht nicht nur einen professionellen Umgang mit ethischen Entscheidungen am Lebensende, sondern trägt auch zu einer Weiterentwicklung der Pflegeethik und der Pflege als Profession bei.

Referenzen

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Anschrift der Autoren:

Mag. Sabine Ruppert, DGKS
Pflegeberaterin der Klinischen Abteilung 
für Nephrologie und Dialyse, 
sabine.ruppert(at)akhwien.at

Mag. Patrik Heindl, DGKP
Pflegeberater der Klinischen Abteilung 
für Gastroenterologie und Hepatologie

Beide: Universitätsklinik für Innere Med. III

Univ.-Doz. Dr. Vlastimil KOZON PhDm
Direktion des Pflegedienstes, 
vlastimil.kozon(at)akhwien.at


Alle: Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien
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Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien

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