Ist die Fristenlösung unantastbar? Die Neuregelung der Strafbarkeit der Abtreibung durch das Strafgesetzbuch (StGB) 1974 und ihre Einordnung in das österreichische Recht

Imago Hominis (2005); 12(3): 195-206
Thomas Piskernigg

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag behandelt die Frage, ob Abtreibungen im Rahmen der sogenannten "Fristenlösung" als rechtmäßig oder bloß straflos, aber dennoch rechtswidrig gelten müssen. Zur Klärung dieser Frage wird zuerst die Geschichte der "Fristenlösung" genau beleuchtet. Weiters wird die Abtreibungsregelung in den Zusammenhang mit anderen Rechtsvorschriften, vor allem der zentralen Norm des § 22 ABGB gestellt. Dabei zeigt sich, dass bei zutreffender Betrachtung Abtreibungen – außer im Rahmen der medizinisch-vitalen Indikation – als rechtswidrig anzusehen sind. Der Beitrag behandelt auch diverse Schwierigkeiten oder gar Aporien, die sich bei der Einordnung der geltenden Abtreibungsregelung in die Gesamtrechtsordnung ergeben (insbesondere anhand der Frage der Gültigkeit des Vertrages mit dem Abtreiber), und plädiert abschließend für eine umfassende Neuregelung.

Schlüsselwörter: Fristenlösung, Strafbarkeit, Abtreibung, erstes Schwangerschaftsdrittel, Rechtswidrigkeit, Straffreiheit

Abstract

In this contribution, we discuss the question whether abortion within the first trimenon is in keeping with existing law or merely ruled unpunishable, yet in conflict with the law. In this context it seems inevitable to mention the historic background, how this compromise between opposing political parties had been established. Furthermore, it is shown why abortion – outside vital medical indication – still has to be considered unlawful. Hence, several difficulties arise by the attempt to find a place for „Fristenlösung“ within the frame of applied law in general, prompting the challenge of a comprehensive amendment of this present practice.

Keywords: abortion, punishment, first trimenon of pregnancy, unlawfulness, unpunishableness


1. Einleitung

a) Geschichtliche Vorbemerkung

Am 1. Jänner 2005 jährte sich das Inkrafttreten der sogenannten „Fristenlösung“1, eines der umstrittensten „sozialreformatorischen“ Gesetzesprojekte der Zweiten Republik, zum dreißigsten Mal. Während in Bezug auf die übrigen Bestimmungen des StGB im wesentlichen Konsens herrschte, konnte die Neuregelung der Strafbarkeit der Abtreibung nur mit knapper parlamentarischer Mehrheit, getragen von den Abgeordneten der SPÖ, durchgesetzt werden. ÖVP und FPÖ opponierten vehement, und sogar innerhalb der SPÖ war die „Fristenlösung“ erst das Resultat eines längeren, durchaus kontroversen Entscheidungsprozesses.2

Wer die Schärfe der im Parlament seinerzeit vorgetragenen Gegenargumente betrachtet, kann sich nur wundern, wie es dazu kam, dass die „Fristenlösung“ heute von allen politisch maßgeblichen Parteien akzeptiert wird. Selbst manche VertreterInnen der ÖVP sprechen mittlerweile von einem „Recht“ der Frau auf freie Entscheidung zur Abtreibung. In bald fünf Jahren Koalition der seinerzeitigen Fristenlösungsgegner war es nicht einmal möglich, Randkorrekturen im Interesse des Lebensschutzes vorzunehmen: so z. B. die Beratung durch eine vom Abtreiber unabhängige Stelle oder die Bedenkzeit von wenigen Tagen zwischen Beratungs- und Abtreibungstermin als Voraussetzungen der Straflosigkeit im Rahmen der „Fristenlösung“; die gesetzliche Verpflichtung zu anonymer statistischer Erfassung von Abtreibungen (Zahl, Motive etc.) als „flankierende Maßnahme“, um Aufschluss über mögliche sozialpolitische Gegenmaßnahmen zu bekommen; die Ermöglichung einer würdigen Bestattung der getöteten Kinder (wie z. B. in Bayern).

Im Rahmen dieses Beitrages soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die „Fristenlösung“ in das österreichische Rechtssystem einordnen lässt. Dabei werden sowohl die Problematik der formalen Kategorisierung der „Fristenlösung“ (Rechtfertigungs-, Strafausschließungsgrund…?) als auch die Auswirkungen auf andere Rechtsgebiete (z. B. das Vertragsrecht) erörtert. Als Abrundung finden auch die Indikationstatbestände Berücksichtigung.

b) Aspekte der negativen Bewertung eines Handelns durch die Rechtsordnung

Wie es Abstufungen bei positiven Bewertungen von Handlungen durch die Rechtsordnung gibt (von der schlichten Erlaubnis bis hin zum durchsetzbaren Recht, das nötigenfalls andere gegen ihren Willen z. B. zur Mitwirkung zwingt), so gibt es diese auch bei negativen. Die stärkste Ablehnung artikuliert die Rechtsordnung, wenn sie ein bestimmtes Verhalten für rechtswidrig erklärt und darüber hinaus auch noch mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht. Wer z. B. jemanden ermordet, verletzt das (auch verfassungsrechtlich geschützte, vgl. Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention [EMRK]) Recht auf Leben und handelt daher rechtswidrig; i. d. R. hat er mit einer hohen Gefängnisstrafe zu rechnen.

Der Staat versucht auf mehreren Ebenen, derart verpöntes Handeln zu verhindern. Die wohl wichtigste Gegenmaßnahme besteht in der Etablierung von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten, welche die Aufgabe haben, strafbares Verhalten zu verhindern oder den Täter zumindest im Nachhinein der strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen (vgl. §§ 19 ff. Sicherheitspolizeigesetz [SPG]).

Der Staat ist sich freilich auch dessen bewusst, dass aus faktischen Gründen keine lückenlose Kontrolle und daher rechtswidriges Handeln möglich ist, ohne dass ein Staatsorgan einschreiten kann. Deshalb anerkennt er zunächst das Recht Privater, rechtswidrige Angriffe auf eigene oder fremde Rechtsgüter abzuwehren (Notwehr bzw. Nothilfe, vgl. §§ 3 StGB, 19 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch [ABGB]3). Und selbst wenn kein das Notwehr- bzw. Nothilferecht begründender Angriff stattfindet oder bereits stattgefunden hat, etabliert § 86 (2) Strafprozessordnung (StPO) ein Anhalterecht Privater.4

Nicht jede rechtswidrige Handlung muss jedoch auch gerichtlich strafbar sein und damit einer besonderen (auch sozial stigmatisierenden) Wirkung anheimfallen. Sie kann auch bloß vom Verwaltungsstrafrecht erfasst sein (was freilich dennoch empfindliche Strafen nach sich ziehen kann, wie etwa jeder Verkehrssünder weiß). Die Abwehrreaktionen der Rechtsordnung sind in diesem Bereich jedoch insgesamt schwächer (so fällt etwa das o. a. Anhalterecht Privater5 weg, die Polizei hätte nur bei besonderer verwaltungsgesetzlicher Ermächtigung die Befugnis, die Übertretung zu verhindern6). 

Manche rechtswidrige Handlungen sind weder vom gerichtlichen Strafrecht noch vom Verwaltungsstrafrecht erfasst. Die Rechtsordnung zeigt ihre Missbilligung dennoch auf zivilrechtlicher Ebene, etwa indem sie Schadenersatzansprüche normiert. So erfüllt z. B. die fahrlässige Sachbeschädigung an sich keinen (Verwaltungs-)Straftatbestand. Wer sie jedoch verübt, wird dem Geschädigten schadenersatzpflichtig. Sogar Notwehr kann gegen fahrlässige Angriffe auf ein Vermögensgut statthaft sein, zumal weder Strafrechtswidrigkeit des Angriffs noch das Bewusstsein auf Seiten des Angreifers, einen Angriff zu tätigen, Notwehrvoraussetzungen darstellen.7 Verträge über Handlungen, die gegen ein Gesetz verstoßen, sind ungültig (§ 879 [1] 1. Fall ABGB), sofern sich aus dem Schutzzweck der Verbotsnorm nichts anderes ergibt.8

Die gewissermaßen schwächste Form der Missbilligung zeigt die Rechtsordnung gegenüber Handlungen, die zwar nicht gegen das Gesetz, aber dennoch gegen die guten Sitten verstoßen (so z. B. die Prostitution in dem Ausmaß, in dem sie nicht verboten ist). Immerhin können diese nicht Gegenstand eines rechtsgültigen Vertrages werden (§ 879 [1] 2. Fall ABGB).9

2. Die Abtreibung vor dem Hintergrund des StGB – bloß straflos, oder auch rechtmäßig?

a) Zur Ausgangslage

Die oben dargelegten Fragen der Einordnung von Handlungen in die Rechtsordnung mögen – gerade dem juristisch versierten Leser – vielleicht wenig originell anmuten, und dies durchaus zu Recht. Umso überraschender ist es freilich, dass, sobald Aspekte der Abtreibungsfrage zur juristischen Beurteilung anstehen, ansonsten klare und anerkannte juristische Kategorien selbst von Höchstgerichten und Rechtsgelehrten hohen Ranges verwischt, wenn nicht sogar völlig konträr zur sonstigen Übung behandelt werden. Dies wird an einem konkreten Beispiel näher zu zeigen sein.10

Den logischen Anfang dieser Erörterungen stellt jedoch die rechtliche Einordnung der Tatbestände des § 97 StGB dar, welche die Straflosigkeit von Abtreibungen normieren, insbesondere die „Fristenlösung“.

b) Die Geschichte der „Fristenlösung“ (§ 97 [1] Z. 1 StGB11) und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen auf die Rechtmäßigkeit von in ihrem Rahmen begangenen Abtreibungen

Wie eingangs bereits erwähnt, war die Neuregelung der Abtreibungsstrafbarkeit der umstrittenste Punkt im Zuge der Neufassung des StGB. Auch in der SPÖ war sie keineswegs unumstritten. So lautete das „Justizprogramm 1970-1974“, beschlossen vom Parteirat der SPÖ am 22. 11. 1969, noch folgendermaßen: „Bei der Schwangerschaftsunterbrechung ist der besonderen Konfliktsituation der Frau dadurch Rechnung zu tragen, daß ein gerichtlicher ‚Schuldspruch ohne Strafe’ erfolgen kann.“12 Die (unter dem SPÖ-Justizminister Broda erstellte) Regierungsvorlage 197113 wollte – neben näher ausgeführten Indikationstatbeständen – die Abtreibung bei „besonders berücksichtigungswürdigen Gründen“ (§ 85 [2] des Entwurfs) als „nicht strafbar“ erklären. In den bezughabenden Erläuterungen wurde die Einführung partieller Straflosigkeit mit einem „Mangel an Strafbedürfnis“ begründet. § 89 des Entwurfs normierte sogar ein Werbeverbot für Abtreibungen.

Daraus lässt sich schließen, dass die Rechtswidrigkeit der – wenn auch straflosen – Abtreibung nicht in Zweifel gezogen wurde. Ein Schuldspruch ohne Strafe bzw. die Feststellung eines mangelnden Strafbedürfnisses sind klarerweise nur bei rechtswidrigen Handlungen sinnvoll. Bei rechtmäßigen Handlungen kann von vornherein kein Schuldspruch erfolgen bzw. stellt sich die Frage nach dem Strafbedürfnis von vornherein nicht. Auch das Werbeverbot deutet in dieselbe Richtung.

In der Folge verschafften sich jedoch radikalfeministische Kreise, die einer „Entscheidungsfreiheit“ der Frau über das ungeborene Leben („Mein Bauch gehört mir!“) das Wort redeten, innerhalb der SPÖ immer mehr Gehör. Diese forderten neben Indikationstatbeständen eine „Fristenlösung“, in deren Rahmen eine Abtreibung ohne Begründung straflos bleiben sollte. So wurde am Villacher Parteitag der SPÖ 1972 eine Regelung beschlossen, wie sie dann im Wesentlichen auch Eingang in das StGB gefunden hat und bis dato fortbesteht.14

Die letztlich beschlossene Regelung bedeutet(e) zunächst ganz offensichtlich eine Erweiterung der Möglichkeit zur straflosen Abtreibung. Fraglich bleibt beim ersten Hinsehen jedoch, ob Abtreibungen nach dem Willen des Gesetzgebers nunmehr auch das Prädikat der Rechtmäßigkeit zukommen sollte. Festzuhalten ist jedenfalls, dass man die ausdrückliche Rechtmäßigkeitserklärung im Gesetzestext selbst unterlassen hat. Um den „wahren Willen des Gesetzgebers“ erforschen oder sich ihm zumindest nähern zu können, muss man sich daher mit den Argumenten auseinandersetzen, die für die Neuregelung in der geltenden Fassung letztlich tatsächlich ins Treffen geführt wurden (die folgenden Ausführungen stützen sich auf die einen guten Überblick bietende Darstellung Sagmeisters15).

c) Von der SPÖ-Fraktion im Parlament bzw. im Justizausschussbericht ins Treffen geführte Gründe für die „Fristenlösung“ und daraus zu ziehende Rückschlüsse auf ihre rechtliche Einordnung

„Die strengen Strafbestimmungen haben die illegalen Abtreibungen nicht zu verhindern vermocht“: Dieses Argument ist nur vor dem Hintergrund der Rechtswidrigkeit von Abtreibungen sinnvoll. Ginge man nämlich von der Rechtmäßigkeit von Abtreibungen aus, weil etwa ein „Recht der Frau auf ihren eigenen Bauch“ bestehe, so müsste das Argument für die Aufhebung der Strafbarkeit lauten, dass die Strafbarkeit das Entscheidungsrecht der Frau verletze o. ä. Von diesem Standpunkt aus müssten gerade wirksame Strafbestimmungen Kritik erfahren.

„Die Entwicklung in anderen Staaten“: Auch dieses Argument stützt die Rechtmäßigkeitsthese nicht unbedingt, da die Regelungen in den Nachbarstaaten (genannt wurden etwa BRD, Schweiz, Finnland, Schweden, die [damaligen] Ostblockstaaten, Japan, Nordkorea, China und Indien) recht inhomogen waren.

„Der § 144 (Anm.: Vorgängerbestimmung der §§ 96 ff. StGB im Strafgesetz – StG) ist ein Klassenparagraph“: Mit diesem Schlagwort wurde beklagt, es sei ungerecht, dass reiche Frauen sich relativ leicht einer illegalen Abtreibung unterziehen können, ärmere jedoch nicht. Wer so dachte, dürfte die Absicht gehabt haben, die Rechtmäßigkeit von Abtreibungen zu etablieren. Wer Abtreibung dagegen als Unrecht ansieht, wird es konsequenterweise sogar positiv beurteilen, dass nur wenigen Mittel und Wege zur Verfügung stehen, Unrecht zu begehen.

„Die Frau soll in eigener Verantwortung entscheiden“: In dieser Forderung ist eindeutig die Annahme der Rechtmäßigkeit von Abtreibungen enthalten. Ein Entscheidungsrecht kann es in einem Rechtsstaat nämlich klarerweise nur in Bezug auf rechtmäßige Handlungen geben; auch in einer liberalen Demokratie hat niemand das Recht, Unrecht zu tun.

„Helfen ist besser als strafen“: Diese Gegenüberstellung geht von einer typischerweise bestehenden Not- bzw. Konfliktlage der Frau aus, die eine Abtreibung erwägt oder durchführen hat lassen. Sie lässt sich kaum mit der Annahme der Rechtmäßigkeit von Abtreibungen vereinbaren. Wäre Abtreibung nämlich als rechtmäßig anzusehen, so dürfte sich die Frage der Strafe – ganz unabhängig von der Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen – von vornherein gar nicht stellen.

„Die Fristenlösung gewährleistet besser die Gesundheit der Frau“: Die (nach damaligem Stand der medizinischen Wissenschaft getroffene) Annahme, dass die Abtreibung in den ersten drei Monaten und durch einen Arzt gesundheitlich am wenigsten gefährlich sei, könnte als Argument für die mangelnde Strafwürdigkeit ins Treffen geführt werden. Wenn neben dem Tod des Embryos wegen des fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadiums oder unsachgemäßer Ausführung durch einen Nichtarzt auch noch die Gesundheit der Frau auf dem Spiel stehe, solle die Strafbarkeit wieder eintreten. Die Rechtmäßigkeit folgt aus diesem Gedankengang zumindest nicht zwingend.

Man sieht also, dass vom „Gesetzgeber“, d. h. von den für die Etablierung der „Fristenlösung“ verantwortlichen Personen, in den Parlamentsdebatten durchaus mehrdeutige Begründungen abgegeben wurden. Diese Mehrdeutigkeit findet sich auch im bezughabenden Bericht des Justizauschusses (JAB) wieder.16 In diesem wird zwar ohne weitere Begründung angemerkt, dass die „Fristenlösung“ (ebenso wie die Indikationen) die Rechtswidrigkeit ausschließen, als Begründung dafür werden aber wiederum die o. a. mehrdeutigen Argumente angeführt, sodass man durchaus mit einiger Berechtigung von einem Redaktionsversehen bei der Abfassung des Berichts ausgehen könnte.

Dazu kommt, dass auch von sozialistischer Seite die Abtreibung grundsätzlich als zu vermeidendes Übel angesehen und ein von der ÖVP eingebrachter Entschließungsantrag zum Schutze des Lebens mit folgendem Wortlaut einstimmig angenommen wurde: „Angesichts der Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch weder eine gesellschaftlich wünschenswerte noch eine medizinisch empfehlenswerte Methode der Geburtenkontrolle oder der Familienplanung ist, und angesichts der Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch von der Strafgesetzgebung her allein nicht wirksam genug verhindert werden kann, wird die Bundesregierung ersucht, insbesondere folgende (...) Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen: (...).“17 Im Übrigen ist der JAB auch nur ein (wenn auch hervorgehobenes) Hilfsmittel unter anderen bei der historischen Interpretation einer Norm.18

Es zeugt damit schon deshalb nicht von tiefgehender, methodisch fundierter Reflexion, wenn von manchen zur Begründung der Rechtfertigungswirkung der „Fristenlösung“ lapidar auf den JAB verwiesen wird.19 Im übrigen wird man annehmen können, dass dem Gesetzgeber die zentralen, ungeborene Kinder hinsichtlich ihrer Rechte Geborenen gleichstellende Normen des ABGB (§§ 22 i. V. m. 16) bekannt gewesen waren. Hätte man eine Rechtfertigungswirkung der „Fristenlösung" etablieren wollen, so hätte man der Deutlichkeit halber auch § 22 ABGB aufheben oder modifizieren müssen. Gewiss, das StGB und das ABGB stehen formell auf der gleichen Stufe, sodass das später erlassene StGB ältere widersprüchliche Normen des ABGB außer Kraft setzen könnte. Im Gegenstand ist gerade dies jedoch fraglich. Anzunehmen, dass eine fast beiläufig anmutende Bemerkung im JAB die ordnungsgemäß kundgemachte und formell niemals aufgehobene Bestimmung des § 22 ABGB aufheben könnte, ist methodisch äußerst kritikwürdig.20

d) Weitere (methodische) Aspekte

Das bisher Gesagte zusammenfassend kann man sagen, dass auf Basis historischer Interpretation sich zwar Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Gesetzgeber der „Fristenlösung“ deren Rechtfertigungswirkung etablieren wollte. Geboten oder gar zwingend ist dieser Schluss jedoch nicht, zumal man auch (sogar überwiegende) gegenteilige Aspekte ins Treffen führen kann.

Darüber hinaus lässt sich noch viel grundsätzlicher bezweifeln, dass ein – selbst eindeutiges – Ergebnis historischer Interpretation hier maßgeblich sein könnte. Wie F. Bydlinski gezeigt hat, haben Ergebnisse der grammatikalischen und systematisch-logischen Interpretation Vorrang vor Erkenntnissen der historischen Auslegung.21 Und diese Ergebnisse sprechen praktisch eindeutig gegen die Rechtfertigungsthese, wobei in diesem Zusammenhang § 22 ABGB die zentrale Norm darstellt.22

Die Volksanwaltschaft hat sich in einer aktuellen Entscheidung eingehend mit auf Basis systematischer Interpretation vertretenen Argumenten auseinandergesetzt23, welche die Rechtfertigungsthese stützen sollten, und diese überzeugend widerlegt. Im Folgenden braucht daher nur kurz auf die wesentlichen Punkte verwiesen werden.

Der von manchen24 ins Treffen geführten „Dominanz des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren“ im Anfangsstadium der Schwangerschaft wird überzeugend entgegengehalten, dass ein solches einer klaren gesetzlichen Grundlage entbehre und überdies im Widerspruch zu § 22 ABGB stehe. Die Tötung eines Lebewesens allein unter Berufung auf ein „Selbstbestimmungsrecht“ sei nicht einmal mehr bei Tieren zulässig (vgl. § 6 Tierschutzgesetz).25

Ein stärkeres Argument für die Rechtfertigungswirkung der „Fristenlösung“ stellt das Benachteiligungsverbot des § 97 (3) StGB26 dar27, und tatsächlich wurde die Bedeutung desselben noch bis vor kurzem als nicht geklärt bezeichnet.28 Die Volksanwaltschaft hat jedoch in einer aktuellen Entscheidung zwischen Nichtdiskriminierung- und (Quasi-)Rechtfertigungswirkung unterschieden und zutreffend festgehalten, dass kein „Diskriminierungsverbot (...) den von ihm geschützten Subjekten eine schlechthin unangreifbare, den sonstigen Ge- und Verboten der Rechtsordnung exemte Rechtsstellung verleihen“ könne29. Somit ist auch aus den Benachteiligungsverboten zugunsten von Abtreibern kein durchschlagendes Argument für eine Rechtfertigungswirkung der „Fristenlösung“ zu gewinnen.

In diesem Zusammenhang näher behandelnswert wäre freilich noch § 6 (3) KAKuG30 (früher: KAG). Der Wortlaut scheint auf den ersten Blick eine glatte Rechtmäßigkeitserklärung von Abtreibungen im Rahmen der „Fristenlösung“ zu enthalten. Wenn der Klinikbetreiber eine Handlung per Anstaltsordnung, wie es scheint, nicht einmal in seinen eigenen Räumlichkeiten verbieten darf, so könnte man meinen, diese müsse nicht nur nicht rechtswidrig, sondern sogar äußerst wünschenswert sein.

Diese Bestimmung wurde von der Tiroler und der Vorarlberger Landesregierung seinerzeit tatsächlich in diesem Sinne verstanden. Die beiden Landesregierungen sahen darin u. a. einen Verstoß gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit, zu der auch das Recht gehöre, seinem Glauben und Gewissen gemäß zu handeln. Durch § 6 (3) KAKuG werde der die Anstaltsordnung erlassende Rechtsträger jedoch verpflichtet, Abtreibungen in seinem Anstaltsbereich zu bejahen oder zumindest zu dulden.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH)31 hat die angefochtene Bestimmung freilich verfassungskonform (d. h. bezogen auf den Wortlaut einschränkend) interpretiert und daher keinen Anlass für eine Aufhebung gesehen: „Der Wortlaut der Vorschrift zeigt, daß die Bestimmungen, deren Aufnahme in die Anstaltsordnung untersagt ist, sich nicht auf die Umschreibung des Aufgabenbereichs der Anstalt, sondern auf das Verhalten des Rechtsträgers der Anstalt gegenüber an der Anstalt beschäftigten Personen beziehen.“ Die Dispositionsbefugnis des Anstaltsträgers hinsichtlich der im gesetzlichen Rahmen freien Wahl der Aufnahme von Patienten werde dadurch nicht beeinflusst. Nach Auffassung des VfGH kann daher der Anstaltsträger Schwangere, die eine Abtreibung wünschen, sehr wohl abweisen und so Abtreibungen in seiner Anstalt verhindern, zumal eine Verpflichtung zur Aufnahme nur bei unabweisbar Kranken bzw. Personen, die einer unbedingt notwendigen ärztlichen Hilfe bedürfen, bestehe.

Das Verbot des § 6 (3) KAKuG ist nach zutreffender Auffassung des VfGH, von der implizit auch die Volksanwaltschaft ausgeht32, somit bloß eine weitere Ausformung des Benachteiligungsverbotes gemäß § 97 (3) StGB insofern, als Personen, die sich an Abtreibungen außerhalb der Anstalt, an der Abtreibungen – legitimerweise! – unerwünscht sind, beteiligen, auf Grundlage von Bestimmungen in der Anstaltsordnung der „abtreibungsfeindlichen“ Anstalt keine nachteiligen dienstrechtlichen Folgen treffen dürfen. Ein Argument für die Rechtmäßigkeit von Abtreibungen kann somit aus § 6 (3) KAKuG ebensowenig wie aus § 97 (3) StGB gewonnen werden.

e) Die Problematik der Indikationstatbestände (§ 97 [1] Z. 2, 3 StGB)33

Auch diesbezüglich hat die Volksanwaltschaft in der o. a. Entscheidung in zutreffenden und ausführlichen Erörterungen sämtliche Argumente widerlegt, welche – z. T. auch von höchstgerichtlicher Seite34 – für die Rechtfertigungswirkung der Indikationstatbestände ins Treffen geführt werden.35 Nur die medizinisch-vitale Indikation, welche letztlich eine rechtslogisch nicht auflösbare aporetische Situation mit sich bringe, sei ohne Bruch mit ansonsten anerkannten Prinzipien der Rechtfertigungsdogmatik als Rechtfertigungsgrund anzuerkennen.36

Der überzeugenden Argumentation der Volksanwaltschaft ist m. E. nichts Substantielles hinzuzufügen, weshalb auch hier die kurze Wiedergabe der wesentlichen Argumentationslinien genügt: Allfällige historische Argumente zugunsten der Rechtfertigungswirkung der Indikationen seien aus denselben methodischen Gründen, wie im Zusammenhang mit der „Fristenlösung“ erörtert, unbeachtlich.37 Wie bereits bei der Einordnung der „Fristenlösung“, so spiele auch hier die Bestimmung des § 22 ABGB eine zentrale Rolle. Weil eben das Leben des ungeborenen Kindes gleich dem des geborenen Menschen einen Höchstwert darstelle, sei von vornherein keine Relativierung durch sonstige Interessen möglich, selbst wenn dies im Einzelfall zu Härten führen könne (z. B. bei nicht tödlicher Gesundheitsbedrohung der Schwangeren). Dem entspreche, was die h. A. im Zusammenhang mit der Problematik des rechtfertigenden Notstandes vertrete: „Droht durch die Rettungshandlung der Verlust des (höchsten) ‚Rechtsguts’ Leben, so scheidet rechtfertigender Notstand zwingend und kategorisch aus.“38

Daran können weder „umfassende Interessenabwägungen“ unter Berücksichtigung allfälliger Interessen der Allgemeinheit an möglichst ungefährlichen Abtreibungen39 noch die „Einzigartigkeit“ des Verhältnisses zwischen Mutter und ungeborenem Kind oder der systematische Zusammenhang mit § 17 Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) etwas ändern.40 Gegenteiliges folge auch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen41 oder aus der beschränkten Erlaubnis der Genanalyse42 nicht.43

3. Die Problematik der Einordnung der „Fristenlösung“ anhand eines konkreten Einzelbeispiels

Wie oben bereits erwähnt, werden in der Diskussion um die „Fristenlösung“ bzw. die sonstigen Straflosigkeitstatbestände des § 97 StGB ansonsten klare und anerkannte juristische Kategorien selbst von Höchstgerichten und Rechtsgelehrten hohen Ranges verwischt, wenn nicht sogar völlig konträr zur sonstigen Übung behandelt. Dies soll im Folgenden an der Problematik der (Un-)Gültigkeit des Vertrages über die Abtreibung gezeigt werden.

§ 879 (1) ABGB normiert die Ungültigkeit von Verträgen, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen.44 Dies wird von Lehre und Rechtsprechung dahingehend interpretiert bzw. eingeschränkt, dass die Nichtigkeit (nur) dann eintritt, wenn die jeweilige Verbotsnorm die Nichtigkeit ausdrücklich anordnet oder zumindest der Verbotszweck die Nichtigkeit verlangt.45

Diesen Grundsätzen gemäß ist der Abtreibungsvertrag eindeutig nichtig, da die Rechtswidrigkeit der Abtreibung aus § 22 ABGB folgt, der eine Schutznorm zugunsten Ungeborener darstellt. Gemäß dieser Bestimmung sind, wie bereits ausgeführt, ungeborene Kinder Geborenen, soweit es um ihre Rechte geht, gleichgestellt. Da nun ein Abtreibungsvertrag eine Handlung zum Gegenstand hat, die gegen ihr elementares Recht auf Leben verstößt, kann ein solcher Vertrag (ebenso wie ein Vertrag, der die rechtswidrige Tötung eines geborenen Menschen zum Inhalt hat) vom Schutzzweck des § 22 ABGB her nur nichtig sein.46

Dennoch möchte etwa Koziol, obgleich er prinzipiell von der Rechtswidrigkeit der Abtreibung im Rahmen der „Fristenlösung“ ausgeht47, den Vertrag mit dem Abtreiber unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers als gültig ansehen.48 Diese Argumentation stellt allerdings einen drastischen Bruch mit ansonsten anerkannten Grundsätzen der (Zivil-)Rechtsdogmatik dar.49 Sie ist auch deshalb abzulehnen, weil, wie oben gezeigt, der historische Wille des Gesetzgebers erstens auf Basis systematischer Interpretation erzielte Ergebnisse schon aus prinzipiellen methodischen Gründen nicht außer Kraft setzen kann und zweitens der historische Befund durchaus ambivalent erscheint.

Noch drastischer argumentiert der Oberste Gerichtshof (OGH) – allerdings im Zusammenhang mit der eugenischen Indikation.50 Er nimmt dabei ausdrücklich in Kauf, dass der „sonst die Rechtfertigungsdogmatik beherrschende Grundsatz, unschuldiges, an der Entstehung der Notlage unbeteiligtes menschliches Leben dürfe nicht mit direktem Vorsatz ausgelöscht werden“, durchbrochen wird. Im konkreten Fall komme es auf eine umfassende Interessensabwägung an. Diese dürfe „nicht auf eine Gegenüberstellung von ‚Leben gegen Leben’ verkürzt werden, sondern [habe] neben den sonstigen individuellen Belastungen der Schwangeren auch das Interesse der Allgemeinheit an einer möglichst wenig gefährlichen, d. h. kunstgerechten Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs durch einen Arzt in die Abwägung miteinzubeziehen. Dieses Ziel wäre nicht zu erreichen, wenn selbst in indizierten Fällen der Schwangerschaftsabbruch mit dem Makel des Illegalen (Hervorhebung vom Autor) behaftet wäre.“

Ein wenig erinnert diese Argumentation an den Versuch des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)51, einerseits das Postulat der Gleichwertigkeit von ungeborenen und geborenen Personen hochzuhalten52, andererseits aber doch eine „Fristenlösung“ mit Beratungspflicht als verfassungskonform einzustufen. Die Rechtsgültigkeit des Abtreibungsvertrages begründet das BVerfG trotz Betonung der Rechtswidrigkeit der Handlung selbst u. a. mit folgenden Worten: „Hierbei verlangen die Besonderheiten des Beratungskonzepts, auch für den Fall eines späteren Schwangerschaftsabbruchs Bedingungen zu schaffen, die nicht im Vorwege der Bereitschaft der Frau entgegenwirken, sich auf die dem Lebensschutz dienende Beratung einzulassen (...) muß sichergestellt sein, daß gegen das Handeln der Frau und des Arztes von Dritten Nothilfe zugunsten des Ungeborenen nicht geleistet werden kann53. Die Frau muß auch in der Lage sein, den Abbruch durch einen Arzt im Rahmen eines wirksamen privatrechtlichen Vertrages durchführen zu lassen (...).“54 „Vor allem bedarf der vom Arzt zu gewährleistende Schutz des ungeborenen Lebens (Hervorhebung vom Autor) und der Gesundheit der Frau vertragsrechtlicher Absicherung. Die Schlechterfüllung der Beratungs- und Behandlungspflichten muß deshalb grundsätzlich auch vertrags- und deliktsrechtliche Sanktionen auslösen.“55

Im Rahmen der vom BVerfG etablierten „Lösung“ des Schwangerschaftskonflikts ist also die Gültigkeit des Abtreibungsvertrages ein Bestandteil des „Schutzkonzepts“ zugunsten des ungeborenen Lebens. Wie aus o. a. Zitat hervorgeht, betrachtet das BVerfG offenbar sogar die trotz zum Leben ermunternder Beratung im konkreten Fall durchgeführte Abtreibung selbst als einen Beitrag zum Schutz des ungeborenen Lebens im Allgemeinen.

Damit gerät jedoch ein Rechtssystem, dessen Basis, wie nicht nur das BVerfG (auch in Bezug auf Ungeborene) betont, die Menschenwürde darstellt56, in einen unauflöslichen Selbstwiderspruch.57 Der Kern der Menschenwürde besteht nämlich nach praktisch einhelliger Auffassung, die auch vom BVerfG geteilt wird, im Dasein des Menschen um seiner selbst willen, woraus das Verbot folgt, einen Menschen ausschließlich als Mittel zu einem außerhalb seiner Person liegenden Zweck zu missbrauchen. Gerade eine solche verbotene „Verzweckung“ bringt jedoch das vom BVerfG favorisierte Schutzkonzept mit sich. Mit dem Postulat der Möglichkeit ungestörter, vertraglich abgesicherter Tötung für die Schwangere wird dem konkret betroffenen Ungeborenen im Ergebnis eine „Rechtspflicht“ auferlegt, seine – nach Auffassung des BVerfG rechtswidrige! – sichere Tötung zu dulden, damit sich – möglicherweise – in Summe mehr Frauen als bisher für die Respektierung des Lebensrechts ihres ungeborenen Kindes entscheiden.

Der einzige „Zweck“ der Existenz des im Rahmen eines solchen „Schutzkonzepts“ getöteten Kindes hätte somit darin bestanden, Frauen die Sicherheit zu geben, ihre ungeborenen Kinder erforderlichenfalls ungestört töten zu können, um die Inanspruchnahme einer lebensfreundlichen Beratung attraktiver zu machen. Selbst wenn diese „Rechnung“ in Summe tatsächlich aufginge, stünde sie unzweifelhaft im Widerspruch zur Menschenwürde. Dies hat im Grundsatz der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) bereits vor Jahrzehnten in noch heute gültiger und überzeugender Weise dargelegt: Es widerspreche der „von der christlichen Sittenlehre her bestimmten Kulturanschauung (...), den für die Erhaltung von Sachwerten angemessenen Grundsatz des kleineren Übels anzuwenden und den rechtlichen Unwert der Tat nach dem sozialen Gesamtergebnis abzuwägen, wenn Menschenleben auf dem Spiele stehen.“58

Die Argumentation des BVerfG – und noch mehr die des OGH, zumal diese auch im Differenziertheitsgrad nicht an die des BVerfG heranreicht – ist daher wegen des Widerspruchs zur Menschenwürde abzulehnen. Der Vertrag über eine rechtswidrige Tötung bleibt nichtig, ohne wenn und aber.

4. Resümee und Ausblick

Die eben abgeschlossenen Überlegungen haben gezeigt, in welche – auch rechtsdogmatische – Abgründe die „Fristenlösung“ führt. Selbst nach dreißig Jahren hat sich ihr Charakter als (auch vom methodischen Standpunkt aus betrachtet) Fremdkörper in unserer auf der unveräußerlichen Menschenwürde basierenden Rechtsordnung nicht verändert. Es ist daher äußerst betrüblich, dass auf Seiten der politisch Verantwortlichen nicht einmal Mut und Wille zu Randkorrekturen gegeben sind. In bemerkenswerter Unkenntnis der Rechtslage wird manchmal sogar von einem „Recht“ auf Abtreibung gesprochen, als ob der Staat die Durchführung rechtswidriger Handlungen gewährleisten müsste.

Selbstverständlich kann niemand leugnen, dass auch in einem so reichen Staat wie Österreich eine unerwartete Schwangerschaft eine Frau, ja eine ganze Familie vor unlösbar scheinende Probleme stellen kann. Härten bei der Erfüllung von Rechtspflichten sind freilich keine Besonderheit einer Schwangerschaft. Sie können bei verschiedenen Gelegenheiten auftreten. Die Rechtsordnung trägt dem durchaus Rechnung (vgl. z. B. die Bestimmung des entschuldigenden Notstandes, § 10 StGB59).

Mit der Mutterschaft in der Frühphase verbundene Probleme und möglicherweise auftretende psychische Ausnahmesituationen haben zur Erlassung des § 79 StGB geführt, der die Tötung eines Kindes während und unmittelbar nach der Geburt durch die Mutter nur mit relativ geringer Strafe bedroht.60 Damit und unter Berücksichtigung weiterer gesetzlicher Möglichkeiten der Strafmilderung lassen sich auch Schwangerschaftskonflikte adäquat erfassen.

Die beste und zugleich einfachste Lösung bestünde m. E. darin, die Regelung des „Schwangerschaftsabbruchs“ im StGB mit Ausnahme der medizinisch-vitalen Indikation überhaupt zu streichen und im § 79 StGB das Wörtchen „vor“ einzufügen, sodass der Anfang dieser Bestimmung lauten würde wie folgt: „Eine Mutter, die das Kind vor, während der Geburt (...).“ Für den Abtreiber sowie sonstige Beteiligte sollten die allgemeinen Bestimmungen über Tötungsdelikte gelten. Damit würden sowohl die methodischen als auch rechtsethischen Probleme, welche die „Fristenlösung“ mit sich bringt, entscheidend entschärft.

3. Die Problematik der Einordnung der „Fristenlösung“ anhand eines konkreten Einzelbeispiels

Referenzen

  1. Von Personen, denen der Lebensschutz ein Anliegen ist, wird dieser Begriff mit der Begründung vermieden, dass es sich hiebei um keine wie auch immer geartete „Lösung“ handle. Ich stimme dem hinsichtlich des Nichtvorliegens einer „Lösung“ zwar zu, verwende aber den Begriff aufgrund seiner allgemeinen Gebräuchlichkeit. Nicht verwenden werde ich allerdings den gesetzlichen Begriff „Schwangerschaftsabbruch“, den ich nach wie vor für einen unerträglichen euphemischen Zynismus halte.
  2. Vgl. dazu die eingehende Darstellung bei Sagmeister, Fristenlösung. Wie kam es dazu? (1981) 32 ff.
  3. Die notwehrfähigen Rechtsgüter gemäß § 3 StGB sind Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Vermögen. Nach neuerer Auffassung sind vom zivilrechtlichen Notwehrbegriff des § 19 ABGB auch weitere Rechtsgüter (zB die Ehre) erfasst, wobei die Abwehrbefugnisse freilich nicht so weit gehen wie bei der strafrechtlich normierten Notwehr (Piskernigg, Die Selbsthilferegelung des ABGB [1999] 139 ff.; zustimmend Lewisch in Wiener Kommentar zum StGB2 [2003] RZ 8 zu § 3; Posch in Schwimann, Praxiskommentar zum ABGB I3 [2005] RZ 16, 22 zu § 19).
  4. Wortlaut: „Liegen hinreichende Gründe für die Annahme vor, daß eine Person eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung ausführe, unmittelbar vorher ausgeführt habe, oder daß nach ihr wegen einer solchen Handlung gefahndet werde, so ist jedermann berechtigt, diese Person auf angemessene Weise anzuhalten.“
  5. Das Einschreiten Privater könnte allerdings in Ausnahmefällen auch hier nach den Grundsätzen der Selbsthilfe gemäß §§ 19, 344 ABGB statthaft sein (vgl. Piskernigg, a.a.O. 225 ff.).
  6. Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz2 (2001) 181.
  7. Vgl. Fabrizy, StGB8 (2002) RZ 3 zu § 3.
  8. Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I11 (2000) 155 f.
  9. So betreffend einen Vertrag über entgeltliche geschlechtliche Hingabe OGH 3 Ob 516/89; Krejci in Rummel, ABGB I3 (2000) RZ 75 ff. zu § 879.
  10. Vgl. Pkt. 3.
  11. Wortlaut: „Die Tat ist nach § 96 nicht strafbar, 1. wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird“.
  12. Zit. nach Sagmeister, a. a. O. 37.
  13. 30 der Beilagen zu den Sten. Prot., XIII. GP.
  14. Sagmeister, a. a. O. 47 ff.
  15. A.a.O. 73 ff.
  16. 959 der Beilagen zu den Sten. Prot., XIII. GP.
  17. 961 der Beilagen zu den Sten. Prot., XIII. GP.
  18. Zurecht hat daher neben anderen etwa in jüngerer Zeit wieder Hirsch in einer ausführlichen und überzeugenden historischen Analyse (Arzthaftung bei fehlgeschlagener Familienplanung [2002] 107 ff.) die Begründung der Rechtfertigungswirkung der Fristenlösung mit historischen Argumenten abgelehnt; ebenso die Entscheidung der Volksanwaltschaft vom 9.4.2005, GZ W/203-Schu/02, Pkt. II.3.a (veröffentlicht in: J. Bonelli [Hg], Sexualaufklärung von Hauptschülern in Abtreibungskliniken, IMABE-Studie Nr. 5 [2005] 8 ff. Diese Entscheidung wird hier nach der Abschnittseinteilung zitiert, wie sie im Originaltext aufscheint. Ein zustimmender Kommentar zu dieser Entscheidung von Waldstein findet sich in diesem Heft auf S. 225-227).
  19. Z. B. Fabrizy, a. a. O. RZ 1 zu § 97; Leukauf/Steininger, Kommentar zum StGB3 (1992) RZ 1 zu § 97.
  20. Zurecht stellt daher F. Bydlinski (Der Schutz des Ungeborenen in zivilrechtlicher Sicht, in: Pammer/Weiler [Hg], Volle Menschenrechte für das ungeborene Kind [1980] 95 f.) fest: „Selbst der dogmatischeste Ideologe sollte der Versuchung nicht nachgeben, nur gewisse Gesetze, die ihm aus irgendwelchen Gründen passen, z. B. § 97 StGB, anzuerkennen und andere gleichrangige Gesetze derselben Rechtsordnung, z. B. § 22 ABGB, schlicht zu ignorieren. Er provoziert damit nur, daß andere mit den von ihm bevorzugten Gesetzen in gleicher Weise verfahren. Das wäre das Ende einer verbindlichen Rechtsordnung.“
  21. Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (1991) 553 ff.; ders. in Rummel, ABGB I3 (2000) RZ 25 f. zu § 6; jeweils mit zahlreichen Nachweisen auf Literatur und Judikatur. Diese Auffassung setzt sich auch im Bereich des öffentlichen Rechts mehr und mehr durch (vgl. VfSlg. 11.499/1987; VwGH Zl. 2001/06/0057; Volksanwaltschaft, a. a. O. Pkt. II.3.a [die beiden Letztgenannten unter expliziter Berufung auf F. Bydlinski]; K. Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, in: Mayer u. a. [Hg], Festschrift für Robert Walter [1991] 368 ff.).
  22. Wortlaut: „Selbst ungeborne Kinder haben von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an den Anspruch auf den Schutz der Gesetze. Insoweit es um ihre und nicht um die Rechte eines Dritten zu tun ist, werden sie als Geborne angesehen (Hervorhebung vom Autor); (...).“
  23. Umfassende Zusammenstellung der einschlägigen Literatur und Judikatur in Pkt. II.2.b,c.
  24. Z.B. Kienapfel/Schroll, Strafrecht Besonderer Teil I5 (2003) 245.
  25. Volksanwaltschaft, a. a. O. Pkt. II.3.b.
  26. Wortlaut: „Niemand darf wegen der Durchführung eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs oder der Mitwirkung daran oder wegen der Weigerung, einen solchen durchzuführen oder daran mitzuwirken, in welcher Art immer benachteiligt werden.“
  27. Bernat, Recht und Humangenetik – ein österreichischer Diskussionsbeitrag, in: Deutsch u. a. (Hg), FS für Erich Steffen (1995) 40; für die Einordnung (de lege lata positiva) der „Fristenlösung“ in eine den Rechtfertigungsgründen nahekommende Kategorie sui generis nach Piskernigg, a. a. O. 261 ff.
  28. Lewisch in Wiener Kommentar zum StGB2 (2003), RZ 39 a. E. zu § 3.
  29. A. a. O. Pkt. II.3.c.
  30. Wortlaut: „Die Anstaltsordnung darf keine Bestimmungen enthalten, die die Durchführung eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs oder die Mitwirkung daran verbieten oder die Weigerung, einen solchen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder daran mitzuwirken, mit nachteiligen Folgen verbinden.“
  31. VfSlg. 7720/1975.
  32. A. a. O. Pkt. II.3.c.
  33. Wortlaut: „Die Tat ist nach § 96 nicht strafbar, (...) 2. wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Abwendung einer nicht anders abwendbaren ernsten Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist oder eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde, oder die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig gewesen ist und in allen diesen Fällen der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird; oder 3. wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Rettung der Schwangeren aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Lebensgefahr unter Umständen vorgenommen wird, unter denen ärztliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist.“
  34. Vgl. OGH 1 Ob 91/99k; dies in gewissem Ausmaß relativierend allerdings nach überzeugender Kritik in der Lehre (z. B. F. Bydlinski, Das Kind als Schadensursache im österreichischen Recht, in: Magnus/Spier [Hg], Liber amicorum for Helmut Koziol [2000] 49 ff.; Hirsch, aaO 114 ff.) die Entscheidung 6 Ob 303/02f.
  35. Pkt. II.4.
  36. Pkt. II.4.e.
  37. Pkt. II.4.a.
  38. Lewisch, a. a. O., Nachbem. zu § 3 RZ 71 m. w. N.
  39. So aber der OGH in 1 Ob 91/99k.
  40. Pkt. II.4.b.
  41. Pkt. II.4.c.
  42. Vgl. § 65 (3) Gentechnikgesetz (GTG).
  43. Pkt. II.4.d.
  44. Wortlaut: „Ein Vertrag, der gegen ein Gesetz oder gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“
  45. Koziol/Welser, a. a. O. m. w. N.
  46. So schon F. Bydlinski in Pammer/Weiler, a. a. O. 94 f.; ausführlich auch ders., Liber amicorum 49 ff. m. w. N.
  47. Haftpflichtrecht I3 (1997) 32 FN 75.
  48. A. a. O. FN 77.
  49. Auch Schick, Die Einwilligung in den Schwangerschaftsabbruch, in: Moos u. a., Festschrift für Udo Jesionek [2002]) verfängt sich in einem strukturellen Widerspruch, wenn er einerseits im Anschluss an Kienapfel bzw. Eder-Rieder von einer Überlagerung des Rechtsgutes des ungeborenen Lebens vom Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren in den ersten drei Monaten bzw. von einer aus der naturgegebenen engen biologischen Verbindung zwischen Mutter und Kind zu erklärenden beschränkten Verfügungsmacht der Mutter spricht, andererseits aber eine Abtreibung im Rahmen der Fristenlösung bzw. sämtlicher Indikationen mit Ausnahme der medizinischen als rechtswidrig betrachtet (a. a. O. 469 f., 480 ff.).
  50. 1 Ob 91/99k.
  51. Urteil vom 28. 5. 1993 (2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92 – „2. Abtreibungsurteil“; veröffentlicht z. B. in JZ 1993, Sonderausgabe vom 7. 6. 1993).
  52. Die diesbezüglich zentralen Passagen lauten: „[...] handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt [...]. Wie immer die verschiedenen Phasen des vorgeburtlichen Lebensprozesses [...] gedeutet werden mögen und in der Geschichte beurteilt worden sind, es handelt sich jedenfalls um unabdingbare Stufen der Entwicklung des individuellen Menschseins. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu [...].
    Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen bedingt, daß die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleistet [...]. Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht, ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht; es gilt unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen, über die der Rechtsordnung eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates kein Urteil zusteht.“
  53. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass nach h.M. in Österreich ein Nothilferecht zugunsten des ungeborenen Kindes besteht (Lewisch, a. a. O., RZ 39 zu § 3). Dies ist für rechtswidrige Abtreibungen nur konsequent. Welchen sozia-len Sprengstoff diese Rechtslage in sich birgt, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden.
  54. Pkt. D.III.3.
  55. Pkt. D.V.6.
  56. So auch der VfGH in VfSlg. 13.635/1993 unter Berufung auf F. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze (1988) 171 ff.
  57. Zur überzeugenden Kritik an dieser Widersprüchlichkeit – auch aus Sicht eines Abtreibungsbefürworters – Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat (1995) 163 ff.
  58. NJW 1953, 513.
  59. Wortlaut (Absatz 1): „Wer eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, um einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil von sich oder einem anderen abzuwenden, ist entschuldigt, wenn der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie abwenden soll, und in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war.“
  60. Wortlaut: „Eine Mutter, die das Kind während der Geburt oder solange sie noch unter der Einwirkung des Geburtsvorganges steht, tötet, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“

Korrespondenzadresse des Autors:

Dr. Thomas Piskernigg, IMABE-Institut
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
Der Autor ist Jurist im Bundesdienst. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

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