Ärzte unter Druck: Wie sich ‚Sterbehilfe‘ negativ auf die Medizin auswirkt

Imago Hominis (2023); 30(2): 074-077
Susanne Kummer

Im Jänner 2022 wurde die Beihilfe zum Suizid in Österreich unter bestimmten Bedingungen straffrei gestellt. Innerhalb eines Jahres wurden 111 sogenannte Sterbeverfügungen errichtet, wobei nicht alle umgesetzt wurden. Eine erste Zwischenbilanz der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG) zeigt, dass die im Vorfeld der Einführung des sogenannten ‚Sterbeverfügungsgesetzes‘ (StVfG) gehegten Befürchtungen sich zu bestätigen scheinen. Das überrascht nicht. Bereits jetzt mehren sich die Anzeichen, dass eine Legalisierung von Tötungsoptionen das ärztliche Berufsethos untergräbt und im Gesundheitswesen Tätige über moralische Belastungen und Überforderung klagen.

Österreich: Palliativmediziner sehen sich durch Wertekonflikte belastet

In Österreich ist seitens des Gesundheitsministeriums keine wissenschaftliche Begleitforschung zum assistierten Suizid vorgesehen. Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) hat sich daher entschlossen, selbst Daten aus der Praxis zu sammeln. Geschaffen wurde dazu ein Online-Meldesystem mit der Bezeichnung ASCIRS (ascirs.at) mit der Möglichkeit zur anonymen Eingabe für jene Angehörige, Pflegende oder Psychologen, die andere Menschen rund um den begleiteten Suizid oder dessen Anbahnung miterleben oder betreuen. Die Auswertung dieser Eingaben wurden Anfang 2023 im Rahmen eines Online-Webinars unter dem Titel „Töte sich, wer kann“ präsentiert.

Ein Jahr nach Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes in Österreich sehen sich Palliativmediziner durch Wertekonflikte belastet. Aus psychologischer Sicht zeigen sich die hohe Belastung und große Unsicherheit von Ärzten und Pflegenden, aber auch Apothekern, die das tödliche Präparat aushändigen sollen, wie die ASCIRS-Anfragen zeigen. OPG-Präsident Dietmar Weixler hält die Rollenzuschreibung als ‚Aufklärende zum Assistierten Suizid im Zuge des StVfG‘ seitens des Gesetzgebers für eine „Zumutung“ und fordert unmissverständlich eine entsprechende Gesetzesänderung. „Wir werden von einem Anliegen erdrückt, für das wir uns in unserem Selbstverständnis gar nicht zuständig fühlen“, so Weixler.

Gerade Professionisten im Bereich Palliative Care hätten diesen Beruf gewählt, weil sie Menschen palliativ begleiten möchten und nicht, um Anfragen zur Selbsttötung zu bearbeiten, betont Weixler. Das führe zu hohem psychologischen und moralischen Stress.

Auch in Österreich ist der Anteil der Frauen bei Suizidanfragen hoch

Aus dem Bericht der OPG geht hervor, dass sich Ärzte in Österreich, die laut Gesetz Patienten mit Selbsttötungsabsichten beraten sollen, durch diese Aufgabe belastet und überfordert fühlen. In der Praxis zeigt sich zudem, dass ein selbstbestimmter Suizid offenbar ein rechtliches Konstrukt ist. Den Entscheidungen zur Selbsttötung gingen vielmehr existentielle Not, Verzweiflung und schlecht behandelte körperliche Leiden voraus.

Von den 83 Meldungen, die zwischen Mai und Dezember 2022 in der OPG eingelangt sind, betrafen 59 Anfragen zur Beihilfe zum Suizid. 23 Suizide mit tödlichem Gift wurden vollendet, einer wurde abgebrochen. Der überwiegende Anteil fand im privaten Rahmen – wie vom Gesetzgeber vorgesehen – statt, drei Fälle in Pflegeheimen und einer im Hospiz. Bislang wurde kein Fall aus einem Krankenhaus berichtet.

Die Patienten waren im Alter zwischen 43 und 97 Jahre, von denen die meisten eine Tumorerkrankung hatten, gefolgt von neurologischen Erkrankungen. Auffallend hoch war mit 67% (56 Anfragen) der Anteil der Frauen, die einen assistierten Suizid in Erwägung zogen. Dies deckt sich mit internationalen Studien, wonach Frauen zu den besonderen Risikogruppen für assistierte Suizide zählen. Sie überleben häufiger ihre Partner, leben länger alleine und leiden unter Einsamkeit oder der Sorge, anderen zur Last zur fallen. Außerdem sind Frauen häufiger von Altersarmut und Depression betroffen.

Anfragen zum assistierten Suizid, weil Krankheitssymptome schlecht behandelt wurden

Als bei weitem häufigster Grund für eine Anfrage für eine Beihilfe zur Selbsttötung wird das erlebte oder zukünftig befürchtete Leiden in Form eines existentiellen Leidens genannt. Als zweithäufigsten Grund gaben fast die Hälfte der Betroffenen für ihren Wunsch nach assistiertem Suizid belastende körperliche Krankheitssymptome an. Die Angst vor einem Autonomieverlust wurde sechs Mal genannt.

In fast 60% (33 Fälle) entschieden sich die Patienten nach einer umfassenden Beratung über Palliative-Care-Optionen gegen die Errichtung einer Sterbeverfügung. Bei den 23 assistierten Suiziden waren in 75% der Fälle unerträgliche körperliche Symptome ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung zur Selbsttötung. Die Hälfte aller Anfragen zum assistierten Suizid erfolgte aufgrund von unzureichend behandelten Symptomen im Kontext einer schweren Erkrankung.

Die Angst vor Leiden im Alter überwiegt

Bestärkt fühlt sich die OPG von diesem Ergebnis insbesondere in ihrer Ansicht, die Möglichkeit des assistierten Suizids sei überflüssig. Denn die moderne Palliativmedizin habe die Mittel, die als Motiv genannten Leiden deutlich zu lindern. „Erschreckend“ findet Palliativmediziner Dietmar Weixler, dass körperliche Beschwerden eine derart große Rolle spielten: „Es lässt sich heutzutage beinahe garantieren, einen körperlichen Schmerz zu kontrollieren.“

„Wir wissen, dass den Ängsten, den körperlichen Symptomen und dem erlebten Leid durch eine umfassende palliativmedizinische Betreuung wirksam begegnet werden kann“, betont auch Angelika Feichtner, Pflegewissenschaftlerin und Mitglied der ARGE Ethik der OPG. Allerdings hätten bei weitem nicht alle Patienten, die eine palliativmedizinische Betreuung bräuchten, auch Zugang dazu, kritisiert Feichtner.

Kanada: Palliativmedizin hat durch Tötung auf Verlangen Schaden genommen

Aus Kanada, wo Tötung auf Verlangen und assistierter Suizid (MAiD) seit 2016 erlaubt und ausschließlich unter Mitwirkung von Ärzten praktiziert werden darf, kommen Berichte, wonach das Fachgebiet der Palliativmedizin durch die Gesetzesänderung insgesamt Schaden genommen hat. Viele Beschäftigte im Gesundheitswesen sind verunsichert. Es scheint nicht mehr klar, wofür Palliativmedizin oder das Hospiz überhaupt stehen. Hier sei auf das Ergebnis einer Studie verwiesen, die in 2021 in der Fachzeitschrift Palliative Medicine1 publiziert wurde.

Interviews mit dem Gesundheitspersonal vor und nach der Gesetzesänderung

In einer qualitativen Befragung von Ärzten und Pflegepersonen untersuchte das Team um Jean Jacob Mathews und Caroline Zimmermann, Vorständin des Departement of Supportive Care des Princess Margaret Cancer Center am University Health Network in Toronto, in wie weit die Legalisierung der Euthanasie, wie sie in Kanada unverhohlen genannt wird, Palliativeinrichtungen verändert hat.

Befragt wurden 13 Ärzte (54% weiblich) und 10 Pflegekräfte (90% weiblich) im Durchschnittsalter von 43 Jahren, die vor und nach der Legalisierung der Euthanasie in Kanada in einer Palliativeinrichtung oder -station gearbeitet hatten. Ab Juni 2016 mussten sie Patienten über die Möglichkeit der Tötung auf Verlangen aufklären und wirkten dabei entsprechend der gesetzlichen Vorgaben mit.

Neue ‚Aufgabe‘ macht dem Gesundheitspersonal zu schaffen

Die im Palliativbereich Tätigen waren sechs Monate vor und sechs Monate nach diesem Zeitpunkt über ihre Einstellung bei der Arbeitsweise interviewt worden. Bei der Auswertung der Themen zeigte sich: Mit Einführung der Tötung auf Verlangen veränderte sich der Zugang zum Sterben. Als „neue Herausforderungen“ beschrieben die Beteiligten die veränderte Kontrolle der Symptome, die Art der Kommunikation, die persönlich empfundenen Belastungen und die spürbare Verschlechterung des Arzt-Patienten-Verhältnisses sowie allgemein das Aufzehren von Ressourcen durch sogenannte Sterbehilfe-Fälle. Nach Einschätzung von Dietmar Weixler, Präsident der Palliativgesellschaft in Österreich, beherrscht dieses Thema derzeit die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Palliativmedizin. Bislang liegen nur wenige Erfahrungen vor. Die qualitative Studie zeige einige wesentliche Eckpunkte auf:

1. Das Sterben wird zu einem „kalten isolierten Weg, die Welt zu verlassen“

Die Erfahrung von Sterben habe sich dadurch entscheidend verändert, dass zu bestimmten positiven Wahrnehmungen beim Sterben eher negative hinzugekommen sind. Das Sterben werde nicht mehr angenommen, sondern es ist zu einem Prozess geworden, der von einigen als ein „kalter, isolierter Weg, die Welt zu verlassen“ beschrieben wurde.

2. Hilfreiche Schmerzmittel werden abgelehnt, weil sie womöglich die Entscheidungskraft schwächen

Die Befragten standen häufig vor dem Dilemma, dass vor allem Patienten, die Tötung auf Verlangen wollten, gleichzeitig starke Schmerzmittel ablehnten, die ihr Leiden hätten lindern können. Sie hatten Angst davor, dass dadurch ihre Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt würde und sie ihr ‚Recht auf Sterbehilfe‘ nicht mehr artikulieren könnten. Für Patient und Arzt ergaben sich daraus belastende Situationen.

3. Alles kreist um die Bestimmung des Todeszeitpunkts

Es entstanden im Vorfeld neuartige, schwierige Gespräche mit den Patienten. Viele wollen im Gespräch bis ins Detail über den geeigneten Zeitpunkt verhandeln. Das werde im Laufe der Zeit zu einem alles dominierenden Thema. Dadurch entsteht eine neue und große emotionale Belastung – nicht nur für den oder die Betreffenden, sondern auch für das Personal. Sie besteht besonders dann, wenn der Todeszeitpunkt vorab festgelegt und bekannt gegeben wird. Verbunden ist damit auf beiden Seiten die Angst vor sozialer Stigmatisierung. Gleichzeitig tritt auf Seiten des Personals die Angst vor Gewöhnungseffekten auf wie auch die Furcht vor einer andauernden Mitarbeit bei Tötungen.

4. Patienten wehren sich gegen den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses

Auch die Beziehung zwischen Ärzten und Patienten verändert sich. Palliative Care wird nicht mehr als Hilfe in schwieriger Situation wahrgenommen, sondern als eine Angst erregende Tätigkeit, weil sie in Tötungen münden kann. Mediziner und im Gesundheitswesen Tätige erleben damit erstmals in ihrem Berufsleben so etwas wie Widerstände gegen den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Patienten, was bislang nach aller Erfahrung die Grundlage ihres Tuns gegenüber dem hilfsbedürftigen Kranken war.

5. Ressourcen werden von der eigentlichen Palliativversorgung abgezogen

Institutionell wurde in Kanada die Beobachtung gemacht, dass die vorhandenen Ressourcen, die der Palliativmedizin vorbehalten waren, automatisch in die Vorbereitungen eines Verfahrens zu Tötung auf Verlangen/Assistierter Suizid hineingelaufen sind. Diese Ressourcen fehlten dann anderswo. Die Abläufe für MAiD würden die reguläre Versorgung von Palliativpatienten beeinträchtigen.

6. Natürlicher Tod und Tötung durch Dritte sind zwei ganz verschiedene Sachverhalte

Das Prozedere der Verwirklichung von Tötungswünschen wird als speziell und sonderbar empfunden. Dass palliative Patienten Diagnose- oder Therapievorschläge ablehnen, ist ein normales Phänomen, mit dem die Palliativmedizin häufig konfrontiert ist und gut umgehen kann. Die Planung und Durchführung einer Tötung auf Verlangen könne jedoch damit nicht verglichen werden, das seien zwei ganz verschiedene Zugänge.

Frankreich: 800.000 Ärzte und Pflegende sagen „Nein zur Euthanasie“

Ob Spanien, das 2022 oder Portugal, das im Mai 2023 als fünftes Land in Europa Töten auf Wunsch legalisiert hat: Ärzte sehen sich durch die neuen Gesetze in ihrem Berufsethos bedroht. In Frankreich, wo ebenfalls über ein Euthanasie-Gesetz diskutiert wird, stellt sich das Gesundheitspersonal klar dagegen, in Tötungshandlungen involviert zu werden. Dreizehn wissenschaftliche Gesellschaften und Vereinigungen von Ärzten und Pflegekräften wandten sich in einem offenen Brief an die Regierung und Parlamentarier, damit der Gesundheitsbereich „von jeglicher Beteiligung an einer Form des verwalteten Todes“ ferngehalten wird. Die Organisationen, die 800.000 Mitglieder aus dem Gesundheitsbereich vertreten, lehnt in einem 26-seitigen ethischen Gutachten das „Euthanasieverfahren kategorisch“ ab. Ausdrücklich werden darin auch „die Vorbereitung“ und „die Verabreichung einer tödlichen Substanz“ durch das Gesundheitspersonal erwähnt.2

Spanien: 9.000 Ärzte stehen auf staatlicher ‚schwarzer Liste‘, weil sie Tötung auf Verlangen ablehnen

Man wird sehen, ob Frankreich nun als sechstes Land in Europa den Schutz von suizidgefährdeten Menschen aufgeben und Tötung auf Verlangen legalisieren wird. Klar ist, dass es damit auch für Ärzte immer enger wird. In Spanien etwa sind Angehörige von Gesundheitsberufen verpflichtet, die aus Gewissensgründen keine Patiententötungen vornehmen, sich in ein staatliches Register einzutragen.3 Bislang werden 9.000 Ärzte auf der ‚schwarzen Liste‘ geführt. Diese positive Diskriminierung stelle einen Angriff auf Ärzte, Apotheker und Pflegende dar, hält die Nationale Vereinigung zur Verteidigung der Gewissensfreiheit (ANDOC) fest. Der Bevölkerung soll damit offenbar ein ideologisches Verständnis von Gesundheitsversorgung vermittelt werden, das nichts mehr mit der medizinischen Tradition oder dem Ethos der Krankenpflege zu tun hat. Heilen, lindern, trösten ist der Grundauftrag der Gesundheitsberufe. Töten zählt nicht dazu.

Referenzen

  1. Mathews J. J. et al., Impact of Medical Assistance in Dying on palliative care: A qualitative study, Palliative Medicine (2021); 35(2): 447-454, doi: 10.1177/0269216320968517.
  2. Uni mobilisation des soignants contre l'euthanasie, Le Monde, 17.2.2023.
  3. IMABE, Spanien: 9.000 Ärzte stehen auf staatlicher ‚schwarzer Liste‘, weil sie Tötung auf Verlangen ablehnen, Bioethik aktuell, 11.4.2023, www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/spanien-9000-aerzte-stehen-auf-staatlicher-schwarzer-liste-weil-sie-toetung-auf-verlangen-ablehnen (letzter Zugriff am 16.6.2023).

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer
IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien 
skummer(at)imabe.org

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: