Bioethik aktuell

ADHS: Positive Effekte von Ritalin möglicherweise zu hoch angesetzt

Wissenschaftler vermissen Studien hinsichtlich Langzeitfolgen und Nebenwirkungen

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Die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gilt als einer der häufigsten diagnostizierten psychischen Störung bei Kindern und Jugendlichen, rund 5 Prozent seien davon betroffen. Um die Störungen des „Zappelphilipp-Syndroms“ zu lindern, bekommen viele ADHS-Betroffene seit mehr als 20 Jahren den Wirkstoff Methylphenidat verschrieben, bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Nun zeigt eine aktuelle Übersichtsarbeit der Cochrane-Database, wie problematisch der Einsatz von Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen ist (vgl. Scinexx, online, 25.11.2015). Wegen extrem schlechter Qualität der bisherigen Studien sei weder das Ausmaß der positiven Effekte noch das Risiko für schwerwiegende Folgen einzuschätzen, so die Forscher der Cochrane Collaboration.

Die bisher umfangreichste nun publizierte Metastudie (Cochrane Database of Systematic Reviews, 2015; doi: 10.1002/14651858.CD009885.pub2) bestätigt vor allem die Vielzahl der Nebenwirkungen: Schlafprobleme und Appetitlosigkeit sind die häufigsten Begleiterscheinungen von Ritalin. Die Wahrscheinlichkeit, darunter zu leiden, wird durch das Medikament um 30 Prozent erhöht. Die Studienautoren raten daher Ärzten zu besonderer Vorsicht bei der Verschreibung.

Die Forscher um den dänischen Psychiater Ole Jakob Storebø werteten 185 randomisierte Studien aus, an denen zusammen mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche teilgenommen hatten. Neben den Ergebnissen zu den Nebenwirkungen und Folgen prüften die Wissenschaftler dabei auch die Qualität der Studien. Das Ergebnis: Zumindest scheint das Methylphenidat gegen die Symptome der ADHS zu wirken - wenn auch nicht überzeugend stark. Die Mehrheit der Studien ergab zwar, dass sich dadurch das Verhalten und die Lebensqualität der Kinder verbesserten. Im Durchschnitt führte die Therapie jedoch nur zu einer Besserung um 9,6 Punkte auf der 72-stufigen ADHS-Skala. Das Cut-off-Minimum (ab dem überhaupt eine Wirkung zugesprochen wird) liegt bei 6,6 Punkten.

Hinzu kommt: „Die niedrige Qualität der zugrundeliegenden Belege bedeutet, dass wir nicht sicher sein können, wie groß dieser Effekt tatsächlich ist“, so die Wissenschaftler. 72 der 185 Studien (40 Prozent) waren durch die Industrie finanziert. Die Cochrane-Forscher ermittelten, dass die Studien im Durchschnitt lediglich einen Behandlungszeitraum von 75 Tagen (mit einer Schwankungsbreite von einem bis 425 Tagen) umfassten, wodurch eine Beurteilung von Langzeiteffekten des Wirkstoffs gar nicht möglich sei. Nach Ansicht der Forscher werden dringend besser entworfene und längere Studien benötigt, wenn man die tatsächlichen Wirkungen der Ritalin-Therapie bei ADHS einschätzen will (vgl. EurekAlert, online, 24.11.2015).

„Unsere Erwartungen bezüglich dieser Therapie sind wahrscheinlich größer, als sie sein sollten“, ergänzt Co-Autorin Camilla Groth von der dänischen Herlev Universitätsklinik. „Mediziner sollten die schlechte Qualität der Daten berücksichtigen, die Therapie sehr sorgfältig überwachen und gut die Vorteile und Risiken abwägen“, betont Groth.

Ritalin als „schnelle Lösung“ für unruhige Kinder mit Konzentrationsschwäche, basiert auf einer Fehl- und Überdiagnose. ADHS sei zur „Modediagnose“ geworden, kritisierte der Fachgruppenobmann der Wiener Kinderärzte, Peter Voitl angesichts des auch in Österreich deutlichen Anstiegs in der Verschreibungspraxis (ORF, online, 30.8.2015). Er sieht den Hauptgrund für die Zunahme darin, dass die Medikation für Eltern einfacher sei, anstatt zu sagen, dass ein Kind eine Verhaltensstörung habe und eine Psychotherapie brauche.

Allein bei der Wiener Gebietskrankenkasse hat sich die Zahl der Ritalin-Verschreibungen in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht: 2004 wurde es mehr als 3.300 Mal verordnet, 2014 waren es bereits über 11.250 Mal.

Institut für Medizinische
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