Bioethik aktuell

Demenz: Zahlen der Neuerkrankungen in Europa und USA sind rückläufig

Schutzfaktoren Bildung und Lebensstil müssen weiter untersucht werden

Lesezeit: 02:36 Minuten

© Fotolia_90853574_Halfpoint

Demenz zählt aufgrund der steigenden Lebenserwartung seit Jahren zu den gesundheitspolitischen Top-Themen. Im Jahr 2050 sollen laut bisheriger Prognosen global etwa 135 Millionen Menschen von Alzheimer und anderen Formen der Demenz betroffen sein. Ängste vor der Explosion einer sozialen und finanziellen Krankheitslast stützen sich auf diese Zahlen. Doch Szenarien, wonach Westeuropa und die USA mit einer dramatischen Demenz-Epidemie zu rechnen haben, halten den Fakten offenbar nicht stand. Im Gegenteil: Die Zahl der neuen altersbedingten Neuerkrankungen (Inzidenz) geht zurück - und dies konstant seit 1977. Dies zeigt eine aktuelle im New England Journal for Medicine (2016, 374: 523-532) publizierte Studie. Auch die damit wachsende Gesamtanzahl von älteren dementen Menschen (Prävalenz) ist in Westeuropa rückläufig, so das Ergebnis der Framingham Heart Study, einer seit 1948 laufenden Langzeituntersuchung der Bürger der Stadt Framingham an der amerikanischen Ostküste.

Die Analyse umfasste 5.205 Teilnehmer im Alter von 60 bis 101 Jahren. Berechnet wurde das Demenz-Risiko in vier Zeitabschnitten ab 1977. Pro Abschnitt waren mehr als 2000 Teilnehmer vertreten. Das Ergebnis: Zwischen 1970 und 1980 lag das Risiko an Demenz zu erkranken bei 3,6 Prozent. Es sank zwischen 1981 und 1990 auf 2,8, dann weiter auf 2,2 Prozent bis zum Jahr 2000 und schließlich auf 2 Prozent im Zeitraum von 2000 bis 2010. Bezogen auf das erste Jahrzehnt sank also die Inzidenzrate um 22 Prozent, 38 Prozent und 44 Prozent in den drei Jahrzehnten danach.

Diese enorme Risikoreduktion konnte allerdings nur für die Personen nachgewiesen werden, die wenigstens über einen High-School-Abschluss, also in etwa über die allgemeine Hochschulreife verfügen, berichten die Wissenschaftler um die Neurologin Sudha Seshadri von der University Boston (vgl. Forum Gesundheitspolitik, online, 26.2.2016). Angesichts der stabilen Abnahme der altersspezifischen Demenzinzidenz zumindest für Westeuropa sprechen die Autoren von einer „möglichen Stabilisierung der auftretenden Demenz“. Anders ist die Situation in Schwellenländern, wo die Lebenserwartung erst steigen wird, oder bei ökonomisch und sozial benachteiligten Personen in allen Ländern.

Worin genau der Schutzfaktor von Bildung besteht, ist nicht ganz klar. Der Schulabschluss oder Bildungsstand schützt zwar nicht für sich genommen vor Demenz, wirkt sich aber offenbar häufig auf Lebensstil, soziale Lage und Gesundheitsverhalten aus, die mit Demenz und anderen Krankheiten assoziiert sind. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch sie waren im Untersuchungszeitraum bei Menschen mit höherem Bildungsabschluss zurückgegangen, ebenso die Prävalenz des Schlaganfalls und der Herzschwäche.

Die Studienergebnisse gäben Grund zu einer „vorsichtigen Hoffnung“, schreibt David S. Jones vom Harvard Medical School Department of Global Health & Social Medicine (vgl. N Engl J Med 2016; 374: 507-509; February 11, 2016, DOI: 10.1056/NEJMp1514434). Primäre und sekundäre Prävention könnten die Größe der lange befürchteten Demenz-Epidemie offenbar verringern.

Bereits 2015 hatten britische Epidemologen die Stabilisierung der Zahl der Demenzkranken in Europa in Lancet aufgezeigt (Lancet Neurology, 2015; doi: 10.1016/S1474-4422(15)00092-7) Sie kritisierten eine Panikmache hinsichtlich einer drohenden Demenz-Epidemie. Der sorglose Umgang mit Forschungsergebnissen scheine eher gut mit dem Trend nach Medikalisierung und Heilserwartung gegenüber der Medizin zusammenzupassen, so das Team um die Epidemiologin Carol Brayne des Cambridge Institute of Public Health (CIPH) (vgl. Bioethik aktuell, 14.9.2015). Sie erinnert daran, dass neben dem Alter andere, durchaus beeinflussbare Faktoren das Demenzrisiko entscheidend erhöhen, wie etwa Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht im mittleren Alter, Bewegungsmangel, Depression und Rauchen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: