Bioethik aktuell

Fehlerkultur: Die Hälfte aller Behandlungsfehler ist vermeidbar

Checklisten können weder Haltung noch fehlende Problemerkennung ersetzen

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Auswahl der falschen Medikamente, unzulängliche Behandlung, Fehler bei der Operation, mangelnde Hygienemaßnahmen, falsche Diagnose: Etwa jeder 20. Patient (6 Prozent) erleidet bei ärztlichen Behandlungen Schäden, die in jedem zweiten Fall vermeidbar gewesen wären. Am häufigsten treten vermeidbare Patientenschäden in der Intensivmedizin (18 Prozent aller Patienten) und in der Chirurgie (10 Prozent) auf. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle im British Medical Journal (2019; 366: l4185) publizierte Studie. Die Meta-Analyse basiert auf 70 Studien mit 337.025 Patienten. Dort waren 47.148 schädigende Vorfälle registriert worden, von denen 55 Prozent als vermeidbar eingestuft wurden, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 19.7.2019).

Der größte Anteil der vermeidbaren Schäden fiel auf medikamentöse Behandlungen (25 Prozent) und andere Behandlungen (24 Prozent). An dritter Stelle lagen chirurgische Eingriffe (23 Prozent), gefolgt von Infektionen im Krankenhaus (16 Prozent) und Diagnosefehlern (16 Prozent).

Um aus Fehlern tatsächlich etwas lernen zu können, ist es wichtig, zu wissen, wo die Ursachen vermeidbarer Fehler liegen. Häufig werden mangelnde Kommunikation oder schlechtes Teamwork bzw. Nicht-Einhaltung von Regeln oder Checklisten genannt.

Nicht so im Fall der Chirurgie. Dort scheinen individuelle „menschliche Leistungsdefizite“, also menschliches Versagen, die häufigste Ursache für vermeidbare Fehler zu sein, wie eine aktuelle im JAMA Network Open (2019; 2: e198067) publizierte Studie nahelegt.

Die häufigsten Versager der am Baylor College of Medicine und zwei weiteren US-Lehrkrankenhäusern in Houston analysierten Fälle fielen in die Kategorie „Ausführung“, betrafen also die Operation selbst (51 Prozent aller Komplikationen). Die Chirurgen begingen dabei technische Fehler, erkannten ein Problem nicht oder waren einen Moment unaufmerksam. Am zweithäufigsten waren mit einem Anteil von 28,6 Prozent Fehler der Kategorie „Planung oder Problemlösung“. Dabei kam es in erster Linie zu Fehleinschätzungen bei Diagnose und Therapie.

In etwa der Hälfte der Fälle waren mehrere Faktoren für Komplikationen verantwortlich. Am häufigsten war die Verbindung der Kategorien „fehlende Problemerkennung“, „Aufmerksamkeitsstörungen“ und „technische Fehler“, etwa wenn ein Chirurg einen Telefonanruf entgegennimmt, während er gerade mit einem technisch schwierigen Abschnitt der Operation beschäftigt ist und abgelenkt ist. Oder wenn sich verschiedene Ärzte in einem Fehler gegenseitig bestätigen: Ein Radiologe erkennt postoperativ nicht einen klar sichtbaren Fremdkörper auf dem Röntgenbild (etwa ein vergessenes Instrument), worauf der Chirurg den Fremdkörper auch nicht sieht (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online, 1.8.2019).

Den Ruf nach noch mehr Checklisten und anderen bürokratischen Maßnahmen oder externen Kontrollen, um diese Fehler zu verhindern, hält Studienautor Todd K. Rosengart vom Baylor College of Medicine (BCM) für verfehlt. Die Verantwortung liege in diesem Fall beim einzelnen Chirurgen, dem ganz einfach ein Fehler unterlaufen ist. Diese Erkenntnis dürfte vielen Chirurgen entgegenkommen, die ein wachsendes „Checklist burnout syndrome“ beklagen. „Checklisten genügen nicht, um das Verhalten dauerhaft zu ändern.“

Institut für Medizinische
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