Bioethik aktuell

Geriatrie: Zuviel und zuwenig Medikamentenversorgung als Problem bei älteren Menschen

Fehlendes Wissen und steigende Medikamentenzahl führen zu mangelnder Therapietreue

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Ältere Patienten leiden häufig unter zahlreichen Diagnosen, die alle unabhängig voneinander „leitliniengerecht“ therapiert werden. Dies kann zur sogenannten Polypharmazie führen, d. h. der gleichzeitigen und andauernden Einnahme von mehr als fünf unterschiedlichen Arzneimitteln. Dies ist wegen der nicht bekannten oder nicht überschaubaren Wechselwirkungen bei älteren Menschen und den praktischen Schwierigkeiten, sie korrekt einzunehmen, ein generelles Problem. Die Folge: Es gibt sowohl ein „zu viel“ als auch ein „zu wenig“ in der Arzneimitteltherapie älterer Patienten.

Dass nicht nur Über- sondern auch eine Unterversorgung mit wichtigen Medikamenten problematisch sein kann, zeigt eine aktuell im British Journal of Clinical Pharmacology publizierte Studie DOI: 10.1111/bcp.13055. Das Team um Maarten Wauters von der Universität Gent untersuchte Medikationsfehler und stellte fest, dass von 503 über 80-Jährigen Menschen nur 17 Prozent adäquat medikamentös versorgt waren. Bei 56 Prozent der Patienten wurde eine falsche Anwendung der Medikamente festgestellt, bei 67 Prozent der Patienten fehlten bestimmte Medikamente. Im Laufe der 18-monatigen Studiendauer zeigte sich überraschenderweise, dass nicht die Überversorgung, sondern eine Unterversorgung mit einem erhöhten Sterberisiko (39 Prozent) bzw. Risiko für eine Einweisung ins Krankenhaus (26 Prozent) verbunden war, so die Autoren.

Polypharmazie und mangelndes Wissen über die Behandlung hängen häufig zusammen. Dies zeigt eine in Age Ageing (2016; 45(3): 402-408) publizierte niederländische Forschungsarbeit. Laut Studie waren nur 15 Prozent von 754 älteren Menschen im Stande, korrekt zu benennen, weswegen sie ihre jeweiligen Medikamente zu sich nahmen. Die Teilnehmer waren im Schnitt 73,2 Jahre alt und nahmen durchschnittlich täglich neun verschiedene Medikamente ein. Sie versorgten sich alle selbstständig.

Patienten, die mit einem Partner zusammenlebten, waren laut Studienautoren um Donna Bosch-Lenders von der Universität Maastricht im Vergleich zu Alleinlebenden im Vorteil, wobei Frauen besser abschnitten als Männer. Das Bildungsniveau hatte überraschenderweise keinen Einfluss. Die Faktoren steigende Zahl der Medikamente, Unkenntnis über die Behandlung und zunehmendes Alter spielten in der mangelnden Therapietreue die größte Rolle.

In Deutschland erhalten rund 42 Prozent der über 65-Jährigen gesetzlich Versicherten fünf oder mehr verschreibungspflichtige Medikamente. Ob Polypharmazie mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist, ist offen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle im Deutschen Ärzteblatt International publizierte Übersichtsarbeit (2016; 113: 627-33). Die Autoren plädieren für einen bundesweit einheitlichen Medikationsplan mit Indikation, Dosierung und Einnahmehinweisen der Medikamente.

Zur Überprüfung der Medikation von älteren Patienten steht Ärzten als Orientierung eine Positiv-Negativ-Liste zur Verfügung. Diese in Deutschland entwickelte Fit fOR The Aged (FORTA)-Liste wurde mehrstufig, zuletzt von insgesamt 25 Experten, entwickelt, um die Arzneimitteltherapie älterer Patienten sicherer und effizienter zu gestalten (vgl. Universität Heidelberg). Erste klinische Untersuchungen (vgl. Age Ageing, 2016; 45(2): 262-267) zeigten einen positiven Effekt der Anwendung dieser Liste, z.B. auf die Verringerung der Sturzhäufigkeit älterer Patienten.

Institut für Medizinische
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