Bioethik aktuell

Italien: „Schlechte Gene“ als Grund für Strafmilderung

Forscher bezweifeln wissenschaftliche Grundlagen dieses Präzedenz-Urteils in Europa

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Zwei italienische Neurowissenschaftler legten im Mai 2009 im Rahmen eines Berufungsverfahrens einem italienische Richter ihr Gutachten vor: Ein Mörder algerischer Herkunft habe eine genetische Veranlagung zur Aggressivität. Dadurch sei dieser in Italien lebende Mann anfälliger für Gewalt, wenn er provoziert werde. Überzeugt von den biologischen Argumenten reduzierte der Richter des Berufungsverfahrens das Strafausmaß um ein weiteres Jahr, berichtet Nature (online, doi:10.1038/news.2009.1050), nachdem dem Täter bereits gerichtlich eine Geisteskrankheit (und damit Strafminderung von zwölf auf rund neun Jahre) attestiert wurde. Das Urteil hat international große Aufmerksamkeit erregt. Begrüßt wird es von jenen, die für die Beeinflussung des Rechtssystems durch Genetik und Neurobiologie argumentieren. Allerdings bleiben im konkreten Fall so viele wissenschaftliche Fragen offen, dass die Entscheidung des Berufungsrichters als voreilig erscheint: Die Interpretation der italienischen Neurologen sei sehr selektiv, die Brücke vom Gen zur Gewalt müsse erst geschlagen werden, sagen Kritiker aus der Scientific Community.

Nature nennt diesen Fall das erste europäische Gerichtsurteil, bei dem Verhaltensgenetik eine Rolle gespielt habe. Nita Faharany von der Vanderbilt University zählt inzwischen 200 Versuche in den USA sowie 20 in Großbritannien, unter Berufung auf eine genetische Veranlagung zur Gewalt für eine Strafminderung zu plädieren. Mit Ausnahme einiger weniger Fälle in den USA seien die meisten dieser Versuche aber gescheitert.

Die Neurowissenschaftler Pietro Pietrini von der Universität Pisa und Giuseppe Sartori von der Universität Padua hatten sich in ihrem Gutachten auf auffällige Gehirnbilder gestützt sowie auf eine genetische Analyse, bei der sie fünf Gene feststellten, die mit gewalttätigem Verhalten in Zusammenhang gebracht werden, unter anderem jenes Gen, das das Enzym Monoaminooxidase A (MAOA) herstellt. Eine britische Studie hatte 2002 das erste Mal festgestellt, dass Heranwachsende mit einer wenig aktiven Variante des MAOA-Gens später aggressiver und krimineller würden, vor allem allerdings wegen einer Wechselwirkung zwischen genetischer Veranlagung und sozialer Umgebung (Science 2002; 297: 851-854). Das Risiko stieg nämlich nur bei jenen Genotypen signifikant an, die Opfer einer Kindesmisshandlung waren, und es variierte je nach genetischer Ausprägung.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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