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Menschlichkeit in der Medizin: Wer früh lernt, eigene Krisen zu reflektieren, wächst in Empathie

Medizinstudierende, die mit ihrer eigenen Verletzlichkeit umgehen können, behandeln Patienten einfühlsamer und erfolgreicher

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Medizinstudierende erleben in ihrer Ausbildung oft, wie Patienten entmenschlicht werden. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Empathiefähigkeit im Laufe der medizinischen Ausbildung abnimmt. Die Forschung zeigt: Gezielte Reflexion über persönliche Erfahrungen können helfen, diese Werte nachhaltig in die professionelle Identität zu integrieren.

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Die Sorge um schwindende Empathie ist nicht neu. Bereits im frühen 20. Jahrhundert beklagte Francis Peabody, damaliger Dekan der Harvard Medical School, dass im Spitalsbetrieb kaum noch Raum für persönliche Zuwendung zum Patienten bleibe. Seine Sorge würde sich heutzutage verstärken, wo die Zeit von Studenten und Ärzten durch elektronische Dokumentation mehr beansprucht wird denn je. William Oslers bekanntes Ideal „Der gute Arzt behandelt die Krankheit, der ausgezeichnete Arzt behandelt die Person, die unter der Krankheit leidet.“ scheint immer schwerer umsetzbar.

Wenn Überforderung zur emotionalen Distanz führt

Eine aktuelle Analyse des US-Mediziners Barry Meisenberg (Journal of General Internal Medicine, 2025) zeigt: Medizinstudierende verlieren nicht aus Gleichgültigkeit ihre Empathie, sondern weil sie sich an ein klinisches Umfeld und an eine Krankenhauskultur anpassen müssen, das Effizienz über Beziehung stellt.

Meisenberg zusammen mit anderen Autoren und Forscher vermutet, dass nicht nur Erschöpfung, sondern vor allem die erste, unbegleitete Konfrontation mit echtem Patientenleid Unsicherheit und Selbstzweifel bei Medizinstudierenden auslösen. Der Rückgang von Empathie könnte ein Schutzmechanismus sein, um sich emotional zu entlasten. Diese Unsicherheit gepaart mit Zeitdruck und Überforderung führt dazu, dass Patienten als „Fälle“ wahrgenommen werden, nicht als individuelle Menschen mit Geschichten. Nicht die Studierenden sind das Problem, die häufig aus altruistischen und humanistischen Beweggründen den Beruf des Arztes gewählt haben, sondern ein Ausbildungssystem, das sie mit emotional herausfordernden Situationen allein lässt.

Über persönliche Krisen nachdenken und sie als Stärke nutzen

Eine norwegische Studie der Universität Bergen, veröffentlicht in Advances in Health Sciences Education (2024), bringt einen innovativen Gegenansatz. Ziel der Studie ist es herauszufinden, wie Medizinstudierende durch das Schreiben über persönliche Erfahrungen ihre berufliche Identität entwickeln können. Erstsemestrige wurden eingeladen, persönliche Erlebnisse – etwa der Tod eines Elternteils, eine Essstörung oder Erfahrungen mit Mobbing – zu reflektieren und in Bezug zu ihrer zukünftigen ärztlichen Rolle zu setzen. Bei der sogenannten „Narrativen Methode“ geht es darum, stimmige Verbindungen zwischen ihrer persönlichen und ihrer ärztlichen Identität herzustellen. Die Auswertung von 68 Reflexionsessays zeigt: Wer sich mit der eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzt, entwickelt ein vertieftes Verständnis für das Leiden anderer und damit eine fundierte, authentische Empathie.

Drei essenzielle Lernprozesse wurden identifiziert: 1) Wiedererkennen von Verletzlichkeit im Patienten – Studierende verbanden eigene Erfahrungen mit jenen der Patienten. 2) Heilende Wirkung des Teilens – Viele schilderten das Schreiben als befreiend und bewusstseinsbildend. 3) Transformation von Schwäche zu Stärke – Persönliche Krisen wurden als Quelle für spätere berufliche Reife erkannt.

Ausbildungssystem müssen Studierende als ganze Menschen wahrnehmen

Die Studie kommentiert auch die bestehende Kultur in Ausbildungseinrichtungen: Es wird beobachtet, dass Ausbildungseinrichtungen häufig dem emotionalen Leben von Studierenden mit Desinteresse und Distanz begegnen. Dies führt dazu, dass diese eher dazu tendieren, ihre eigenen Emotionen als werdende Ärzte zu ignorieren und sie als irrelevant für ihre Arbeit zu erachten. Im Gegensatz dazu kann das Bewusstsein für die Bedeutung von Emotionen die Resilienz von Studierenden stärken und ihnen helfen, Leid, Trauer, Schmerz, Widerstandskraft und Heilung als mögliche Quellen von Stärke zu erkennen. Entscheidend ist, dass auch Studierende nicht bloß „funktionieren“ müssen, sondern als ganze Menschen mit Gefühlen und Biografie ernst genommen werden.

Studierende brauchen in emotional herausfordernden Situationen Führung

Zu diesem Ergebnis kommt eine weitere norwegische Studie (Advances in Health Sciences Education, 2023) die sich mit der Auswirkung emotional herausfordernder Situationen und der Bildung der professionellen Identität beschäftigt – insbesondere wenn diese Erfahrungen verarbeitet, reflektieret und in die ärztliche Rolle integriert werden.

Dazu wurden Interviews mit Medizinstudenten im letzten Ausbildungsjahr geführt und qualitativ analysiert. Die Auswertung zeigte: Emotionale herausfordernde Situationen sollten nicht vermieden werden. Wenn Studenten angemessene Führung in ihren Erfahrungen erhalten, können diese zur Quelle einer resilienten Identität werden, die sie durch ihr ganzes Berufsleben hindurch stärkt. Die Entwicklung einer ärztlichen Identität erfordert mehr als reines Fachwissen, sondern braucht eine tiefe Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Empathie braucht Zeit, Übung und Vorbilder

Die Forscher beider Studien, unterstreichen, dass es gezielte pädagogische Strukturen und einen sicheren Rahmen braucht, um solche Lernprozesse zu ermöglichen. Dazu braucht es Lehrpersonen, die Vorbilder sind, Zeiträume für Reflexion und ein Curriculum, das Beziehungskompetenz als Kern der ärztlichen Tätigkeit anerkennt. Wenn Studierende erleben, dass ihre Menschlichkeit keine Schwäche, sondern Stärke ist, werden sie auch Patienten mit dieser Haltung begegnen.

Messbare Erfolge durch empathische Betreuung

Dass Empathie mehr ist als eine schöne Tugend, belegt auch eine weitere US-Studie mit über 6.000 Arzt-Patienten-Kontakten bei Rückenschmerzpatienten (JAMA Network Open, 2024). Patienten, die sich empathisch begleitet fühlten, berichteten von signifikant besseren Behandlungsergebnissen. Gerade chronisch Kranke fühlen sich im Gesundheitswesen oft übersehen und stigmatisiert. (Bioethik aktuell, 21.09.2024)

Institut für Medizinische
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