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Der ethische Ruf der Pharmaindustrie

Prof. Dr. Enrique H. Prat
Stand: März 2008 (aktualisiert Februar 2020)

Die Pharmaindustrie (PhI) kämpft mit ihrem schlechten Ruf. Dieser lässt sich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Stakeholder des Gesundheitswesens – Patienten, Ärzte und verpflichtende Krankenversicherung –, d. h. der Bürger und der Gesundheitsinstitutionen zurückführen. Bei aller Verschiedenheit der Wahrnehmungen und Perspektiven stimmen die Stakeholder überein, dass Pharmafirmen die Maximierung des Gewinnes vor das Gemeinwohl stellen.  Die Konzerne sind sehr stark gewachsen, machen hohe Umsätze und werfen die höchste Dividende ab, während gleichzeitig die Preise der Medikamente und der Anteil der Medikamentenkosten an den Gesamtausgaben steigen.

Auf den ersten Blick ist der Arzneimittelmarkt ein ganz normaler Markt mit vielen Anbietern und schier unendlich vielen Abnehmern. Erst bei genauer Betrachtung der Nachfrageseite kommen die Besonderheiten dieses Marktes zum Vorschein. Eine erste Besonderheit ergibt sich aus der Tatsache, dass die Konsumentscheidungen bei Medikamenten vor allem von der Ärzteschaft getroffen werden. Alle rezeptpflichtigen und die meisten freiverkäuflichen Arzneimittel werden zuerst vom Arzt verordnet und dann vom Patienten direkt oder über das Krankenhaus gekauft. Deshalb ist der behandelnde Arzt der Adressat der Informations- und Werbestrategien – vor allem bei der Markteinführung von Arzneimitteln – und nicht der Produktverbraucher, wie in den meisten anderen Märkten.

Die Nachfrage wird aber nicht nur durch die Ärzteschaft gesteuert. Auch die Krankenversicherung mischt mehr oder weniger stark bei der Bildung der Nachfrage mit. Als ein zentral geführter Entscheidungsträger, der als zweiter Filter nach der staatlichen Gesundheitsbehörde Produkte auswählt oder ablehnt, übt sie einen mächtigen Einfluss auf den Markt aus. Je nach Land ist sie aber unterschiedlich organisiert. Mancherorts ist sie in viele Einzelinstitutionen dezentralisiert, die nur wenig Einfluss auf den Markt zu nehmen vermögen.

Die Pharmaindustrie steht im Spannungsfeld zwischen zwei Verantwortungsbereichen. Sie trägt zunächst Verantwortung gegenüber den Kapitalgebern, d. h. den Aktionären und den Kreditgebern. Dies ist allerdings bei jedem Industriezweig in der freien Marktwirtschaft der Fall. Weltweit steht fest: Ihren Pflichten gegenüber den Aktionären kommt die PhI bestens nach, da sie ungebrochen zu den Industriezweigen mit den höchsten Gewinnen zählt.

Die PhI trägt aber auch Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, indem sie eine Aufgabe von öffentlichem Interesse erfüllen, d. h. einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten soll.

Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Verantwortungsbereichen entstehen für die PhI fünf Problemfelder:

  1. die Versorgung mit Arzneimitteln,
  2. die Informationsvermittlung,
  3. die wissenschaftlichen Qualitätsstandards der Forschung,
  4. die Prioritäten in der Forschung und
  5. die Beziehungen der PhI zu den Gesundheitsbehörden.

Medikamente werden immer teurer. Die Kosten sind tatsächlich in den letzten Jahren weltweit gestiegen, was einer aggressiven Marketingstrategie zugeschrieben wird. Der Pharmamarkt versagt – so wurde oft behauptet – weil er kein offener Markt ist, in dem die Bedingungen der vollständigen Transparenz, Konkurrenz und Information annähernd gegeben sind. Diese sind notwendig, damit der Markt für eine optimale Verteilung der Produkte und für die gerechte Preisbildung sorgt.

In der Preispolitik muss eine Lösung gefunden werden – so die WHO –, damit auch die Bevölkerung der armen Länder lebensrettende Medikamente erhalten kann.

Die PhI versucht die Geltungsfristen der Patente von Arzneimitteln, welche sich gut verkaufen, zu verlängern. Dazu hat sie verschiedene Methoden entwickelt: Einführung von neuen Formulierungen der Patente, bevor die Generika zugelassen werden; eine zweite medizinische Verwendung für das Produkt wird patentiert, bevor die Patentfrist abläuft; Prozesse gegen eingeführte Generika, die deren Einführung um ein oder zwei Jahren verzögern, und Absprachen mit Generikaproduzenten, damit sie gewisse Produkte nicht führen. Außerdem kaufen Großkonzerne Generika ihrer eigenen Medikamente an und vertreiben sie über Tochterfirmen.

Die Medikamentenerzeugung generiert viele Daten. Nicht alle Daten werden weitergeleitet. Die der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Daten werden nach den ökonomischen Interessen der Unternehmen gefiltert. Zurecht wurde kritisiert, dass nur jene Daten weitergegeben werden, die der Vermarktung der Produkte dienlich sind. So hat der Skandal um das weltweit am meisten verkaufte Grippemittel Tamiflu die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und Pharmaindustrie stark erschüttert (vgl. IMABE 05/14).  Rund. 30% der vorgelegten Daten werden zur Zeit des Prüfungsverfahren veröffentlicht, 50% innerhalb der drauffolgenden 5 Jahre.

Die Allianz zwischen der industriellen und akademischen Forschung hat sicherlich zum größeren Fortschritt der Pharmakologie geführt. Diese Allianz birgt aber auch Gefahren in sich, die diesen Fortschritt real in Frage stellen können. Die größte Gefahr geht von der finanziellen Abhängigkeit aus, vor allem dadurch, dass für akademische Forscher laufend Interessenkonflikte entstehen können.

Die Produktinformation ist unzulänglich, weil sie nicht erlaubt, das Produkt mit anderen Produkten oder gegen nicht-medikamentöse Therapien zu vergleichen. Die verwendeten Slogans suggerieren oft Anwendungsmöglichkeiten, die nicht evidence-based gesichert sind.

Das Marketing kann zur Desinformation führen, wenn dadurch die Unabhängigkeit der Instanzen, die die Interessen der Patienten vertreten, durch verschiedene Praktiken (z. B. Ärztegeschenke) geschmälert wird. Das Thema Interessenskonflikte gewinnt seit Jahren eine immer größere Bedeutung. Inwieweit Honorare von Pharmafirmen das Verhalten von Ärzten beeinflussen, wird diskutiert. Die Betroffenen selbst weisen meist eine Einflussnahme von sich. Studien legen nahe, dass finanzielle oder materielle Zuwendungen von Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen Affinitäten begründen und damit auch die Therapieentscheidungen beeinflussen. Mit der Einführung des Transparenzkodex der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) im Jahr 2016 hat sich die pharmazeutische Industrie in ganz Europa freiwillig zur Offenlegung von geldwerten Leistungen an Angehörige der Gesundheitsberufe und Organisationen des Gesundheitswesens verpflichtet.

Die Hauptklage in der Öffentlichkeit heißt: Die Pharmaindustrie versuche die Sicherheitsstandards und die wissenschaftliche Qualität ihrer Forschung zu senken. Oft wurden Bedenken über den zunehmenden Druck der Industrie laut, der dazu führt, die Versuche schon so anzulegen, dass die erwarteten Ergebnisse begünstigt werden. Die zunehmende Entstehung von privatwirtschaftlichen Firmen (CRO, contract research organisations), die die Versuche kommerziell im Auftrag der PhI organisieren und kontrollieren, verstärke den Trend, aus Kostengründen die klinischen Versuche zumindest zum Teil in nicht-universitären Kliniken durchführen zu lassen. Die Sicherheitsstandards und die wissenschaftliche Qualität dieser Versuche leiden entsprechend darunter.

Da immer mehr Multicenter-Studien gemacht werden, gibt es einen zunehmenden Trend, die Studien zu zerstückeln, d. h. die Datenerhebung auf viele Zentren zu verteilen. Die Analyse und Interpretation der Daten falle den firmeneigenen oder von der Firma abhängigen Forschern zu, die die Ergebnisse zusammenführen.

Aus den Veröffentlichungen in renommierten Fachjournalen falle auf, dass die durch die PhI gesponserte Forschung nicht selten zu anderen Ergebnissen kommt als die öffentlich geförderte. Der Bias in den Ergebnissen bei den Studienarten spreche jedenfalls für unterschiedliche Standards, wenn nicht für Manipulation.

Diese Vorwürfe haben sicherlich ihre Berechtigung, dürfen aber nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Die Pharmaindustrie ist mindestens ebenso an hohen Qualitätsstandards interessiert wie die akademische Forschung.

Die PhI ist der bei weitem größte Sponsor der medizinischen Forschung, sie ist zugleich stark gewinnorientiert: Sie fördert vor allem das, was groß umgesetzt werden kann. Das Resultat ist, dass für 90% der Gesundheitsprobleme der Welt nur 10% der Ressourcen verwendet werden. Die unterdotierten Problemfelder sind jene der Dritten Welt.

Die Forschung und Entwicklung von Medikamenten für Tropenkrankheiten wäre sehr dringend, wird aber von der PhI kaum betrieben. Öffentliche Institutionen sponsern immer mehr Forschungsprogramme zur Entwicklung von Arzneimitteln für spezifische Krankheiten der Dritten Welt, um damit ein Gegengewicht zu den gewinnorientierten Prioritäten der PhI zu schaffen. Die Frage bleibt bislang unbeantwortet, ob die PhI selber nicht mehr zu diesem Bereich beitragen könnte.

Zur zumindest teilweisen Entlastung der PhI muss man auch anführen, dass sie sich nach betriebswirtschaftlichen Kriterien richten muss. Für das Gemeinwohl sind die öffentliche Hand und internationale Organisationen zuständig, die die Non-Profit-Forschung finanzieren sollten.

Noch immer gehört die Pharmabranche zu den Industrien mit den besten Renditen. Große ökonomische Interessen sind die Triebfeder des Managements der PhI. Ihre Interessen divergieren in vielerlei Hinsicht von jenen der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Um die Divergenzen zu regeln, haben die Regierungen eigene Behörden geschaffen. Die PhI versucht, ihre kommerziellen Interessen auch auf der politischen Ebene zu vertreten und zu verteidigen, und wird dadurch zu einem politischen Spieler, der in die Entscheidungen so viel Einfluss wie möglich zu nehmen versucht.

Die PhI hat in der Vergangenheit Lobbying-Strategien entwickelt, um die Behörden gewissermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Beispielsweise dringen sie durch die sogenannte Drehtüre ganz subtil in den harten Kern der Behörden ein: Beamte der Zulassungsbehörden beginnen ihre Karrieren in einer Pharmafirma, wechseln dann den Job zur Behörde und bekommen dann einige Jahre später wiederum eine hohe Stellung in der PhI.

Die Marktrücknahme etlicher Arzneimittel, nachdem Gesundheitsschäde festgestellt wurden, haben immer wieder großes öffentliches Aufsehen erregt. Selbst das NIH (National Institute of Health, USA) musste eine nicht unbedeutende Verflechtung mit der PhI zugegeben. Die Regelungen der Zusammenarbeit der Forscher des NIH mit der PhI waren offensichtlich ungenügend. Der Direktor kündigte daraufhin eine Neuregelung und eine Verschärfung der Kontrollen an.

Der Druck der PhI, Zulassungsverfahren zu verkürzen und zu vereinfachen, ist groß. Er war in Großbritannien in den 1980er-Jahren auch sehr erfolgreich. Parallele Bestrebungen gab es in den USA. In Europa ist durch die Einführung der gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen ein starker Druck auf die nationalen Behörden entstanden, die Verfahren zu erleichtern.

Die PhI ist dringend beraten, dieses Problemfeld zu beachten, weil sie immer wieder den Verlockungen zum Missbrauch erliegt. Und auch wenn es nur Einzelfälle sind, schaden sie dem Ruf der ganzen Branche.

1) Misstrauen der Patienten: Die Beziehung der Konsumenten (Patienten) zu den Arzneimitteln ist ambivalent. Der normale Patient nimmt das Arzneimittel in der Regel nicht aus Lust ein, sondern weil er krank ist und gesundwerden will, letztlich aber immer aus Angst davor, mehr zu leiden oder gar zu sterben, wenn er es nicht tut. Er muss es also tun, obwohl er es eigentlich nicht will. Das Präparat wird er niemals wie ein Konsumgut lieben, etwa wie ein Auto, eine Füllfeder oder eine Speise. Außerdem spielt die Pharmafirma für den Patienten kaum eine positive Rolle. Im Gegenteil:  Dem Patienten wird bald bewusst, dass er von der PhI abhängig ist. Doch da kommen keine Dankbarkeitsgefühle auf, denn in seinen Augen profitiert die PhI nur von seiner Not und seinen Ängsten. Die Medikamente, die er einnimmt, bringen dem Kapitalmarkt mehr Rendite als jedes andere Industrieprodukt. Es gibt also viele Menschen, die sich an seinem Unglück bereichern.

2) Die Zusammenarbeit PhI und Arzt ist problematisch.

Die PhI braucht das Vertrauen des Arztes. An ihn richtet sie ihr Angebot, ihn informiert sie, und ihn versucht sie von den Vorteilen ihrer Produkte zu überzeugen. Das Thema Interessenskonflikte gewinnt seit Jahren eine immer größere Bedeutung. Inwieweit Honorare von Pharmafirmen das Verhalten von Ärzten beeinflussen, wird diskutiert. Die Betroffenen selbst weisen meist eine Einflussnahme von sich. Studien legen nahe, dass finanzielle oder materielle Zuwendungen von Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen Affinitäten begründen und damit auch die Therapieentscheidungen beeinflussen. Ärzte können sich durch die Angebote der Pharmaindustrie verlocken lassen und/oder mitunter ihre starke Position ausnützen. Macht die PhI nicht mit, kann sich der Arzt an die Konkurrenz wenden, macht sie aber mit, dann bestätigt und bekräftigt sie ihren schlechten Ruf. Die PhI steckt also in einem Dilemma, dem sie nicht entfliehen kann, wenn sie die Gunst der Ärzte durch zweifelhafte Mittel zu gewinnen versucht.

3) Laufende negative Berichte der Medien: Was die Medien meistens interessiert, sind die Flops und Pannen, diese werden breitgetreten. Massenmedien berichten aber auch über Konflikte der PhI mit den staatlichen Zulassungsbehörden und mit den Krankenkassen. Der Bürger soll mitbekommen, dass der Staat die PhI mit seinen Zulassungsvorschriften schikaniert und die Kassen die Preise ständig unter die Wirtschaftlichkeitsgrenze zu drücken suchen. Sehr glaubwürdig ist diese Darstellung aber nicht.

Es ist eine Tatsache, dass das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber der Pharmaindustrie immer größer wird. Dies könnte daran liegen, dass die PhI es bisher nicht für notwendig erachtete und verabsäumt hat, für sich selbst positive ethische Imagepflege zu betreiben.

Ein Teil der Kritik an der PhI basiert auf Verdächtigungen, die bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind. Zugleich ist die PhI aber nicht gewillt, im Interesse der Transparenz Untersuchungen zuzulassen, die zur endgültigen Entkräftung dieser Vorwürfe führen könnten.

Andere geprüfte Vorwürfe an der PhI – in allen untersuchen fünf Feldern – haben sicherlich einen Realitätsbezug und zeigen auf, dass die Pharmaindustrie mit ethischen Problemen konfrontiert ist.

Obwohl die PhI ethisch sicher etwas besser als ihr Ruf ist, wäre sie gut beraten, diese fünf ethischen Problemfelder stets im Auge zu behalten, und eventuell im Zusammenwirken mit firmenexternen Ethikexperten problematische Situationen zu beleuchten und Lösungen anzustreben. Dies wäre schon deshalb so wichtig, weil laufend neue Situationen entstehen, die einer neuen ethischen Reflexion bedürfen.

Braucht die PhI einen guten Ruf? Ja, das tut sie. Wären allerdings die Renditen das einzige Kriterium, dann würde die Antwort lauten: nicht wirklich. Der Arzneimittelumsatz ist ungebrochen hoch, unabhängig vom guten Ruf. Dies gilt aber nur solange die Industrie besser als ihr Ruf ist. Sollte sie einmal ihren schlechten Ruf verdienen, oder gar ethisch schlechter agieren als ihr Ruf, dann wäre sie in großer Gefahr, wie die Geschichte gezeigt hat.

Die Branche sollte aber daraus lernen. Sie scheint sich davon zu überzeugen, dass es zwar möglich ist, Gewinne auf Kosten der Ethik zu machen. Die solchermaßen eingehandelten Gewinne sind aber immer nur kurzfristige, weil sie sich mittelfristig in Belastungen umwandeln und zu großen finanzielle Einbrüchen führen können. Die PhI weiß auch, dass sie nur so lange marktwirtschaftlich operieren kann, wie sie um jene Verantwortung bemüht ist, die der Respekt vor den Nöten der Menschen erfordert, denen sie dienen soll. Sie weiß nur zu gut, dass durch Verfehlungen einzelner Firmen staatlicher Handlungsbedarf entsteht, was zu Eingriffen in den markwirtschaftlichen Freiraum führen würde. Ethik-Kodices sind Teil der Schutzstrategie der Interessen des Kapitals. Sie sind in erster Linie Mahnmale für die Firmen der Branche selbst, um sich an das Damoklesschwert rigider Regulierungen zu erinnern. Mit einem Wort: Die PhI tut gut daran, glaubhaft daran zu arbeiten, ihr Image zu verbessern – im eigenen Interesse und im Interesse aller.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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