Editorial

Imago Hominis (2010); 17: 91-93
Susanne Kummer

Digitale Medien haben die wohl größte Kommunikationsrevolution der Menschheitsgeschichte in Gang gesetzt. Der Computer ist aus Büros, privaten Haushalten und Universitäten, kurz: aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dem kulturellen Wandel des Informationszeitalters, seiner Datenflut und ständigen Aufforderung zu Aktion und Re-Aktion kann man sich als Bürger des 21. Jahrhunderts kaum mehr entziehen. Er verändert unser Denken, die Art des Arbeitens und das Verhältnis zum Mitmenschen. Auch die Medizin steht durch den Einsatz und die Nutzung digitaler Informationstechnologien mitten im Umbruch. Betroffen sind längst nicht mehr nur Wissenschaft und Forschung, sondern auch der medizinische Alltag im Krankenhaus und in der Ordination.

Am Einsatz der elektronischen Kommunikationsmittel führt kein Weg vorbei. Dazu ist der praktische und potentielle Nutzen in der medizinischen Versorgung zu groß. Allerdings wird es nicht genügen, die neuen Möglichkeiten, Information zu sammeln und zu speichern, per se als Verbesserungsmotor von Qualität anzupreisen. Denn der flächendeckende Einsatz dieser Technik eröffnet zugleich viele Fragen, die alles andere als gelöst scheinen.

Welchen Einfluss haben die Informationsmedien auf die individuelle und kollektive Kultur des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit? Wie verändert sich die Arzt-Patienten-Beziehung durch das Aufkommen des „Internet-Doktors“? Steigen durch höheren Datenfluss und Abspeicherung die Qualität der Information und damit der therapeutische Nutzen für den einzelnen Patienten? Wie steht es mit dem Datenschutz?

Die traditionelle Arzt-Patienten-Beziehung als eine persönliche, auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Beziehung ist durch Konsumkultur (Wunschmedizin) und Rationalisierung bereits angeknackst. Die elektronische Kommunikation bedeutet eine neue Herausforderung. Dr. Computer hat längst Einzug gehalten. Nicht nur als „Google-Doktor“, den Patienten zu Rate ziehen, um dann beim ersten Arztbesuch bereits mit einer frisch ausgedruckten Diagnose in der Hand zu erscheinen. Dr. Computer ist auch als Bildschirm präsent, hinter dem der behandelnde Arzt verschwindet, um nicht den Überblick über die Datenfülle am Bildschirm zu verlieren, diese upzudaten, seinem Patienten aber nicht mehr ins Gesicht schaut, geschweige denn ihn anrührt. Damit werden in der Medizin 2.0 notwendige emotionale Komponenten der Beziehung vernachlässigt. Die Gefahr, dass die Krankenakte wichtiger wird als der Kranke, ist schon jetzt Realität: „Wir müssen es schaffen, dass die Technologie für uns arbeitet, statt dass wir für sie arbeiten“, schrieb das New England Journal of Medicine bereits 2008 mit Blick auf den wachsenden Computergebrauch in der Medizin.

Gefahren sind nicht an sich unüberwindbare Hindernisse. Die Frage, was Kommunikation ist und welchen Wert „Information“ hat, wird sich auch in der Medizin neu stellen. Ärzten und auch Patienten wird dieser Wandel ein neues Ethos abverlangen, um die ethischen Fragen, die durch das Informationszeitalter aufgeworfen werden, zu lösen.

Diesem Thema widmen sich in diesem Heft renommierte Autoren, darunter der Mediziner und Ethiker Stephan Sahm (Ketteler-Krankenhaus Offenbach/D). Er untersucht das durch den „Internet-Doktor“ veränderte Arzt-Patienten-Verhältnis. Vertrauen sei die Voraussetzung jeder gelingenden Beziehung von Patient und Arzt. Die Verpflichtung und die Fähigkeit, eine Diagnose stellen zu können/zu müssen, gründe in der Erfahrung des anderen und seines Leidens – eine Aufgabe, die kaum per Mausklick erfüllt werden könne. Im Blick auf die (vorschnelle) Verbreitung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse fordert Sahm ein „Prinzip der Verlangsamung“. Neues dürfe erst nach eingehender wissenschaftlicher Diskussion und Prüfung empfohlen werden.

Der Philosoph und Informationsethiker Rafael Capurro (dzt. University of Wisconsin-Milwaukee) analysiert den Wandel zur Medizin 2.0 u. a. anhand der Begriffe Informationsüberflutung, Interaktivität, Selbstdarstellung. Er analysiert das neue Verständnis des menschlichen Leibes aus digitaler Perspektive als ein Paket digital einsehbarer, durch digitale Methoden, Instrumente und/oder Netze manipulier- und steuerbarer Daten.

Die Einnahme mehrerer Arzneimittel führt oftmals zu unerwünschten und sogar gefährlichen Nebenwirkungen. Kann die die elektronische Überwachung von Arzneiverordnungen das Problem der Wechselwirkung von Medikamenten verhindern? Einerseits ja, sagt der klinische Pharmakologe Eckhard Beubler (Medizinische Universität Graz), wenn es um das Verhindern von Doppelverschreibungen geht, ein Problem, das durch die Schwemme von Generika neue Dimensionen angenommen hat. Zurückhaltend ist Beubler andererseits angesichts der Wechselwirkungen bei älteren Medikamenten. Deren Informationsinhalte würden in den elektronischen Karteien kaum regelmäßig ergänzt, hier blieben Lücken im System.

Die Einführung der Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) wird in Österreich sehr kontroversiell diskutiert. Lukas Stärker (Österreichische Ärztekammer) zeigt auf, warum trotz kostenaufwändiger Analysen und Studien ELGA noch immer auf keinem soliden Fundament steht und legt dar, welche Fragen noch offen sind.

Wenn das Thema Datenschutz im Rahmen von E-Health Projekten nicht erfolgreich gelöst wird, würde das Projekt seine Akzeptanz verlieren und hätte nur geringe Chancen auf eine erfolgreiche Umsetzung – zu Recht, wie der Datenschutzexperte Klaus Schindelwig (TILAK, Innsbruck) betont. Er fordert unter anderem ein Recht des Patienten auf „elektronisches Vergessen“, also das Löschen nicht mehr relevanter medizinischer Daten.

S. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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