Editorial

Imago Hominis (1999); 6(3): 181-182

In unserem letzten Heft wurde behauptet, daß die Euthanasiefrage eine große Herausforderung an unsere Gesellschaft stellt. Jetzt kann man zudem unterstreichen, daß sie eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen und ethischen Diskussionen rund um die Jahrtausendwende sein wird. Als Vorboten kamen in den letzten Monaten aus Europa zwei wichtige politische Signale mit jeweils gegensätzlichen Vorzeichen. Das positive Signal kam aus dem Europarat: Durch verschiedene Vorgänge in europäischen Ländern veranlaßt, wurde ein Papier verabschiedet, das sich mit dem Schutz der Rechte und der Würde von Kranken und Sterbenden beschäftigt. Die Abgeordneten aus 41 Mitgliedstaaten haben eine „Empfehlung“ herausgegeben, die ihrerseits dem Ministerrat vorgelegt wird. An die Vorlage angeschlossen ist die Bitte an alle Regierenden, die Empfehlungen durch nationale Gesetzgebungen „das Recht auf Leben, insbesondere der unheilbar Kranken und Sterbenden“ zu garantieren. Daher fordern die Abgeordneten alle Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu auf, am Verbot der absichtlichen Tötung von unheilbar Kranken und Sterbenden festzuhalten. Das Dokument, das, wie gesagt, über den Stellenwert einer Empfehlung nicht hinausgeht, ist dennoch beachtenswert. Das Signal mit dem negativen Vorzeichen kam aus Holland. Im August hat die Ministerin für Gesundheit, Elsa Borst, dem niederländischen Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der „endlich“ die faktische Straffreiheit der Euthanasie legalisiert und sogar erweitert, denn Kinder ab zwölf Jahren können sich nun entgegen der Meinung eines Elternteiles für Euthanasie entscheiden, wenn der Arzt die Situation für ausweglos erklärt. Vielleicht wird der Entwurf vom Parlament etwas „gemildert“, im großen und ganzen scheint es aber beschlossene Sache zu sein. Die Tatsache, daß die an Holland angrenzenden deutschen Spitäler von einer deutlichen Zunahme von Patienten mit fortgeschrittenem Alter berichten, hat wenig beeindruckt. Damit wird bedauerlicherweise noch in diesem Jahrtausend ein weiterer Damm gebrochen.

Die Praxis in Holland und Oregon und die regelmäßig wiederkehrenden Propagandawellen für die Straffreiheit der Euthanasie und Beihilfe zum Selbstmord sind in der Gesellschaft des heutigen Europas keine periphere Randerscheinung mehr. Die Publikationen zum Thema, in vielen Fällen mit „guten Argumenten" für eine Rechtfertigung der Euthanasie, werden immer zahlreicher, obwohl die reiterative Argumentation kaum Neues bringt. Um so bedeutungsvoller ist nun die vorliegende Empfehlung, die, wie bereits erwähnt, neben dem ausdrücklichen Verbot der Tötung von Sterbenden, eine ganze Reihe von Empfehlungen abgibt, die quasi als Gegenmaßnahmen ergriffen werden sollten.

Unserem Institut ist es gelungen, eine Deklaration „Menschenwürdiges Sterben" herauszugeben, die fünfzig angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen und politischen Lebens unterzeichnet haben. Diese Deklaration, die wir in diesem Heft veröffentlichen, zeigt, daß in Österreich der Konsens noch groß ist, es gilt aber, ihn zu stärken.

Die Tatsache, daß ein Kranker um den Tod bittet, kann und darf niemals und für niemanden die Legitimation für eine Tötungshandlung sein. Ganz im Gegenteil: Die Gesellschaft muß unter Einsatz aller Mittel darüber wachen, daß die Würde des Menschen, gerade im letzten Abschnitt seines Lebens voll respektiert und geachtet wird. Diese Vorgabe wird nicht leicht zu verwirklichen sein. Die Würde des unheilbar Kranken und Sterbenden scheint von vielen Seiten her bedroht: durch fehlende physische, psychische und geistliche Betreuung, weil der soziale Rahmen des Familienverbandes versagt; durch künstliche Leidens- und Sterbeverlängerung durch therapeutischen Übereifer in der modernen Apparatemedizin; und durch unnütze Behandlungen gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten. Unter solchen Bedingungen kann es leicht geschehen, daß der Mensch Angst bekommt, den anderen zur Last zu fallen oder befürchtet, keine Möglichkeit zur Selbstkontrolle mehr zu besitzen. Um derartige Mißstände zu verhindern, muß die Palliativmedizin gefördert werden.

Jeder Staat sollte also die erforderlichen familienpolitischen und gesundheitspolitischen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, daß alle Menschen in voller Wahrung ihrer Würde dem Ende ihres Lebens entgegengehen können. Es wird beispielsweise die Förderung der Integrierung der Familienmitglieder in die Betreuung solcher Patienten, die Schaffung von Palliativstationen in allen größeren Krankenhäusern oder die Aufnahme des Faches „Palliativmedizin" in alle einschlägigen Bildungspläne verlangt.

Von der Hellhörigkeit unserer Politiker und Entscheidungsträger im Familien- und Gesundheitswesen wird es nun abhängen, ob sie die Empfehlungen aufgreifen und die keimhaften Anfänge (Hospizbewegungen, Förderung der Palliativmedizin etc.) ausbauen und weiterentwickeln. Die fordernden Rufe nach Euthanasie werden nur auf diesem Wege wieder in den Hintergrund zurücktreten, wenn nämlich die Gesellschaft dem alten und kranken Menschen glaubhaft zeigen kann, daß sie ihn nicht verworfen hat, sondern bereit ist, ihn bis zum Ende loyal zu begleiten. Und das sollte für eine Gesellschaft keine Frage sein!

In diesem Heft befinden sich direkt zum Thema Euthanasie ein Beitrag von B. Wurmeling über die Kunst des Entlassens, das vom Arzt gelernt werden soll, und ein Beitrag von L. Juza zur ethischen Bewertung des Selbstmordes. Bei der Vorbereitung der Deklaration „Menschenwürdig Sterben“ haben manche Euthansiegegner gefordert, daß aber das Recht auf Selbsttötung im Dokument verankert werden sollte. Dies ist leider eine weitverbreitete, kurzsichtige Auffassung. Wer gegen Euthanasie ist, kommt zwangsläufig in Argumentationsnotstand, wenn er in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen die Selbsttötung miteinschließen will. Wer sich dafür ausspricht, unter bestimmten Umständen das Recht auf Selbsttötung zu beanspruchen, wird sich schwer tun, jemandem, der in derselben Lage ist, sich selbst nicht mehr töten zu können, seine Beihilfe zum Selbstmord zu verweigern. Jemandem in einer solchen Situation nicht zu „helfen" wird zum Verstoß gegen Mitleid und Nächstenliebe angesehen. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie, die die Frage des Selbstmordes ausklammert, wäre unvollständig.

In diesem Heft findet sich auch ein Ansatz für ein neues Paradigma in der Medizin: SOM – „Sinnorientierte Medizin“. Im Institut haben wir in den letzten Monaten dieses Konzept entwickelt und bei verschiedenen Symposien vorgestellt. Da wir auf zahlreiche Zustimmung und Ermunterung gestoßen sind, haben wir vor, auch in der nächsten Zeit intensiv daran weiter zu arbeiten.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
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