Editorial

Imago Hominis (2011); 18(3): 155-157
Johannes Bonelli

Die Erkenntnis, dass durch eine gesunde und vernünftige Lebensführung die Lebenserwartung erhöht und dem Auftreten bestimmter Krankheiten vorgebeugt werden kann, ist seit langem bekannt. Wie allerdings diese ziemlich simple Erkenntnis umgesetzt werden kann, bereitet seit jeher Ärzten, Soziologen, Gesundheitsökonomen und Politikern Kopfzerbrechen.

Tatsache ist, dass die Motivation zur Führung eines vernünftigen und verantwortungsvollen Lebensstils  vielen Menschen große Schwierigkeiten bereitet und kaum Gehör findet. Anscheinend wird dieses Problem in den Köpfen der Menschen so behandelt wie beim Lotteriespiel, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Jeder glaubt derjenige zu sein, den es nicht treffen wird, und wenn es dann doch passiert, fällt er aus allen Wolken.

Dazu kommt, dass die Effektivität einer Lebensstiländerung im Vergleich zu einer medikamentösen Therapie weit unterschätzt wird, was wohl auch mit der Tendenz des Menschen zur Bequemlichkeit zusammenhängen dürfte. Patienten schlucken viel lieber eine Pille, als dass sie sich dazu aufraffen, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern.

Diese Mentalität wird freilich auch durch die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, Ärzte und Wissenschaftler nicht unerheblich gefördert. Nicht nur in der Werbung der Pharmaindustrie, sondern in fast allen einschlägigen Publikationen wird dem Patienten suggeriert, dass durch die Einnahme von Medikamenten Herzinfarkt, Schlaganfälle ja selbst der Tod „verhindert“ werden können. In Wirklichkeit kann durch eine medikamentöse Therapie nur eine relativ geringe Verschiebung des Todeszeitpunktes bzw. des Auftretens eines Ereignisses erreicht werden, während im Vergleich dazu eine gesunde Lebensführung weitaus effektiver ist. So kann durch Rauchverzicht die Lebenserwartung um ca. acht Jahre verlängert werden; körperliches Training bringt bis zu sechs Jahre, die Einhaltung des Normalgewichtes zweieinhalb und eine gesunde Ernährung weitere zwei Jahre. Insgesamt können durch eine gesunde Lebensführung 15 bis 20 Lebensjahre gewonnen werden, während man durch eine primäre Prävention mit Medikamenten bestenfalls ein bis zwei Jahre dazugewinnen kann.

Die Frage ist also, wie dieses Problem angepackt werden soll. Die einen empfehlen eine Art Schocktherapie, indem sie dem Patienten die negativen Folgen ihrer Lebensweise drastisch vor Augen führen, andere schwören auf eine umfassende Aufklärung, die dritten appellieren an die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein der Menschen, wieder andere meinen, man müsse das soziale Umfeld beeinflussen, und Pessimisten sind überzeugt, dass das alles nicht hilft, sondern dass der Mensch zu seinem Glück gezwungen werden muss, und empfehlen eine Art Bonus/Malus-System, bei dem die „Guten“ eine Prämie bekommen und die „Bösen“ zur Kasse gebeten werden sollen.

IMABE griff diese und weitere Fragen im Rahmen eines Symposiums zum Thema „Lebenssstil und persönliche Verantwortung“ auf, das am 12./13. Mai 2011 in Wien in Zusammenarbeit mit dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger sowie der Österreichischen Ärztekammer stattfand. In der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis findet sich nun eine in Hinblick auf die Publikation erstellte Auswahl der Vorträge, in denen schwerpunktmäßig die Fragen des Zusammenhangs von Lebensstil und Krankheit sowie Prävention und Ethik, Ökonomie und Politik behandelt werden.

Der Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt (Universität Lübeck) beschreibt den geschichtlichen Wandel der Rechte, Pflichten und Tugenden im Umgang mit Gesundheit und Krankheit und hinterfragt den gängigen Gesundheitsbegriff. Dazu komme heute im Gegensatz etwa zur Antike das Bild, wonach der Arzt Pflichten erfüllen muss, der Kranke aber vor allem Rechte besitzt, ein Schema, das Engelhardt kritisch hinterfragt und dem er Konzepte der Tugendethik sowie einer erneuerten Kultur der Arzt-Patienten-Beziehung entgegensetzt.

Sollte man Sanktionen bei ungesundem Lebensstil androhen? Der Medizinethiker Giovanni Maio (Universität Freiburg) lehnt dies ab und warnt vor einer Moralisierung von Krankheit. In einem Zeitalter, das geradezu ausschließlich auf Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie setzt, wird nach Maio allzu leicht vergessen, dass Krankheiten nach wie vor nicht einfach logische Resultate von Fehlverhalten sind, sondern dass sie vielfältige Wurzeln haben, die nicht einfach kausalanalytisch berechenbar gemacht werden können – und damit den Kranken als „selbst schuld“ an seinem Zustand beurteilen. Dies käme einer Entsolidarisierung mit den Kranken gleich. Die ethische Herausforderung im Präventionszeitalter liege darin, dass die moderne Gesellschaft nicht gnadenlos mit Kranken umgeht, sondern ihnen zusichert, alle Unterstützung zu gewähren. Diese sei wesentlicher Bestandteil einer Prävention mit humanem Antlitz.

Wie lässt sich risikoreiches Gesundheitsverhalten reduzieren? Lebensstile werden nicht unbedingt rational gewählt, hält der Ethiker Enrique Prat (IMABE, Wien) fest. Weder Gewalt noch Zwang und/oder Druck von oben werden jemals effiziente Methoden zur Änderung des persönlichen Lebensstils sein. Prävention muss frei gewählt werden. Prat plädiert daher für eine Kultivierung der menschlichen Tugenden. Insbesondere die Tugend der Weisheit vermittelt demjenigen, der über sie verfügt, die Kompetenz, Werte und Pflichten als solche in ihrem vollen Umfang wahrzunehmen.

Der Soziologe Manfred Prisching (Universität Graz) analysiert Tendenzen wie Individualisierung, Vergemeinschaftung, Sensationalisierung und Konsumismus kritisch und diskutiert sie unter dem Gesichtspunkt des „guten Lebens“. Dabei beschreibt er die Schwierigkeiten zur Identitätsfindung der heutigen Jugend und deren widersprüchliche Neigung zu Konformität im Rahmen der Vielfalt schier unendlicher Möglichkeiten sowie mit Optionen zu deren positiver Bewältigung.

Österreich ist neben Deutschland eines der wenigen Länder, die noch am System einer solidarischen Finanzierung des Gesundheitssystems festhalten. Wie gerecht ist diese solidarische Finanzierung? Gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen solidarischer Finanzierung, Versorgungs- und Gesundheitsgerechtigkeit? Der Sozialmediziner R. Horst Noack (Universität Graz) geht diesen beiden Fragen am Beispiel Österreichs und Deutschlands auf Basis der verfügbaren Daten und der historischen Erkenntnisse nach – und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Der Evaluationsforscher Wolf Kirschner (Consulting, Berlin) setzt sich mit der Problematik der Effektivität von Kampagnen zur Primärprävention auseinander. Er stellt dabei exemplarisch fünf evaluierte Primärinterventionen vor und analysiert deren Wirksamkeit bzw. Gründe für deren Nichtwirksamkeit.

Public-Health-Forscher Thomas Czypionka (IHS, Wien) setzt sich in seinem Beitrag über die Prävention aus volkswirtschaftlicher Sicht mit der erstaunlich geringen Nachfrage und Compliance bei präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen in der Bevölkerung auseinander und versucht in einem zweiten Teil die Schwierigkeiten einer Kosten-Nutzenbewertung und deren Einflussfaktoren aufzuzeigen.

J. Bonelli

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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