Editorial

Imago Hominis (1998); 5(4): 233-234

Für nicht wenige Ärzte ist kaum verständlich, daß sich in den letzten Jahrzehnten die Arzt-Patient-Beziehung erheblich geändert hat. Sie ist wesentlich komplexer geworden. Die allgemein zunehmende Verwicklung in Haftungsprobleme spricht allerdings eine eindeutige Sprache. Viele empfinden die neue Situation als ungerecht und sogar entwürdigend. Sie fragen sich verwundert: Ist das ärztliche Ethos so abgesunken, daß es gerechtfertigt ist, die ärztliche Arbeit unter derartige Kontrollen und Drohungen zu stellen? Oder ist es nur der Vormarsch der Apparatemedizin, die zwischen Arzt und Patient den Keil der technischen, unpersönlichen Abläufe eingezwängt und damit die Notwendigkeit geschaffen hat, betrieblich übliche Qualitätskontrollen und die entsprechenden Pönalen einzuführen? Hat man dabei nicht die Selbständigkeit und Mündigkeit der Patienten überzogen und die des Arztes so stark eingeschränkt, daß der Heilauftrag de facto behindert wird? Gehen wir nicht in die Richtung einer Medizin als Selbstbedienungsladen?

Wie auch immer diese Fragen beantwortet werden, die Autonomie des Arztes und des Patienten entwickelt sich immer mehr in zwei entgegengesetzte Pole, die in der Arzt-Patient-Beziehung ein Spannungsverhältnis erzeugen.

Seit mehr als 200 Jahren erleben wir eine zunehmende Gewichtung der Autonomie des Individuums, allerdings nicht ohne wesentliche Akzentverschiebung. I.Kant, der Erstformulierer des Begriffes der Privatautonomie (im Gegensatz zum antiken, primär politischen Begriff der Autonomie als Selbstgesetzgebung), würde das gängige Autonomieverständnis unserer Tage nicht wiedererkennen. Für ihn lag die Autonomie der praktischen Vernunft darin, daß sie den menschlichen Willen durch ihr Gesetz – das Sittengesetz – dazu verpflichtet, dem unbedingt Gesollten den Vorrang vor dem naturwüchsigen Gewollten zuzuerkennen. Er sah darin „den Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Kreatur“. Diese Autonomievorstellung hat nur mehr wenig mit jenen Postulaten gemein, die in der gegenwärtigen bioethisch-rechtlichen Diskussion vom selben Begriff abgeleitet werden. Autonomie wird hinlänglich als uneingeschränkte Wahlfreiheit verstanden, als die Möglichkeit, unter allen Optionen wählen zu können. Die Entscheidung soll ohne Beeinflussung innerer oder äußerer Zwänge zustande kommen. Die Wahl des Patienten steht daher über allem. Das geht so weit, daß die Willensfreiheit auch über andere Güter, wie beispielsweise fremdes oder eigenes Leben gestellt wird. Zwei Beispiele aus der Alltagsdiskussion bringen die Sache auf den Punkt: Eine Frau, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage fühlt, ihrer Mutterschaft zuzustimmen, habe das Recht, ihr Kind abtreiben zu lassen. Niemand dürfe sie dieser Möglichkeit berauben. Oder ein Kranker, der sein Leiden nicht weiter ertragen möchte, müsse Anspruch auf eine Tötungsspritze haben, wenn er die Suizidhandlung nicht selbständig durchführen will oder kann. Freilich müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: das Leiden muß unheilbar sein, die Bitte müsse mehrmals und freiwillig ausgesprochen worden sein, es darf keine Alternativbehandlung mehr unausgeschöpft bleiben. Werden aber alle Voraussetzungen erfüllt, dann habe der Arzt keine andere Wahl, als diesem Wunsch des Patienten nachzukommen, weil es sein freier Wille ist! In ihrem Gewissen habe die Frau im ersten Beispiel oder der unheilbar Kranke im anderen Beispiel entschieden, und keine Instanz stehe mehr darüber.

Es mag Ärzte geben, die sich von derartigen Erwägungen überzeugen lassen, die Mehrheit allerdings hat Schwierigkeiten, das zu verstehen. Auch der Arzt, als Mensch, verfügt über Autonomie, und er hat ein Gewissen. Auch er muß darauf achten, was ihm sein Innerstes zu handeln aufträgt. Was tun, wenn sich seine Entscheidung mit der des Patienten nicht deckt? Denn für den Arzt kann es sein, daß in seiner Werteskala das Leben über jenem des freien Patientenwillens steht, zumal er ja durch seinen Beruf einen genau definierten Handlungsauftrag hat, nämlich zu heilen oder zu lindern; keinesfalls jedoch zu töten. Abtreibung oder Beihilfe zum Selbstmord ist für viele Ärzte unethisch und mit ihrem Gewissen unvereinbar, selbst dann, wenn Patienten ausdrücklich darum bitten. Konflikte scheinen vorprogrammiert. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der letzten Jahrhunderte bestätigt die Tatsache, daß die Hervorhebung der Autonomie (ohne ihre Berechtigung in Abrede zu stellen) auch nicht in der Lage war, den Menschen insgesamt zu einem friedlicheren Zusammenleben zu verhelfen.

Die Lösung der Frage, wie einerseits wirksam die legitime Patientenautonomie geschützt und andererseits ein unethisches Vorgehen verhindert werden kann, muß zum Neu-Überdenken menschlichen Verhaltens führen. Es ist eine Tatsache, daß die Freiheit den Menschen zu einem sittlichen Subjekt macht. Erst wenn er bewußt handelt, können diese Taten bewertet werden. Ohne Freiheit gibt es weder gut noch böse, oder Verantwortlichkeit. Allein die Tatsache der Freiheit einer Handlung sagt noch nichts über ihre Sittlichkeit aus. Objekt, Absicht und Ziel und die konkreten Begleitumstände müssen ins Treffen geführt werden, um eine moralische Wertung vornehmen zu können. Die Autonomie des Individuums ist auf die Sittlichkeit ausgerichtet. Den Rahmen der Sittlichkeit anzuerkennen und ihn sich zu eigen zu machen stellte für Kant, wie oben angeführt, die große Leistung der Vernunft dar. Wer die Patientenautonomie als Synonym für Willkür gebraucht, leistet ihr einen schlechten Dienst. Er führt den Menschen in neue Abhängigkeiten und verhindert damit letztlich die wahre Ausübung der Freiheit.

Als Motto für unsere letzte Ausgabe dieses Jahres haben wir die Autonomie des Patienten einerseits, aber auch die des Arztes andererseits gewählt. Im Schwerpunkt sollen einige Aspekte in diesem Zusammenhang zur Sprache kommen: Der Patientenautonomie müsse eine Ethik der Fürsorge entgegenstehen, so erläutert G. Pöltner in seinem Beitrag, die Person in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellend findet L. Juza Antwort auf die bestehende Probleme in der Arzt-Patient-Beziehung, und M.Memmer bringt von juristischer Seite interessante Überlegungen zur Stellvertretung in Gesundheitsangelegenheiten. Der Focus steht ganz im Zeichen der Autonomie-Begriffsklärung. Richtig verstanden kommt es kaum mehr zu wirklichen Reibungspunkten.

Mit diesem Jahr können wir bereits ein bescheidenes Jubiläum feiern: Imago Hominis gibt es schon seit 5 Jahren, insgesamt 20 Hefte zu den unterschiedlichsten bioethischen Themen sind erscheinen. Es ist nur billig und recht, daß wir uns an dieser Stelle für die zahlreichen Mitarbeiter bedanken, die stets mit Rat und Tat zur Seite standen. Ein  herzliches Danke gilt aber auch den Lesern, und all jenen, die uns mit Aufmunterung oder auch Kritik zum Weitermachen motiviert haben. Zum bevorstehenden Weihnachtsfest die besten Wünsche, und halten Sie uns auch im nächsten Jahr die Treue!

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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