Bioethik Aktuell

COVID-19: Ein (zu) schneller Impfstoff wirft viele ethische Fragen auf

Zulassungen müssen kontrolliert geschehen, Skepsis bei freiwilliger Infektion

Lesezeit: 04:01 Minuten

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COVID-19 ist derzeit in der Forschung weltweit Thema Nummer 1. Die Hoffnungen sind hochgeschraubt, auch in der Politik, weil die Aussicht besteht, mithilfe einer wirksamen Impfung zu einer gewissen Normalität zurückkehren zu können, auch wenn das Corona-Virus weiter zirkuliert. Nach Angaben der WHO arbeiten Unternehmen und Forschungsinstitute weltweit inzwischen an 124 Impfstoffprojekten. Doch die allermeisten von ihnen befinden sich noch in einem frühen Stadium (vgl. Handelsblatt, online, 26.5.2020). Nur zehn Kandidaten werden derzeit in einer ersten Testphase am Menschen getestet. Experten rechnen frühestens ab Herbst oder Winter 2021 mit Impfstoffen gegen das Virus SARS-CoV-2. Es geht im Rennen um einen Impfstoff nicht nur um Menschenleben, sondern auch um viel Geld und Markteinfluss, was bereits jetzt ethische Fragen aufwirft.

Angesichts der Pandemie werden Stimmen laut, für den Impfstoff oder das Medikament das Zulassungsverfahren abzukürzen bzw. zu beschleunigen. Die entsprechende Ankündigung von Regierungen und Arzneimittelbehörden versetzt Ethiker in Sorge (vgl. Süddeutsche Zeitung, online, 18.5.2020). Die Entwicklung eines Impfstoffes ist langwierig und erfolgt nach einem international verankerten strengen Reglement. Dafür sind in der Regel jahrelange klinische Tests mit vielen Menschen (Phase I bis III) nötig, bis zur Marktreife dauert es oft 10 bis 15 Jahre. Zum einen muss in Studien die Wirksamkeit des Präparates klar bewiesen sein. (Derzeit scheiterte mehr als die Hälfte der Testsubstanzen, die die Phase II oder III erreichten, aufgrund ungenügender Wirksamkeit.) Gleichzeitig muss der Impfstoff verträglich sein und darf die Gesundheit der Probanden nicht gefährden. Beide Ziele lassen sich nicht immer in akzeptabler Weise vereinen. So gibt es zum Beispiel bis heute keinen Impfstoff gegen Malaria oder HIV.

Ethiker, darunter auch die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates Christiane Woopen, sind nicht prinzipiell gegen eine kontrollierte Anpassung der Kriterien in der Krisensituation. Im Fall von Epidemien und Pandemien können bürokratische Hürden abgekürzt werden, wie dies bei Ebola oder auch im Fall der Grippeimpfung, die saisonal angepasst werden muss, geschieht. Dass jedoch generell die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes zum Schutz von Versuchspersonen außer Kraft gesetzt werden könnten, wie derzeit zum Beispiel in Deutschland angedacht, hält Joerg Hasford, Vorsitzender des Arbeitskreises medizinischer Ethik-Kommissionen, für gefährlich: Die „schutzwürdigen Interessen von Studienteilnehmern“ dürften „nicht unterlaufen werden“.

Vor einer zu schnellen Zulassung des Arzneimittels Remisdivir gegen Covid-19 in Europa hat der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, gewarnt (vgl. ORF, online 28.5.2020). „Wir wissen noch viel zu wenig über die Nebenwirkungen“, sagt Ludwig. Der Nutzen des Medikaments ist noch fragwürdig, zugleich hatten 25 Prozent der Patienten, die Remisdivir erhielten, schwere Nebenwirkungen (vgl. AAPS, online 7.5.2020).

Eine weitere ethische Frage: Darf man Menschen bewusst mit dem Coronavirus infizieren, um schneller testen zu können? Und wenn ja: unter welchen Bedingungen? Typische Impfstoffversuche dauern lange, da in der Phase III Tausende von Menschen untersucht werden müssen: Sie erhalten entweder einen Impfstoff oder ein Placebo, über Jahre wird verfolgt, wer sich dann tatsächlich infiziert.

Sog. Human Challenge Trials werden unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert. Einige betonen den großen Nutzen für die Beschleunigung der Impfstoffentwicklung; diese Methode sollte ergänzend zu klassischen Verfahren angewendet werden. Dafür plädiert etwa der Onkologe und Bioethiker Ezekiel J. Emanuel von der University Pennsylvania (vgl. JAMA Published online, 6.5.2020, doi:10.1001/jama.2020.8102). Andere äußern ethische Bedenken und verweisen auf enorme gesundheitliche Risiken, die die Infektion mit einem noch unerforschten Erreger wie Sars-CoV-2 haben könnte. Selbst wenn die Freiwilligen alle jung und gesund wären, würde dies das Risiko einer schweren Krankheit nicht vollständig ausschließen.

Myron Levine, Experte für Human Challenge Trials an der Maryland School of Medicine, glaubt, dass auch traditionelle klinische Studien aufgrund des hohen Infektionsgrades durch COVID-19 und damit einer raschen Verbreitung an einigen Orten schnell zu Ergebnissen führen werden. Er zeigt sich skeptisch gegenüber freiwilligen Infizierungen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ethisch ist oder wirklich das beschleunigt, was wir zu tun haben“, so Levine gegenüber Science (online, 31.3.2020). Auch die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) ist vorsichtig. FDA-Sprecher Michael Felberbaum betont, dass Human Challenge Trials zur Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs ethische Probleme aufwerfen, die man mit Tiermodellen vermeiden könnte (vgl. The Hill, online, 24.4.2020). Angela Rasmussen, Virologin an der Columbia University, sieht die Bedenken vor allem darin, dass die Probanden keine freiwillige informierte Zustimmung geben könnten. Diese setzt eine umfassende Aufklärung voraus. Doch um aufklären zu können, fehlen einfach noch die Daten über die Risiken, betont Rasmussen (vgl. ScienceNews, online, 27.5.2020).

Bereits mehr als 25.000 Menschen aus über 100 Ländern (Stand 28. 5.) haben sich indes für einen solchen Versuch auf der Plattform 1DaySooner (vgl. Scientific American, online, 22.4.2020). Sie wären bereit, sich gezielt mit Covid-19 infizieren zu lassen. Eine finanzielle Aufwandsentschädigung ist vorgesehen, ob es darüber hinaus eine Prämie geben soll, ist laut Webseite noch offen.

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