Bioethik Aktuell

COVID-19: Herdenimmunität als Impfziel scheint passé

US-Virologe Fauci setzt auf Mix aus Impfungen, Medikamenten und Infektionen als Weg in die Normalität

Lesezeit: 03:12 Minuten

© Pixabay_1540220_stevepb

Eine klassische Herdenimmunität, die die Grundlage für die Ausrottung von SARS-CoV-2 bilden könnte, ist nach Ansicht von Anthony Fauci, US-Virologe und Berater von US-Präsident Joe Biden, nicht mehr möglich und auch nicht notwendig. Die in den letzten beiden Jahren durch Erkrankungen erreichte Hintergrundimmunität sollte zusammen mit Impfstoffen und Medikamenten ausreichen, um trotz der weiteren Zirkulation des Virus zur Normalität zurückzukehren, schreibt der Direktor des US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) mit Kollegen im Journal of Infectious Diseases (2022; DOI: 10.1093/infdis/jiac109), berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 1.4.2022)

Fauci schließt sich nun offenbar kritischen Expertenmeinungen an, die sich bereits vor einem Jahr vom Konzept der Herdenimmunität als unrealistischer Strategie zur Bekämpfung von Covid-19 verabschiedet hatten (vgl. Bioethik aktuell, 9.4.2021). Damals hatte der US-amerikanische Immunologe und Regierungsberater noch davon gesprochen, dass der Anteil Immunisierter bzw. Geimpfter 85 Prozent betragen müsste, um eine Herdenimmunität zu erreichen. 

Die Herdenimmunität war nach dem Beginn der Pandemie das Mantra der Virologen. Man nahm an, dass die Epidemie dann vorüber sei, wenn zwei Drittel der Bevölkerung durch Erkrankungen oder Impfung schützende Antikörper im Blut haben. Auch in Österreich sprachen Experten von Durchimpfungsraten von mindestens 70 Prozent, um eine „Herdenimmunität“ zu erreichen (vgl. Kleine Zeitung, 10.9.2021).  

Inzwischen dürften die meisten Länder eine noch viel größere Häufigkeit von SARS-CoV-2 spezifischer Antikörper im Blutserum (Seroprävalenz) in der Bevölkerung erreicht haben. Gleichzeitig ist die Zahl der Infektionen mit jeder neuen Variante von SARS-CoV-2 weiter gestiegen – sowohl bei Nicht-Geimpften als auch bei Geimpften. Während die Zahl schwerer Krankheitsverläufe durch die Impfungen reduziert werden konnte, schützt die Impfung nicht zu 100 Prozent vor Infektionen. Stattdessen zeigen Beobachtungen aus vielen Ländern, dass es zu Impfdurchbrüchen kommt und auch Geimpfte das Coronavirus weitergeben können. Eine Herdenimmunität und damit das Ausrotten der Krankheit ist damit trotz Impfung nicht möglich.

Zudem gehört SARS-CoV-2 zu jenen Viren, die ihr Erbgut ständig variieren – anders als beispielsweise die Erreger von Polio und Masern. SARS-CoV-2 wird deshalb auch in Zukunft trotz Impfstoffen jedes Niveau einer Herdenimmunität überwinden und bei passenden Voraussetzungen neue Epidemien auslösen - ähnlich, wie dies bei der Grippe geschieht, schreiben Fauci und Kollegen. Eine Grippe hinterlasse ebenfalls nur eine zeitlich begrenzte Immunität, die Impfstoffe müssten jährlich angepasst werden, die Influenza könne aber nicht durch Impfstoffe vollständig kontrolliert werden. In größeren Abständen komme es zur Entstehung neuer Grippeviren, die dann eine schwere Pandemie auslösen, bevor sie in abgeschwächter Form als endemische Viren für saisonale Ausbrüche verantwortlich sind. Fauci verweist auf das Virus der Spanischen Grippe von 1918, dessen Nachfahren auch heute noch, wenn auch in abgeschwächter Form für saisonale Epide­mien und manchmal auch für Pandemien verantwortlich sind.

Ein ähnliches Szenario stünde nun mit COVID-19 an, was die US-Experten gewissermaßen optimistisch stimmt. Nach mehr als zwei Jahren einer Viruszirkulation und mehr als einem Jahr mit Impfungen und Auffrischungen könnte inzwischen ein hoher Grad an Hintergrundimmunität in der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 entstanden sein, die schwere Epidemien seltener mache. Außerdem stünden mit bereits zugelassenen COVID-19-Medikamenten (in der EU sind es zehn Medikamente) Mittel zur Verfügung, die bei recht­zeitiger Diagnose ein Fortschreiten der Krankheit verhindern können.

Mit diesen Interventionen könne es gelingen, das Virus unter Kontrolle zu bringen, ohne dafür die Stö­rungen der Gesellschaft in Kauf zu nehmen, die in den letzten zwei Jahren durch COVID-19 verursacht wurden. „Wir brauchen das schwer fassbare Konzept der Herdenimmunität nicht mehr als erstrebens­wertes Ziel“, schreibt Fauci: „Die Kontrolle von COVID-19 ist bereits in greifbarer Nähe.“

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: