Bioethik aktuell

Debatte: Was bringen "Weniger-Ist-Mehr"-Kampagnen für die medizinische Versorgung?

Österreichische Initiative „Gemeinsam gut entscheiden“ startet mit Empfehlungen für die Geriatrie

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Überversorgung in der Medizin aufgrund fehlendem wissenschaftlichen Denken oder falscher finanzieller Anreize gilt als Problem. Weltweit haben Fachgesellschaften mit Kampagnen darauf reagiert (vgl. Bioethik aktuell, 12.3.2015). Vorreiter waren 2012 die USA mit der Initiative Choosing Wisely, inzwischen haben weitere Länder ähnliche Gremien eingerichtet, mit dem Ziel, Ärzte im klinischen Alltag mit Empfehlungen zu unterstützen und dadurch eine Über- oder Unterversorgung bei medizinischen Leistungen zu vermeiden, beispielsweise in der Schweiz (Smarter Medicine), in Deutschland (Gemeinsam klug entscheiden), Italien (Slow Medicine) und seit 2017 auch in Österreich (Gemeinsam gut entscheiden).

Doch ist die Vorgangsweise tatsächlich geeignet, um das Problem in den Griff zu bekommen? Die deutsche Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gilt als Kritikerin. In einem aktuellen Kommentar für das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEBM Dezember 2017) hält Meyer den medizinischen Fachgesellschaften in den USA vor, dass sie Themen der Überversorgung generieren würden, um dann TOP-5-Listen mit Empfehlungen zur Vermeidung von Überversorgung mit Diagnostik und Therapie anzufertigen. Diese würden jedoch nicht den etablierten Methoden der Evidenz-basierten Medizin (EBM) zur Entwicklung von Empfehlungen für die Versorgung entsprechen. Sie beruft sich dabei u. a. auf eine Studie, die an der Medizinischen Universität Graz durchgeführt und im British Medical Journal Open veröffentlicht wurde (BMJ Open 2016;6:e012366. doi:10.1136/bmjopen-2016-012366).

Studienleiter Karl Horvath vom Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung der Medizinischen Universität Graz und sein Team hatten darin rund 300 Empfehlungen aus die TOP-5-Listen aus den USA analysiert. Ihre zentrale Schlussfolgerung: Bei einer bedeutenden Anzahl der Empfehlungen war deren wissenschaftliche Vertrauenswürdigkeit unklar. „Kampagnen wie Choosing Wisely sind komplexe Interventionen und sollten nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt, evaluiert und implementiert werden“, resümiert Meyer.

Im aktuellen renommierten New England Journal of Medicine spricht die Kardiologin Lisa Rosenbaum gar von einem „Kreuzzug“ des „Weniger-Ist-Mehr“ in der Medizin, mit der Gefahr, komplexe Zusammenhänge zu simplifizieren (vgl. N Engl J Med 2017; 377: 2392-2397, December 14, 2017 http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMms1713248.

In Österreich ist Studienautor Karl Horvath und das Grazer Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung gemeinsam mit Cochrane Österreich am Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems selbst federführend bei der österreichischen Initiative Gemeinsam gut entscheiden verantwortlich. Wie wird die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen hierzulande gesichert? „Wir haben versucht, die Konsequenz aus unserer Untersuchung zu ziehen“, sagt Horvath im Gespräch mit IMABE. Es sollen nur bereits vorhandene Leitlinien, die wissenschaftlich verlässlich sind, verwendet werden. Die ersten TOP-5-Empfehlungen werden für den Bereich der geriatrischen Versorgung bis März 2018 auf der Webseite abrufbar sein.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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