Bioethik aktuell

Geriatrie: 40 Prozent Belgier wollen keine kostspieligen Therapien für Senioren

Reduktion von Gesundheitsausgaben und zugleich Angebot von aktiver Sterbehilfe führt zu einem gefährlichen Mix

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Wieviel darf die medizinische und pflegerische Behandlung von hochaltrigen Menschen kosten? In Belgien setzt ein Paradigmenwechsel ein: Nach aktuellen, noch unveröffentlichten Studien sprechen sich 40 Prozent der Belgier dagegen aus, kostspielige Behandlungen zur Lebensverlängerung bei über 85-Jährigen durchzuführen. Die Studien wurden vom Bundeszentrum für Gesundheitsfürsorge (KCE) der König-Baudouin-Stiftung und dem Nationalen Institut der Invaliden-Krankenversicherung (Inami) durchgeführt, berichtet Le Soir (online, 19.3.2019).

Die Studienautoren zeigen sich laut Le Soir besorgt. Solche radikalen Ansätze würden schnell „zu einer Zwei-Klassen-Medizin führen: einerseits jene Patienten, die sich mit einer Pflichtversicherung begnügen müssen, gegenüber solchen, die sich nicht erstattungsfähige Medikamente oder Operationen leisten können, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten“.

Der belgische Verein Okra, der Patienten dabei unterstützt, Übertherapien abzulehnen, stellte umgehend klar, dass „keine willkürlichen Altersgrenzen im Gesundheitswesen angewendet“ werden dürfen (vgl. Ageing Equal, online, 20.3.2019). Eine wohlüberlegte therapeutische Intervention dürfe man rein aus Altersgründen nie ablehnen. Schließlich habe jeder, unabhängig vom Alter, ein Recht auf medizinische Behandlung, so Okra.

Seitdem Sterbehilfe in Belgien 2002 eingeführt wurde, steigen die Fallzahlen kontinuierlich. 2004 waren es 349 Fälle, im Jahr 2018 laut offiziellem Bericht (EUTHANASIE - Chiffres de l’année 2018) wurde der bisherige Höchststand von 2.357 Menschen erreicht, die durch Tötung auf Verlangen starben. Während die aktive Sterbehilfe von französischsprachigen Patienten in Belgien vergleichsweise wenig genutzt wird, liegt der Anteil der Flamen bei 75 Prozent. Die meisten Patienten waren zwischen 60 und 89 Jahre alt.

Die belgische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an die aktive Sterbehilfe gewöhnt, sagt die Wiener Bioethikerin Susanne Kummer und warnt: „Senioren eine adäquate medizinische Versorgung zu verweigern, um Geld zu sparen, kombiniert mit dem Angebot, sie könnten doch aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen, stellt für eine Gesellschaft einen gefährlichen Mix dar.“ Die Selbstbestimmung kippt unter der Hand in Fremdbestimmung: „Wo Tötung auf Verlangen eine normale Option darstellt, wächst der Druck auf ein sozialverträgliches Frühableben. Menschen müssen sich dann rechtfertigen, wenn sie weiter behandelt werden möchten und damit der Gesellschaft entsprechende Kosten verursachen.“

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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