Bioethik aktuell

WHO: Soll anhaltende Trauer als Krankheit deklariert werden?

Trauerexperten warnen vor einer Pathologisierung des Trauerschmerzes nach Todesfall

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Die WHO diskutiert derzeit, eine „anhaltende Trauerstörung“ als eigenständiges Krankheitsbild aufzunehmen. Wenn jemand sechs Monate nach dem Tod einer nahestehenden Person immer noch trauert, könnte diese Person als psychisch krank eingestuft werden.

Hintergrund sind Pläne, 2018 eine aktualisierte Liste von Krankheiten und Gesundheitsproblemen (ICD-11) herauszugeben. Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. In zahlreichen Ländern erfolgt die Klassifizierung und Abrechnung von medizinischen Leistungen verbindlich nach dem ICD.

Allerdings: Trauerexperten halten diese Definition für zweischneidig (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online, 7.5.2018). Es bestünde die Gefahr, dass Menschen in eine Schublade gesteckt werden, die eine normale Trauerphase durchmachen. „Trauernde dürften nicht vorschnell als krank eingestuft oder gar als psychisch krank stigmatisiert werden“, betont Alexander Helbach von der Verbraucherinitiative Aeternitas. Und: Trauern brauche Zeit. Während früher ein ganzes Trauerjahr kulturell akzeptiert und auch in Rituale eingebettet war, verlangt das gesellschaftliche System heute ein rascheres Funktionieren. „In der Regel stehen Betroffenen nach dem Verlust eines Kindes oder Ehepartners zwei Tage Sonderurlaub zu“, sagt Birgit Wagner, klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Medical School Berlin. Laut Wagner herrsche Einigkeit darüber, dass sich die anhaltende Trauerstörung qualitativ nicht von der normalen Trauer unterscheidet (vgl. Psychotherapeutenjournal 3/2016).

„Alle Symptome, welche in den vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien aufgelistet sind, können auch in den ersten Wochen und Monaten nach dem Tod einer nahestehenden Person auftreten. Der einzige Unterschied scheint tatsächlich das vorgegebene Zeitkriterium von mindestens sechs Monaten nach dem Tod zu sein.“ Sie fragt kritisch nach: Wäre das nicht „eher ein Beleg dafür, dass für bestimmte Trauergruppen ein normaler langfristiger Trauerprozess zu erwarten ist, ohne dass dieser pathologisiert werden sollte?“ Bei dem derzeitigen Diagnosevorschlag bestehe die Gefahr, dass zu viele falsch positive Diagnosen vergeben werden, so Wagner.

Die ICD-11 greift weitgehend auf das US-Diagnosehandbuch DSM-5 von 2013 der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) zurück. Diese brachte eine erhebliche Ausweitung der Definition von psychischen Störungen mit sich, die im Vorfeld heftig debattiert wurden. Laut DSM-5 können Trauernde bereits zwei Wochen nach dem Tod einer nahestehenden Person eine Depressionsdiagnose erhalten. Medizinische Fachgesellschaften warnten damals davor, normale Krisen und Trauerreaktionen als psychische Erkrankung umzudefinieren und damit zu pathologisieren (vgl. Bioethik aktuell, 19.3.2012). Dies würde vor allem der Pharmaindustrie eine Steigerung des Absatzes ihrer Produkte bescheren, kritisierte damals der bekannte US-Psychiater Allen Frances.

Institut für Medizinische
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