Bioethik aktuell

Menschliche Embryonen: Deutsche Forscher wollen mehr Zugriff

Internationale 14-Tage-Regel zur Forschung an Embryonen soll fallen

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In Deutschland sollen menschliche Embryonen für Forschungszwecke verwendet werden dürfen. Das fordert die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einer gemeinsamen Stellungnahme (26. Mai 2021) mit der Union der Deutschen Akademie Wissenschaften.

Bislang verbietet das deutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) an menschlichen Embryonen außerhalb des Körpers zu forschen. „Für hochrangige Forschungsziele im Einklang mit internationalen ethischen Standards“ soll dieses Verbot nun aufgehoben werden, heißt es in der Stellungnahme, die federführend von einer Arbeitsgruppe der Leopoldina ausgearbeitet wurde.

Mit dem ESchG galt bisher als Grundsatz, dass der Mensch auch in seiner frühen Phase nicht auf ein Mittel zum Zweck reduziert werden darf. Eltern soll es nun freistehen, nach einer künstlichen Befruchtung sog. überzählig hergestellte Embryonen für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Derzeit seien Forscher damit abhängig vom Import sog. embryonaler Stammzelllinien, die vor dem Stichtag 1. Mai 2007 im Ausland etabliert worden sind. (Mit der Stichtagsregelung im Stammzellengesetz wollte der Gesetzgeber verhindern, einem erhöhten Embryonenverbrauch im Ausland Vorschub zu leisten.) Demgegenüber stehen nun „hochrangige Forschungsziele“ wie „wissenschaftliche Fragen zur Embryonalentwicklung, Krankheitsentstehung, Fortpflanzungsmedizin oder Anwendungen von embryonalen Stammzellen für regenerative und personalisierte Therapien“, so die Argumentation der Naturwissenschaftler. Die Forschungsfreiheit dürfe nicht eingeschränkt werden. Langfristig soll damit der Forschungsstandort Deutschland gesichert werden.

In Österreich dürfen Embryonen nur im Zuge der künstlichen Befruchtung erzeugt und auch nur für die künstliche Befruchtung eingesetzt werden. Daraus ergibt sich ein umfassendes Forschungsverbot an Embryonen (entwicklungsfähigen Zellen).

Ist das Recht auf Forschungsfreiheit höher als das Grundrecht auf Leben? Die Embryonenforschung ist ethisch umstritten, weil sie zugleich die Vernichtung des Embryos für Forschungszwecke bedeutet. Peter Dabrock, der von 2012 bis 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates war, zeigt sich deshalb äußerst kritisch gegenüber der Vorgangsweise der Leopoldina (vgl. Deutschlandfunk, 27.5.2021). Das Präsidium habe eine kleine Arbeitsgruppe in dieser Frage eingesetzt, deren Zusammensetzung unausgewogen war. Es hätte keinen breiten Diskurs unter den rund 1.400 Mitgliedern der Leopoldina zu dieser weltanschaulich hochsensiblen Frage gegeben. Die „Vielfalt der Gesellschaft, die sie selber einfordert“, sei im Verfahren „nicht repräsentiert“ gewesen. „Das ist ärgerlich“, so der evangelische Theologe.

Außerdem sei zu hinterfragen, „welche spezielle Kompetenz Naturwissenschaftler“ in dieser „hochgradig weltanschaulich kontaminierten Frage“ mitbringen würden. „Wann beginnt menschliches Leben? Wann erkennen wir einem Menschen Menschenwürde und Lebensschutz zu?“ seien „keine einfachen Fragen, die man so nach einem naturwissenschaftlichen Schema bearbeiten kann“. Sie haben nicht nur biologischen, sondern auch normativen Charakter. Die ethische Argumentation der Leopoldina-Stellungnahme hält Darbrock für „äußerst dürftig“, ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten. Hier habe man nicht Wissenschaft, sondern „Wissenschaftspolitik und Biopolitik betrieben“.

Weltweit werden jährlich Zig Millionen von Embryonen im Zuge der künstlichen Befruchtung hergestellt und als „Backup“ für IVF-Versuche tiefgefroren. Allein in Großbritannien blieben zwischen 1991 und 2015 mehr als 2,3 Millionen IVF erzeugte Embryonen übrig (vgl. S. Kummer, Leben aus dem Labor. 40 Jahre Reproduktionsmedizin – eine Übersicht, 2017). In Großbritannien darf laut Gesetz bis zum 14. Tag an Embryonen geforscht werden, die dann vernichtet werden.

Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) hat sich jüngst dafür ausgesprochen, menschliche Embryonen künftig länger als 14 Tage im Labor züchten zu dürfen. Die 14-Tage-Regel wurde vor rund 40 Jahren als international anerkannter Kompromiss festgelegt, um trotz moralischer Einwände die Forschung an menschlichen Embryonen zuzulassen. Neue Technologien machen es heute möglich, menschliche Embryonen über die 14-Tage-Grenze hinaus in der Petrischale zu züchten. Außerdem wurden Schranken geöffnet durch Eingriffe in die menschliche Keimbahn mittels CRISPR/Cas9, der Herstellung von Mensch-Tier-Chimären und von Embryoiden (vgl. Bioethik aktuell, 3.4.2017; Bioethik aktuell, 2.5.2021).

Die feministische Bioethikerin Francoise Baylis (Dalhousie University, Halifax/Kanada) kritisiert den Vorstoß der ISSCR. Die Entscheidung, die etablierte 14-Tage-Regel aufzugeben, sei ein Fehler. Da keine andere Frist genannt wurde, sei zu befürchten, dass es insgesamt zu einer Verschlechterung der Standards kommen werde, so Baylis in The Conversation, 27.5.2021.

Wenn man im Zuge der künstlichen Befruchtung mehrere Embryonen auf Vorrat erzeugt und vorab einkalkuliert, dass einige davon übrigbleiben werden, schafft man ethische Probleme, die nicht mehr sinnvoll aufzulösen sind, kommentiert Susanne Kummer, IMABE-Geschäftsführerin, den jüngsten Vorstoß. „Der Embryo ist keine Sache und kein Heilmittel. Im Embryo wächst nicht ‚ein Leben‘ heran, sondern jemand wächst heran. Jeder von uns hat so angefangen zu sein. Den Menschen in diesem frühestens Stadium seiner Existenz auf eine Forschungskultur zu reduzieren, heißt, ihn komplett zu verdinglichen und zu instrumentalisieren. Das widerspricht der Menschenwürde“, so die Wiener Ethikerin.

 

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