Bioethik Aktuell

„Verhindern, dass Heiler zu Mördern werden“: Lancet-Kommission fordert mehr Geschichtsbewusstsein

Politik, Ökonomie und Ideologie können auch heute das ärztliche Ethos bedrohen

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Eine Kommission des Fachjournals Lancet hat die Geschichte der Medizin unter der Nazi-Diktatur neu aufgearbeitet – und sie zieht auch Schlüsse für Gegenwart und Zukunft. Menschen in Gesundheitsberufen müssen in ihrer Bereitschaft gestärkt werden, sich mutig gegen äußeren Druck und Fehlverhalten zu wehren.

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Ärzte wählen ihren Beruf, weil sie sich dem Leben und Wohl ihrer Patienten verpflichtet fühlen. Wie kann es dann dazu kommen, dass „Heiler zu Mördern werden“, abscheuliche Experimente durchführen und systematisch mehr als 230.000 Menschen mit Behinderung in der NS-Zeit töten? Das Fachjournal Lancet veröffentlichte dazu den bislang umfassendsten Report, der sich auf 878 Quellen stützt (The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow). Das internationale Forscherteam zeigt darin auf, wie eng Politik, Ideologie und Wissenschaft in der Nazi-Zeit einander zuarbeiteten, um die Vernichtung von lebensunwertem Leben zu legitimieren. Während mehr als die Hälfte der deutschen Ärzte einer Nazi-Organisation angehörten, zeigen heroische Beispiele, wie andere ihrem Berufsethos treu geblieben sind und sich aufopfernd um ihre Patienten gekümmert haben.

Lancet-Report: Die Täter waren keine Monster

Das NS-Regime ist eines der extremsten, am besten organisierten und am besten dokumentierten Beispiele für die aktive Beteiligung der Medizin an Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Es ist zwar verlockend, die Täter als unbegreifliche Monster zu betrachten, aber die von der Kommission vorgelegten Beweise zeigen, dass viele Angehörige der Gesundheitsberufe unter bestimmten Bedingungen und unter Druck in der Lage waren, ethische Vergehen und sogar Verbrechen an ihren Patienten zu begehen“, sagt Sabine Hildebrandt vom Boston Children's Hospital und der Harvard Medical School (USA) und Co-Vorsitzende der Kommission.

Eugenik war keine Pseudowissenschaft, sondern wissenschaftlich weit verbreitet

Der Bericht räumt mit mehreren Mythen auf. Er legt dar, dass die Medizin im Nazideutschland keine „Pseudowissenschaft“ war, sondern nach wissenschaftlichen Methoden arbeitetet. Zahlreiche Beiträge über Eugenik oder Zwangssterilisierung konnten in seriösen Fachjournalen publiziert werden.

Nicht nur deutsche Wissenschaftler waren Anhänger der Eugenik. Das eugenische Gedankengut lag schon lange in der Luft – vorbereitet durch die biomedizinische und sozialdarwinistische Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. In vielen Ländern wurde Gesetze zu Zwangssterilisierungen und der Verhütung von erbkrankem Nachwuchs diskutiert. 1933 wirkten deutsche Gesundheitsexperten am Gesetz zur Zwangssterilisierung („Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“) mit, das bereits 1934 in Kraft trat.

Was „ethisch“ ist, wurde ideologisch umdefiniert

Wissenschaft und Medizin standen dem Naziregime zu Diensten, um im Namen einer neuen Ethik die Verfolgungspolitik zu rechtfertigen, und schließlich als staatlich sanktionierten Massenmord und Völkermord umzusetzen. Im gesamten Bericht der Kommission finden Beispiele dafür, wie die Nazis einen „Ethikkodex“ einführten, um Menschen deutscher „arischer“ Abstammung in der medizinischen Versorgung und Forschung zu priorisieren. Gleichzeitig wurden Eugenik, Zwangssterilisierung, Menschenversuche und das Patiententötungsprogramm „Euthanasie“ legitimiert und nach Effizienzkriterien etabliert. Bevor die Gaskammern in der Vernichtung von Juden angewendet wurden, wurden sie bei der Tötung von Behinderten getestet.

Schon die Nationalsozialisten sprachen von „Sterbehilfe“

IMABE-Direktorin Susanne Kummer begrüßt die gründliche Aufarbeitung durch den Lancet-Bericht. Sie erinnert daran, dass der Begriff „Sterbehilfe" im Weltbild der Nationalsozialisten gleichbedeutend war wie „Euthanasie“ und für die massenhafte Ermordung wehrloser und unschuldiger Menschen (vgl. „Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken“, Oktober 1940) verwendet wurde. Der hohe NS-Funktionär und Arzt Karl Brandt hatte den Auftrag, Ärzte zu befugen, dass sie nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken „Sterbehilfe“ zu gewähren. Mehr als 100.000 Menschen wurden NS-Opfer von Sterbehilfe. Brandt begründete dies mit der Erlösung von Leid und dem Einsparen von künftigen Unterhalts- und Pflegekosten. Als einer Hauptangeklagten beim Nürnberger Prozess verteidigte Brandt auch noch vor Gericht die NS-„Sterbehilfe“ – er war sich keiner Schuld bewusst.

Juristen und Philosophen hatten den menschenverachtenden Boden vorbereitet

„Die Rolle der Juristen war hier keineswegs rühmlich. Auch sie haben den rechtlichen Boden zur Massenvernichtung entsprechend vorbereitet“, ergänzt Kummer. „Nicht in den Bereich des Strafrechts gehört die Sterbehilfe, denn die Volksgemeinschaft ist nicht so erbarmungslos, dem unheilbar Kranken, und dem Sterbenden sein Leben und seine Qual gegen dessen Willen aufzuzwingen“, heißt es bereits 1935 (Nationalsozialistische Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht). „Doch auch hier war schon knapp 45 Jahre zuvor mit Friedrich Nietzsche ein Wegbereiter am Werk. Er schrieb 1889 folgenden Satz: ‚Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben‘“, zitiert Kummer aus Nietzsches „Götzen-Dämmerung“. 

 „Die Geschichte zeigt uns, wie schnell das Postulat auf einen selbstbestimmten Tod, der aus Mitleid gewährt wird, benutzt wird, um Menschen unter den Druck eines sozial verträglichen Frühablebens zu setzen.“ Diese „Warnhinweise“ sollten auch in der heutigen Debatte um die Beihilfe zum Suizid und „Sterbehilfe“ ernst genommen werden, betont die Ethikerin.

Die Grundwerte der Ethik des Gesundheitswesens können unter Druck kommen

„Eine Vielzahl von Debatten, die wir derzeit in der Medizin sehen – von der Frage, wer bei einer Katastrophe versorgt werden sollte, über die End-of-Life-Care bis hin zu neuen Entwicklungen in der Genetik, um nur einige zu nennen – zeigen, wie Medizin und Wissenschaft mit der Politik verknüpft sind, persönliche Überzeugungen und sozioökonomische Faktoren. Mediziner und biowissenschaftliche Forscher müssen sich dieser Einflüsse und ihrer vielfältigen Auswirkungen auf Patienten und Studienteilnehmer bewusst sein“, betont der Wiener Historiker und Co-Vorsitzende der Kommission, Herwig Czech (Medizinische Universität Wien) anlässlich der Präsentation des Lancet-Berichts.

Gesundheitsfachkräfte unterstützen, die Würde aller Menschen zu schützen

Die Kommission – gebildet aus einer vielfältigen und internationalen Gruppe von 20 Wissenschaftlern, Ärzten und Forschern mit Fachkenntnissen in Geschichte, medizinischer Ausbildung und Bioethik – ist die erste Lancet-Kommission, die sich auf die Geschichte der Medizin konzentriert. Eine Aufklärung darüber, wie und wodurch die Korruption des Berufsethos die Gräueltaten möglich wurden, könne Generationen von Medizinern und Gesundheitsfachkräfte darin unterstützen, sich kritisch moralischen und medizinethischen Fragen zu stellen, sich gegen Machtmissbrauch zu wehren sowie gefährdete Bevölkerungsgruppen, die Patienten und die Würde aller Menschen zu schützen, betonen die Forscher.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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