Editorial

Imago Hominis (2022); 29(1): 003-005
Susanne Kummer

Wie Menschen sterben, hat sich in den vergangenen 60 Jahren dramatisch verändert: der Tod wurde von einem familiären Ereignis mit gelegentlicher medizinischer Unterstützung zu einem medizinischen Ereignis mit begrenzter familiärer Unterstützung. Tod und Sterben werden zunehmend an Professionisten delegiert, medikalisiert und verdrängt. Damit ist jedoch eine gesellschaftliche Grundkompetenz im Umgang mit Sterbenden verloren gegangen. Diese muss dringend wiedergewonnen werden. Zu diesem Befund kommt ein im Jänner 2022 veröffentlichter 48-seitiger Report unter dem Titel ‘The Value of Death: bringing death back into life’, den eine eigens vom Fachjournal Lancet einberufene internationale Kommission erarbeitete.

„Die Art und Weise, wie wir uns um Sterbende kümmern, unsere Erwartungen an den Tod und die Veränderungen, die in der Gesellschaft erforderlich sind, um unser Verhältnis zum Tod wieder ins Gleichgewicht zu bringen, müssen grundlegend neu überdacht werden“, sagte die Co-Vorsitzende der Kommission, Libby Sallnow, Palliativmedizinerin und Dozentin am St. Christopher‘s Hospiz in London anlässlich der Präsentation des Reports.

Dem existenziellen Leiden werde heute nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Angst vor Rechtsstreitigkeiten (Stichwort: Defensivmedizin) und finanzielle Anreize (Stichwort: Ökonomisierung) würden zu einer Überbehandlung am Lebensende beitragen. Damit würde das Bild eines institutionellen Todes geschürt und das Gefühl vermittelt, nur Fachleute könnten mit Sterbenden umgehen.

Familien und Gemeinschaften entfremden sich zunehmend von der Begleitung Sterbender, heißt es im Lancet-Report. Doch auch Ärzte scheuen sich, Gespräche über den Tod und das Sterben zu führen. Sie fühlen sich überfordert und sehen diese Gespräche nicht unbedingt als Teil ihrer beruflichen Verantwortung. Stattdessen würden Behandlungen fortgesetzt, was mitunter zu einer unangemessenen Versorgung am Lebensende führe, analysiert die Kommission. Dank Palliative Care könnte sich die Lebensqualität für Patienten und Betreuende verbessern, unnötige Kosten würden reduziert. Gesundheitssysteme, die dies beeinflussen sollten, hätten damit nur begrenzten Erfolg, so die ernüchternde Bilanz.

Nicht nur Heilen, sondern auch Leiden lindern und Trösten zählen von jeher zu den Kernaufgaben der Gesundheitsberufe. Was ist Palliativpatienten wichtig? Was wollen sie gestalten und wo sich überlassen dürfen? Belastende Symptome bei Menschen im fortgeschrittenen Krankheitszustand zu behandeln, erfordert eine hohe medizinische und pflegerische Kompetenz. Was brauchen schwerkranke Patienten und ihre Angehörigen, um sich sicher und gut aufgehoben zu fühlen?

Ärzte und Pflegende haben in der Vermittlung von Hoffnung eine besondere Verantwortung. Wichtig ist es, mit den Betroffenen wahrhaftig umzugehen. Wie können Ärzte und Pflegende lernen, ihre eigene Unsicherheit zu überwinden? Wie können sie Fragen ehrlich beantworten, aber auch das Nicht-Wissen-Wollen der Betroffenen akzeptieren und auf Bedürfnisse und Wünsche umfassend eingehen?

Welche Herausforderungen ergeben sich, wenn Eltern in der Pränataldiagnose von einer lebenslimitierenden Erkrankung ihres ungeborenen Kindes erfahren? Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich in einer Perinatalen Palliativbetreuung – und wie kann diese gelingen?

Diesen Themen widmete sich am 26. November 2021 das interdisziplinäre IMABE-Jahressymposium „Palliative Care leben: Leiden. Lindern. Lernen“, deren vorliegende Ausgabe von Imago Hominis eine Nachlese bildet.

Raymond Voltz (Direktor des Zentrums für Palliativmedizin, Uniklinik Köln) behandelt in zehn praxisrelevanten Erkenntnissen zu Fragen am Lebensende u.a. die Themen Vermeidung von Übertherapie, Ernst nehmen von Patientenwünschen, Wahrhaftigkeit bei der Aufklärung, den Umgang mit Sterbe- und Todeswünschen und die Wiedergewinnung von „Nichts-Tun“ zum Wohle des Patienten.

Worauf Menschen mit einer begrenzten Lebenserwartung noch hoffen dürfen und wie eine wahrhaftige Kommunikation gestaltet sein muss, beleuchtet die Palliativmedizinerin und langjährige ärztliche Leiterin der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft, Elisabeth Medicus (Innsbruck).

Der Theologe und Pflegewissenschaftler Andreas Heller (Karl-Franzens-Universität Graz) plädiert für eine neue Haltung des Auf-Sich-Zukommen-Lassens. Er ortet in einer Gesellschaft, die auf Selbstbestimmung, -kontrolle und Selbstoptimierung setzt, einen Hang, unauflösliche Brüche und Ambivalenzen unseres Lebens durch „Planungs-Aktivität“ unter Kontrolle bringen zu wollen. Doch weder Tod, Sterben noch Endlichkeit könnten völlig kontrolliert werden. Stattdessen brauche es eine Wiedergewinnung der Empfangsbereitschaft und eine „Klugheit des Unterlassens“.

Menschen in Pflegeheimen haben in der Regel einen hohen Bedarf an Palliative Care. Doch Palliative Care in der Langzeitpflege darf nicht am Einzelengagement von einzelnen Mitarbeitern hängenbleiben. Michael Rogner (Pflegeentwicklung, Liechtensteinische Alters- und Krankenhilfe) zeigt auf, warum Projekte zur Einführung oder Umsetzung von Palliative Care zur „Chefsache“ erklärt werden müssen. Nur wenn der Rückhalt im Management da ist, kann Palliative Care nachhaltig in Einrichtungen etabliert werden.

Seit Jänner 2022 ist in Österreich die Beihilfe zum Suizid straffrei. Das moralische Selbstverständnis professioneller und ehrenamtlicher Begleiter wird sich möglicherweise in Zukunft verändern, denn: zum natürlichen Tod kommt nun auch die Option eines vorzeitigen und selbstverfügten Todes hinzu. Für Gabrielle Pachschwöll (Palliativteam Universitätsklinikum Krems) ist unter dieser Perspektive die Weitergabe von Information und Wissen über die Möglichkeiten der Palliative Care ein Gebot der Stunde.

Wenn Eltern in der Pränataldiagnose von einer lebenslimitierenden Erkrankung ihres ungeborenen Kindes erfahren, bricht für sie eine Welt zusammen. Mitten im Schock der Diagnose wird ihnen ein Schwangerschaftsabbruch als logische Folge der Diagnose dargestellt. Die Hebamme Gudrun Simmer (Perinatale Palliativcare, St. Josef Krankenhaus Wien) zeigt in ihrem Beitrag auf, wie betroffene Eltern, die eine Alternative zum Abbruch suchen, von der Diagnose bis zum Ableben des Kindes und der Trauer danach, begleitet werden – immer das Wohl der kleinen Patienten vor Augen.

Palliative Care darf kein Luxus für wenige sein. Sie muss tief im Selbstverständnis von Medizin und Pflege verankert werden. Denn auch wo keine Heilung möglich ist, gibt es noch viel zu tun.

S. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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