Medizin 2000 – endlich ohne Patient?

Imago Hominis (2000); 7(1): 59-63
Josef Smolle

Chancen und Risiken

Nicht nur bis zur kleinsten Praxis, auch fast bis zum allerletzten Patienten hat es sich durchgesprochen: Die Medizin ist im Umbruch, die Wirtschaft am Ausbruch, vielleicht auch am Einbruch – Bruch, wohin man schaut. Und dazu stets eines: sich ja nicht fürchten, sondern gemeinsam jubeln. Nicht hinterfragen, sondern vorausbrüllen. Im Laufrad bleiben – die Nachkommenden warten schon auf jeden freiwerdenden Platz – nicht aus der Spirale ausscheren, nicht fragen, ob sie sich aufwärts oder abwärts, vorwärts oder rückwärts dreht: schneller dreht sie sich, immer schneller, und das genügt. Das hat zu genügen.

Die Fliehkraft der Spirale führt zur Polarisierung: Die Kraft, mit der man sich fest hält, mitfährt, mitschwingt; der gegenüber die Kraft, die einen herausreissen, fortschleudern möchte. Diejenigen, die in der geheizten, gepolsterten Gondel sitzen und das Ringelspiel genießen; ihnen gegenüber jene, die es schon hinausgeschleudert hat, die gestrandet sind und jetzt zuschauen dürfen – wenn sie es noch können.

Die Polarisierung führt dazu, dass der klare Blick verstellt wird. Dass man die ungeheuren Chancen, der Medizin zu einem besseren, sanfteren, menschlicheren Gesicht zu verhelfen, nicht mehr sehen kann, und scheinbar nur mehr eine im Cyberspace grinsende Fratze übrig bleibt.

Versuchen wir eine – zwangsläufig subjektive – Wertung der 2000-Megatrends, die die Medizin – mehr noch: uns alle herausfordern.

Patient und Kunde

Ausgedient hat der nicht mehr zeitgemäße Leidende, der Patient, ersetzt wird er durch den Klienten, den Kunden. Mehr Kundenorientierung der Medizin wünscht sich nicht nur so mancher Patientenanwalt. Wie viel Positives ist damit möglich! Höflichkeit, Zuvorkommen, Bescheidenheit als Dienstleister statt Überheblichkeit des Mächtigen sind wichtige Ingredienzien guter Medizin. Bloß dürfen wir nicht übersehen, dass der Kundenbegriff noch andere Aspekte umfassen kann, hat der Kunde im Sinne der Privatwirtschaft doch letztlich einem Ziel zu dienen – der Gewinnmaximierung. Findet sich der Hilfesuchende in dieser Rolle wieder, fühlt er sich betrogen. Wird alles so geschickt angelegt, dass der Patient es nicht einmal merkt, dann ist er doppelt betrogen.

Qualität als Ziel

Alles nicht so schlimm – wir betreiben ja nicht Kunden- (=Patienten-) Fang, sondern Qualitätssicherung. Wie kann die Medizin abseits stehen, wenn schon fast jeder Kleinstbetrieb Qualitäts-zertifiziert sein will! Und was Qualität ist, das bestimmt einmal mehr der Kunde. Übersehen wir doch geflissentlich, wie schwer die Definition von Qualität in der Medizin fällt, überlassen wir es dem freien Markt! Das klingt nicht bloß nach Gewinn statt Defizit, sondern stellt den mündigen Kunden in den Mittelpunkt. Doch wie beurteilt der Patient Qualität? Ist der qualitätsvollste Medizinanbieter stets der, der die meisten Patienten am effizientesten „über den Tisch“ ziehen kann?

So wird es nie ausgesprochen und hoffentlich auch nicht gemeint. Es bieten die derzeit erforderliche umfassende medizinische Dokumentation, die allumfassende elektronische Datenverarbeitung die historisch einmalige Chance, sich wirklich mit der Qualität der Diagnose und Therapie noch eingehender als bisher auseinander zu setzen. Was hilft wirklich, was verbessert die Lebensqualität, was verlängert das Leben, was ist sinnvoll, was ist unter Alltagsbedingungen effizient? Eine Herausforderung an alle, die im Gesundheitswesen tätig oder von ihm betroffen sind, eine Chance zur Verbesserung der ärztlichen Tätigkeit.

Mündigkeit

Vorbei die Zeit, als ein Arzt von oben herab einem Patienten diktierte, was gut für ihn ist. Der heutige Kunde informiert sich, wählt aus, entscheidet – er ist mündig.

Tatsächlich ist es gut, wenn kein Patient verschreckt in seinem Krankenhausbett liegt und sich nicht zu fragen getraut, was mit ihm eigentlich los ist und was geschehen wird. Wie aber sieht es mit der mündigen Entscheidung aus? Auf welche Daten und welche Erfahrung kann sich ein Patient stützen, wenn er sich entscheiden soll? Wer als Arzt schon einmal in der Rolle des Patienten war, weiß, wie rasch man an den Punkt gelangt, an dem man einfach einem Kollegen vertrauen muss. Spätestens dann, wenn eine Erkrankung oder deren Therapie außerhalb des eigenen Erfahrungshorizonts liegt.

Ohne Frage bleibt die letzte Entscheidung, was wann geschehen soll, absolut dem Patienten vorbehalten. Diese Entscheidung wird aber in Zukunft ebenso wie bisher nur zum geringen Teil von nüchterner Sachkenntnis geprägt sein – viel eher aber davon, wem der Patient sein Vertrauen schenkt. Damit liegt die besondere Verantwortung wieder beim Arzt als Vertrauensperson – er soll und muss seine Sicht der Situation und seine Empfehlung dem Patienten nahe bringen. Befürchtet man dabei auch ein Wiederaufleben des paternalistischen Prinzips, das man überwunden glaubte, so ist der Versuch, die Entscheidung allein dem Patienten zu überlassen, in höchstem Maße bedenklich. Bis er ausreichende Erfahrung gesammelt hat, welche Therapie für ihn gut ist oder nicht, ist er möglicherweise schon tot. Falsch verstandene, weil in der Realität nicht gegebene „Mündigkeit“ kann den Patienten schutzlos, die Ärzteschaft verantwortungslos und feige werden lassen.

Wieder aber gibt es eine positive Seite: das mehr an konkreter Information, das uns zur Verfügung steht, die größere Menge an Daten, die größere Erfahrung im weiteren Sinne auf Grund besserer Kommunikation, kann uns in unseren Empfehlungen und Entscheidungen sicherer werden lassen. Und dadurch kann das Vertrauen der Patienten in uns nicht nur stärker, sondern auch berechtigter werden.

Mensch und Bildschirmqualität

Die rasche Übertragung digitaler Daten einerseits, und der physische, psychische und materielle Aufwand andererseits, der immer noch mit einem Ortswechsel von Patient oder Arzt zum Zweck des direkten Treffens verbunden ist, führt zur Entwicklung der Telemedizin. Kein langes Warten in einer überfüllten Arztpraxis, keine lästige direkte Konfrontation mit dem Patienten für den Arzt – alles geht via Bildschirm. Eine Hilfskraft oder der Patient selbst nimmt statische oder bewegte Bilder auf. Diese werden zu einem Experten übertragen, der sie am sterilen Monitor beurteilt und davon Diagnose und Therapie ableitet. Alles wird schonender, einfacher und verlässlicher. Das Erscheinungsbild des Menschen in Pixel aufgelöst, der Fluss der Gedanken in digitale Codes verpackt. Kaum ein medizinisches Fachgebiet kann derzeit an der Telemedizin vorbeigehen. Besonders intensiv wird Telemedizin – man will es kaum glauben – in der Psychiatrie getestet.

Nicht zu leugnen sind die Chancen, die die elektronische Datenübertragung bietet. In Sekundenschnelle kann eine zweite Meinung eingeholt werden. Es kann bei seltenen Erkrankungen ein Experte mit großer Erfahrung konsultiert werden. Für die histologische Befundung können klinische Informationen in Form von Bildern anstelle holpriger Beschreibungen mitgeliefert werden. Antarktische Forschungseinrichtungen können auf Tausende Kilometer hinweg medizinisch betreut werden. Telemedizin abzulehnen, wäre ebenso unsinnig als hätte man vor 100 Jahren verweigert, das Telefon für medizinische Fragen zu nutzen.

Deutlich sichtbar, aber gern verschwiegen sind die Risken der Entwicklung, hell leuchtet das möglicher Einsparungspotential über den Fortschrittsjüngern. Viel weniger Ärzte braucht man, weil man den einzelnen am Internet viel besser nutzen kann als das Auslaufmodell in der Praxis vor Ort. Nachdem es billiger ist, wird man es zunehmend in die Grundversorgung der Minderbemittelten einbauen. Nicht zufällig sind etliche Telemedizinstudien ausgerechnet in Gefängnissen und Altenpflegeheimen durchgeführt worden – damit sich kein Arzt persönlich hinbewegen muss und die Insassen froh sein sollen, dass sie überhaupt behandelt werden. Wird der direkte Arzt-Patienten-Kontakt zur Luxusmedizin, zum Privileg für Begüterte?

Wollen wir auf jeden nicht digitalisierbaren Aspekt der Arzt-Patient-Interaktion verzichten? Muss sich der Patient mit der wissenschaftlichen Expertise in digitaler Form begnügen, ohne Menschen, der ihm die Bedeutung und Konsequenz eines Befundes, einer Maßnahme aus eigener Erfahrung erläutern kann? Der seine Sorgen und Ängste versteht? Der ihm Vertrauensbasis und menschliche Sicherheit geben kann?

Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit

Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Oft ist die Verflechtung schwer zu durchschauen, und die Medizin am Beginn des 21. Jahrhunderts gibt dazu ein eindrucksvolles Beispiel. Die Apparatemedizin hat es geschafft, im Großen und Ganzen als hart und unmenschlich hingestellt zu werden, Intensivstationen werden als Horrorszenarien gezeichnet. Aus diesen Gründen hat sich die Öffentlichkeit in den letzten Jahren besonders mit der Frage der Sinnhaftigkeit therapeutischer Interventionen in den letzten Lebensphasen auseinandergesetzt, und auch das aktive Töten, fälschlich als Sterbehilfe bezeichnet, wurde enttabuisiert. Stets scheint es darum zu gehen, das Leiden verkürzen, das Recht auf Selbstbestimmung gewährleisten zu wollen. Fürwahr hehre Ziele, die interessanterweise fast immer von Gesunden diskutiert werden, während der Kranke, der Mensch mit einer unheilbaren Krankheit, kaum zu Wort kommt. Wieder einmal maßen sich Menschen an, darüber zu entscheiden, ob das Leben eines anderen „lebenswert" ist oder beendet werden soll.

Die „Freiwilligkeit“ des Entschlusses, aus dem Leben zu scheiden, ist dabei nur Schein. Wesentlich dafür sind die Umstände, die die medizinische Betreuung, die menschliche Betreuung in Form der Begleitung eines Sterbenden, nichtzuletzt die Erwartung der Angehörigen und der Gesellschaft umfassen. Und dieser wird eine einfache Entscheidung nahe gelegt: Medizin kostet Geld, Intensivmedizin besonders viel, und die Betreuung in der letzten Lebensphase am meisten. Nachdem man sich politisch an das Sanieren des Gesundheitswesens macht und nicht davor zurückschreckt, eine der größten humanitären gesellschaftlichen Leistungen zu untergraben, gelangt man zu einem einfachen Schluss: kostengünstig sind der Gesunde und der Tote, nur der Kranke stürzt uns in die roten Zahlen. Darum gilt es, diese Phase zwischen Gesundheit und Tod möglichst kurz zu halten. Beinhartes Rechnen und zum Teil durchaus wohlmeinende, aber fehlgeleitete Gefühlselemente können hier noch eine unsägliche Potenzierung eingehen.

Gerade in der Frage der Sterbebegleitung und der Verhinderung der Tötung Schwerkranker sind christliche Grundwerte gefragt. Und auch ein Appell an die Solidarität der Gemeinschaft: solange die Ausgaben für Fernreisen stärker steigen als die Ausgaben für unsere kranken Mitbürger, solange können wir uns die medizinische Versorgung wohl auch leisten.

Paradigmenwechsel

Kaum ein medizinischer Kongress der letzten Jahre konnte ohne das Schlagwort vom Paradigmenwechsel in der Medizin, der bevorsteht, stattgefunden hat, im Gange ist oder dringend geboten erscheint, auskommen. Wie sich fast jeder unter Paradigma vorstellen darf, was er möchte – sofern er nicht auf eine gründliche philosophische Vorbildung zurückgreifen kann – so lässt erst recht die Frage, von welchem Paradigma weg und zu welchem hin gewechselt werden soll, alle Wünsche offen.

Einerseits konnte man das so verstehen, dass man von einem rein naturwissenschaftlich-mechanistischen Verständnis des Menschen (wer hatte das schon!) wegkommen will zu einem ganzheitlichen Verständnis (welche Anmaßung, die Schöpfung ganz zu verstehen zu wollen). Viel öfter aber wurde der Paradigmenwechsel instrumentalisiert, um von der nachweisbaren Wirkungslosigkeit insbesondere sogenannter „neuer“ Heilmethoden abzulenken. Wollte man damit den kühlen Wind der laufenden Kritik und Selbstkritik, der uns in den letzten Jahrzehnten vielfach die Augen über die Grenzen etablierter medizinischer Verfahren geöffnet, manchmal aber auch die Entwicklung hilfreicher Strategien gezeigt hat, aus dem Weg gehen? Wollte man zurück zu einem „einfachen“ Verständnis der Medizin, bei dem stets der Recht hat, dem der Patient glaubt, dem er vertraut? Will man sich darüber hinweg lügen, dass es Irrtümer geben kann, denen Arzt und Patient erliegen?

Ohne den Begriff des Paradigmenwechsels grundsätzlich werten zu wollen: sollte ein Technokrat vergessen haben, dass der Mensch – der gesunde und der kranke – auch eine Seele hat, so ist eine Änderung dieser Einstellung dringend notwendig. Will man aber kritische Beobachtung und Überprüfung durch Propaganda und Aberglauben ersetzen? Lieber nicht.

Alles geht

Leben beenden kann der Mensch schon sehr lange. Neu ist, dass er Leben zwar nicht schaffen, aber verändern und nach verschiedenen Vorstellungen manipulieren kann. Auf dem wissenschaftlichen Sektor wird getan, was getan werden kann. Gerne wird dem Wissenschaftler unterstellt, dass er ohne Rücksicht auf eventuell tangierte Werte seine Forschungsvorhaben durch pure Neugier verfolgt. Wohl wichtiger dürfte die Triebfeder der materiellen Gewinnerwartung sein, die jedes Forschungsfeld, das irgend wann in der Zukunft wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet, fördert. Und dafür auch stets die wissenschaftlichen Handlanger zu finden scheint, die zur Umsetzung nötig sind. Ob Versuche an menschlichen Embryos, Klonen von Lebewesen, gentechnische Manipulation – gegenwärtiges gesellschaftliches Zögern wird bedeutungslos angesichts dessen, was eine weiter „fortgeschrittene“ Sozietät ohne unsere heute noch stellenweise vorhandenen Tabus daraus lukrieren wird können. Alles geht. Oder: alles wird gehen.

Ethik und Werte

Steht dem keine Ethik entgegen? Gibt es noch immer Universitäten, an denen kein Lehrstuhl für medizinische Ethik eingerichtet worden ist? Tatsächlich, aber glücklicherweise gibt es überall Ethikkommissionen, die medizinische und wissenschaftliche Aktivitäten dahingehend überprüfen, ob sie im Konsens mit den gesellschaftlichen Normen stehen. Auch wenn diese Einrichtungen segensreich sind und nicht nur ein Feigenblatt zur Diversifizierung und Anonymisierung der Verantwortung darstellen, bleibt die Frage: wie verlässlich ist die gesellschaftliche Norm? Welche Werte stellt die Gesellschaft in den Vordergrund? Wie lassen sie sich begründen? Welchem Wandel sind sie unterworfen? Eine Frage, die insbesondere angesichts der jüngsten Entwicklungen, Ethik als Alternative, ja als Gegenpol zur Religion zu lancieren, aktuell ist.

Betrachtet man all jenes, was im Laufe der Jahrhunderte an ein und demselben Ort der Welt – oder in ein und demselben Jahr an verschiedenen Orten der Welt – als ethisch richtig oder falsch betrachtet wird, so ist das Ergebnis bestürzend. Denke man nur an die unterschiedlichen Wertungen, die Todesstrafe, Kindestötung, ethnische „Säuberung“, Rache, Menschenopfer, Sippenhaftung in dieser Raum-Zeit-Skala erfahren haben! Es wird deutlich: Ethik ist eine Dienerin des Zeitgeistes, manchmal eine zögerliche, manchmal eine willfährige, aber stets eine Dienerin. Sind die grundlegenden Werte gut, kann darauf ethisch Bezug genommen werden und es wird Gutes dabei herauskommen. Sind die grundlegenden gesellschaftlichen Werte schlecht, wird die Ethik zum schöngeistigen Mantel von Verbrechen.

Man kann an nicht hinterfragbare Werte – das Leben, die Liebe, die Einzigartigkeit eines menschlichen Wesens, die Güte, die Hilfsbereitschaft – glauben, man kann sie aber nicht im wissenschaftlichen Sinne als „gut“ beweisen. Man kann sie in den Raum stellen und um die Werte herum ethische Überlegungen, Richtlinien, Anleitungen und Positionierungen knüpfen. Den Sinn der Werte kann man sich nicht aus den Fingern saugen, die Werte selbst muss man als von höherer, transzendenter Instanz vorgegeben akzeptieren. Zum Beispiel als religiöse Vorgabe.

Dem „Alles, was gemacht werden kann, wird auch gemacht werden“ wird man ethisch allein nicht gegensteuern können. Breiter Konsens zu übergeordneten Werten, die den Menschen in das Zentrum rücken, wird notwendig sein, damit in der Medizin möglichst viel Gutes und möglichst wenig Schlechtes gemacht wird.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Josef Smolle
Klinik für Dermatologie und Venerologie
Auenbruggerplatz 8, A-8036 Graz

Institut für Medizinische
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