Psychoonkologie: Zu Konzept und Erfahrungen

Imago Hominis (2001); 8(1): 58-61
Gerda Felder

Trotz großer medizinischer Fortschritte ist Krebs nach wie vor eine Krankheit, die Menschen wie keine andere erschüttert und in Frage stellt. Das Phänomen Krebs hat viele Gesichter und zeigt sich lange bevor körperliche Symptome augenfällig werden. Manche Patienten beschreiben es als Gefühl von Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, als das Gefühl, nicht das eigene Leben zu leben. Manche beschreiben es als Gefühl von Leere inmitten von Alltagsstress, als Gefühl von Einsamkeit unter vielen Menschen. Manche beschreiben es als Unachtsamkeit mit dem eigenen Körper, als Übergehen der Signale des Körpers, zuviel rauchen, schlechte Ernährung. Man kann das unendlich fortsetzen. Viele sehr unterschiedliche Faktoren werden mit der Krebsentstehung in Zusammenhang gebracht. Zusammenfassend kann man sicherlich sagen: Krebs ist nicht nur eine Krankheit des Körpers, sondern eine Krankheit des ganzen Menschen, also auch der Seele, der Lebensweise und des Umfelds des Patienten. Deshalb ist es unumgänglich, dass auch die Behandlung, an diesen unterschiedlichen Ebenen ansetzen muss. Die Psychoonkologie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen diesen Ebenen und ist eine Ergänzung zur medizinischen Behandlung. Neben Chemotherapie, Operation oder Bestrahlung müssen auch die „Gesundungskräfte“ gefördert werden, wobei „Gesundung“ in diesem Sinn unabhängig von der Krebsheilung verstanden werden muss. Es geht um das Finden eines Weges, der für den Patienten gut und stimmig ist, auch wenn er schließlich zum Tod führt. Diese „Gesundungskräfte“ liegen in vielen verschiedenen Bereichen: In der Lebensweise, im sozialen Umfeld, in der Partnerschaft, in der psychischen Befindlichkeit, in spirituellen Quellen. Übergeordnete Ziele der Psychoonkologie sind Vorsorge und Nachsorge, also einerseits das Erfassen und Regulieren von krankmachenden Faktoren, andererseits die Bewältigung der manifesten Krankheit und ihrer Folgen. Unabhängig vom Krankheitsstadium oder Prognose geht es um die Gestaltung eines lebenswerten Lebens bis zuletzt. Nun sollen einige praktische Ziele und Herausforderungen der Psychoonkologie kurz zusammengefasst werden:

1. Unterstützung in der akuten Krise

Die Diagnose Krebs ist ein Schock und eine massive Bedrohung. In seinen Gefühlen der Angst und Ungewissheit braucht der Patient vor allem eine Vertrauensperson, die zuhören und verstehen kann. Einfach über seine Gefühle zu sprechen, kann eine große Entlastung sein. Auch wenn sich (noch) keine Worte finden lassen, tut es gut, jemand zu wissen, der einfach da ist und sich verfügbar hält und dem Patienten vermittelt, dass er nicht allein ist.

2. Das Gespräch fördern

Deshalb ist es ein wichtiges Anliegen der Psychoonkologie, das Gespräch zu fördern. Krebs ist für viele Menschen ein Tabu. Man ist unsicher, wie die Themen, die alle Beteiligten am meisten beschäftigen, angesprochen werden können, ohne den anderen zu belasten: Wie spricht man über Angst, Ungewissheit, Verlust, Trauer, Tod und Sterben? Aus dem Wunsch heraus, den anderen zu schonen, entstehen Sprachlosigkeit und Isolation. Unserer Erfahrung nach ist diese Isolation , die wie ein sozialer Tod erlebt wird, einer der tiefsten Gründe, weshalb Patienten auch biologisch nicht mehr leben wollen. Eine zentrale Aufgabe der Psychoonkologie ist es, in solchen Fällen die Kommunikation zu fördern und auch die Angehörigen zu unterstützen. Dieser Rückhalt ist notwendig, um sich in der neuen Situation zu orientieren.

3. Orientierung in der neuen Situation

Die Diagnose Krebs wird wie ein Sturz aus der normalen Wirklichkeit erlebt, – der Patient durchläuft unterschiedlichste Phasen sehr intensiver Gefühle, bis er sich zurechtfinden kann. Die neue Wirklichkeit ist fremd, bedrohlich und birgt trotzdem eine Chance: Die Krankheit ist für viele Patienten auch ein Neubeginn. Die neue Situation wirft ein Bedürfnis nach Rückschau auf: Die Frage: „Warum gerade ich?“, „Was hat mich krank gemacht?“ ist Anstoß, das eigene Leben nach Belastungen zu durchforsten. Andererseits wirft sie auch die Frage auf: „Was macht mich gesund?“ und spielt dem Patienten den Ball zu, sich aktiv für das einzusetzen, was ihm guttut.

4. Anregung zur Aktivität

Die Psychoonkologie versucht den Patienten anzuregen, aktiv zu werden. Es hat sich gezeigt, dass Patienten, die ihr Leben und ihre Behandlung aktiv mitgestalten, „aufmüpfig“ und „unbequem“ sind, bessere Prognosen und bessere Lebensqualität haben, als solche, die sich passiv verhalten. Die Konfrontation mit dem Tod stellt die Frage nach den Wünschen ans Leben in den Raum. Längst vergessene Ziele und Lebensträume können wieder gegenwärtig werden. Es entsteht das Bedürfnis, an Dinge heranzugehen, die schon längst fällig gewesen wären. Unabhängig davon, wieviel Zeit noch bleibt und unabhängig davon, ob der Patient geheilt werden kann, ist es wichtig, sich zu fragen „Was möchte ich erlebt haben, bevor ich sterbe?“ bzw. „Wie kann mein Leben erfüllt – vollendet- werden?“, „Was sind meine wirklichen, meine ganz individuellen Lebensziele?“

5. Entwicklung individueller Lebensziele

Krebspatienten sind häufig Menschen, die viel Rücksicht auf andere nehmen, Erwartungen anderer erfüllen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, ja sogar vergessen. LeShan hat das so ausgedrückt, dass Menschen dann krank werden, wenn sie nicht mehr ihre eigene Lebensmelodie singen, sondern die Lieder anderer. Er sieht die Krankheit als eine Art von Kurskorrektur, einen unbewussten Lösungsversuch, der die Wertvorstellungen neu in Frage stellt. Die Krankheit bewirkt, dass sich der Patient wieder auf sich selbst besinnt, sich weniger fragt, was er sollte, sondern mehr, was er möchte. Manche Pläne und Ziele, die dem Patienten früher wichtig waren, erübrigen sich dadurch, andere müssen modifiziert werden. Ziele an die aktuelle Situation anzupassen und in kleine, konkrete, sofort erreichbare Schritte einzuteilen gibt Vertrauen, etwas bewirken und das Geschehen mitbeeinflussen zu können. Nicht selten erleben wir, dass Patienten sagen, dass ihr Leben durch die Krankheit reicher und erfüllter geworden ist.

6. Klärung von Gedanken und Gefühlen bezüglich Sterben und Tod

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist besonders belastend, wenn der Patient das Gefühl hat, noch nicht wirklich gelebt zu haben. Sich der Trauer über Verlorenes oder – was oft noch schlimmer ist – nie Erlebtes zu stellen, braucht Rückhalt und einen Rahmen, in dem der Patient seine Gedanken und Gefühle zum Thema Tod und Sterben wirklich zulassen kann. Ein Rückblick über das bisherige Leben konfrontiert nicht selten mit Unerledigtem, das geklärt und geregelt werden sollte: Das Klären einer belastenden Beziehung, ein schon lange fälliges Gespräch, das Regeln der Hinterlassenschaft, sich das eigene Begräbnis vorzustellen und dergleichen können als sehr befreiend empfunden werden, so dass der Patient, auch wenn er wieder gesund wird, dankbar für diesen Prozess ist.

7. Betreuung der Angehörigen

Die Angehörigen sind oft ebenso belastet wie der Patient selbst und brauchen Unterstützung. Wenn Angehörige Druck auf die Betreuer machen, Unmögliches verlangen, Schuldige suchen, kann das Ausdruck sein für ihre Verzweiflung über die eigene Ohnmacht, die eigene Ambivalenz, oder für etwas, das zwischen ihnen und dem Patienten noch offen ist und das es unmöglich macht, sich wirklich zu verabschieden. Die Angehörigen werden auch über den Tod des Patienten hinaus unterstützt. Dieser Rückhalt soll helfen, die Trauerphase gut zu überstehen, die Trauer zu durchleben, um sie schließlich hinter sich lassen zu können.

8. Arbeit mit BetreuerInnen und Vernetzung aller, die an der Betreuung beteiligt sind

Auch für die Betreuer ist Krebs eine Herausforderung und konfrontiert mit eigenen Ängsten, mit Verlust und Trauer. Betreuer müssen daher sehr achtsam mit ihren Grenzen umgehen und auch für sich Unterstützung, beispielsweise Supervision, in Anspruch nehmen. Nur wenn der Betreuer auch auf sich selbst und sein Wohlbefinden achtet, kann er wirklich präsent und verfügbar sein. Ein wichtiges Ziel der Psychoonkologie ist auch die Vernetzung der verschiedenen Berufsgruppen, die an der Behandlung beteiligt sind. Die Zusammenarbeit soll gefördert werden, so dass der Patient das Netz, in dem er seine Behandlung erfährt, als sinnvolles Ganzes erlebt und sich geborgen fühlt.

Wie ist nun der praktische Rahmen, in dem Psychoonkologie stattfindet? Die Psychoonkologie ist eine Haltung, die sich durch alle Berufsgruppen zieht, die mit Krebspatienten arbeiten. Als Beispiel für ein ambulantes Modell soll das Konzept des netzwerk „krebs – vorsorge – nachsorge“ vorgestellt werden: Das netzwerk ist ein gemeinnütziger Verein, der seit dem Jahr 1988 besteht. Hauptziel ist es, den Patienten in möglichst vielen seiner Bedürfnisse aufzufangen und ihm ein lebenswertes Leben in seinem von ihm gewählten Umfeld zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist die Förderung einer erweiterten Sichtweise von Gesundheit und Krankheit im Sinne von Vorsorge. Das Team des netzwerks „krebs – vorsorge – nachsorge“ ist interdisziplinär: Diplomkrankenschwestern, PsychotherapeutInnen (ÄrztInnen, PsychologInnen, Theologen), HeilmasseurInnen, LymphtherapeutInnen, Seelsorger, Sozialarbeiterin und Laienhelferinnen für die Heimhilfe. Alle netzwerk-MitarbeiterInnen haben, unabhängig von ihrem Grundberuf, eine psychoonkologische Zusatzausbildung. Die Angebote des netzwerks sind: Telefonische und persönliche Beratung, Psychotherapie, Hauskrankenpflege, Pflegeschulung für Angehörige, Lymphtherapie und Heilmassage, Heimhilfe, Sozialberatung, Seminare für Patienten, Angehörige und Interessierte und Fortbildung für BetreuerInnen. Von großer Bedeutung ist eine gut koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten, auch mit anderen Institutionen und niedergelassenen Ärzten sowie ein intensiver interdisziplinärer Austausch in Form von Intervisionen und Fallbesprechungen.

Im Folder der Hospizgemeinschaft steht ein Spruch von Ernst Ginsberg, der das ausdrückt, was die Arbeit mit Krebspatienten und Sterbenden so wertvoll macht:

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt,
sieh sie an,
die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr,
wer träumt und sinnt,
es könnt je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
ist die sicherste Wahrheit auf Erden.
Patienten haben mir Varianten vom Sommer gezeigt , die sie selbst, – und
ich schon gar nicht –, für möglich gehalten hätten. Deshalb bin ich der
Überzeugung, dass wir nichts anderes tun sollten, als den Patienten bis
zuletzt auf seinem ihm eigenen Weg zu begleiten, so dass er sein Leben auf
seine Art vollenden kann.

Eine Patientin, die trotz einer langen und belastenden Krankengeschichte zu der Ansicht kam, dass ihr Leben mit der Krankheit erst richtig angefangen habe, hat ihren Wahlspruch dem Talmud entlehnt: „Man wird des Weges geführt, den man wählt.“

Anschrift der Autorin:

Dr. Gerda Felder
Psyhotherapeutin und Supervisorin
Claudiastraße 14/2
A-6020 Innsbruck

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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