Kommentar zum Fall I

Imago Hominis (2014); 21(1): 62-64
Michael Peintinger

Ähnlich der Mehrzahl von ethischen Fallbesprechungen skizziert auch das hier beschriebene Szenario Aspekte der Selbstbestimmung des Patienten, die in unseren Breiten im Sinne einer „Autonomie als Schutzrecht“1 etabliert ist, das gemeinhin jede Behandlung ohne die Zustimmung oder gar gegen den Willen des Patienten verbietet. Zugleich birgt dieses Konstrukt auch die grundsätzliche Antwort der in der Überschrift aufgeworfenen Frage nach einer Begrenzung in sich, welche somit aus der Berührung oder gar Beeinträchtigung des Schutzrechts des je Nächsten resultiert.

Ehe diese mögliche Grenze in der konkreten Fallschilderung näher betrachtet wird, soll das Hauptaugenmerk jedoch auf die Selbstbestimmung des Patienten gerichtet werden.

Verfolgt man die Darstellung anhand der unterschiedlichen Akteure und ihrer Handlungen, scheint zunächst gar nicht die Selbstbestimmung des Patienten, sondern jene anderer Personen im Vordergrund zu stehen. Es sind nämlich die Töchter, welche offenbar die Initiative ergreifen und den Kontakt mit den Chirurgen suchen. Wohl ist zu vermuten, dass dies in Abstimmung mit dem Vater geschehen ist. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass seine Einwilligung zur Begegnung weniger einem freien inneren Antrieb nach Sanierung entspringt, als vielmehr aus Rücksicht auf die möglicherweise häufig innerfamiliär thematisierte Belastung der Töchter, die wiederum – wie es der Kontext nahelegt – wohl zumindest aus der krankheitsbedingten Unansehnlichkeit des Vaters resultiert.

Die Selbstbestimmung des Patienten selbst zeigt sich jedoch zweifellos in seiner Bereitschaft, die lange Anreise zur Begutachtung in Kauf zu nehmen. Dabei mag es zugleich ein wenig verwundern, dass sich die Besorgnis der Töchter, die selbst im Gesundheitsbereich tätig sind, nicht auch auf die Beibringung relevanter Unterlagen und Vorbefunde erstreckt.

Beim Arztbesuch wird der Patient zwar anfangs als „verängstigt wirkend“ beschrieben, ist aber dennoch im Verlauf offenbar stark und im Sinne seiner Autonomie auch selbstmächtig genug, um seinen Zigarettenkonsum nicht nur zu bestätigen, sondern zugleich auch seinen Willen zu bekräftigen, das „stigmatisierte“ Rauchen keineswegs aufzugeben.

Der Selbstbestimmung im Sinne der „3-Säulen-Aspekte“ wird anschließend wohl in qualitätsvoller Weise durch ein langes Aufklärungsgespräch Rechnung getragen, bei dem die Rekonstruktionsmöglichkeiten ebenso umfassend und mit graphischer Unterstützung dargestellt wie auch die Fragen ausreichend beantwortet werden. Leise Zweifel hinsichtlich der für autonome Entscheidungen doch meist notwendigen Reflexionszeit melden sich, wenn es im Text heißt, dass eine „Bedenkzeit“ eingeräumt und eine anschließende Einwilligung beider (Tochter und Vater) in die Operation erfolgt. Dies erstens, weil sich Skepsis einstellt, ob diese kurze Bedenkzeit in einem ersten Begutachtungsgespräch gerade in so komplexen und tiefgreifenden operativen Situationen ausreichen mag. Zum zweiten erhebt sich die Frage, weshalb auch die Tochter „einwilligen“ sollte. Schließlich lässt sich drittens anführen, dass – folgt man dem Text – erst nach dieser Gesamteinwilligung die umfassende Erläuterung der Verhaltensweisen zur Unterstützung des Operationserfolges ausführlich besprochen zu werden scheinen. Hier zeigt sich, dass die so genannte Sicherungsaufklärung nicht sinnvoll von der Aufklärung zur Operation und den aus ärztlicher Sicht unverzichtbaren Beiträgen des Patienten (Nahrungskarenz, Sprechverbot, Rauchverbot) getrennt werden können, da die Zustimmung zur Operation wohl auch der Kenntnis dieser als notwendig erachteten Verhaltensweisen bedürfen wird.

Der weitere Verlauf der Fallschilderung zeigt sowohl diese zuletzt genannte Problematik als auch die grundsätzlichen Grenzen therapeutischen Handelns auf. So sehr sich der Patient offenbar bemüht, ein über 40 Jahre geübtes Verhalten von einem auf den anderen Tag zu verändern, so wenig überraschend erscheint es, dass dies misslingt. Dennoch sollte auch hier das Verhalten des Patienten nicht vorschnell abqualifiziert werden. Seine Strategie, zur Beherrschung des Verhaltens vermehrt in den Wald zu gehen, zeigt doch eine grundsätzlich autonome Lösungskompetenz, selbst wenn diese letztlich scheitert. Insofern lässt sich allerdings aufgrund der Anamnese zugleich fragen, ob der Rat, 14 Tage vor der Operation mit dem Rauchen aufzuhören, nicht auch ein bisschen wirklichkeitsfremd anmutet. Keinesfalls jedoch sollte in diesem Zusammenhang vorschnell von „mangelnder Compliance“ des Patienten gesprochen werden, die seitens der Ärzteschaft oft noch unreflektiert als bloße Folgsamkeit des Patienten gegenüber ärztlicher Anordnungen verstanden wird und die Macht langjähriger Einflüsse verkennt.

Schließlich lässt sich ebenfalls die Respektierung der Selbstbestimmung – vermutlich bei gleichzeitiger Resignation der Töchter – erahnen, wenn im Rahmen eines Schreibens, offenbar aufgrund der erfolglosen Bemühungen, jede weiteren Therapieschritte abgelehnt werden.

In einer Zusammenschau dieser einzelnen Aspekte lässt sich somit zunächst sagen, dass die Selbstbestimmung des Patienten im Großen und Ganzen nicht nur gewahrt, sondern auch bei seinen mehrfachen Entscheidungen in unterschiedlichen Szenarien unter Beweis gestellt wurde.

Abseits dessen ließe sich, wie am Beginn angekündigt, jedoch auch die Frage erheben, inwieweit die Ausübung der Selbstbestimmung des Patienten zugleich das Schutzrecht seiner Familie tangiert, etwa weil diese nun noch weiter einem offenbar schwer verkraftbaren Anblick, möglicherweise auch verbunden mit geruchsbedingten Beeinträchtigungen, ausgesetzt sein würde. Auch diese Aspekte werden wohl in einer guten und vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung thematisiert werden können und stellen dabei noch keinen Anschlag auf die freie Entscheidung des Patienten dar. Dabei mag die Einschätzung des Arztes, insbesondere wenn er womöglich auch die übrigen Familienmitglieder betreut und deren Sorgen und Nöte kennt, durchaus auch thematisiert werden können. Zugleich allerdings sollte dabei eine besondere Sensibilität hinsichtlich der darin verborgenen Gefahrenmomente beobachtet werden. Jede bewusste Manipulation des Patienten, insbesondere mithilfe von moralisch gewichtigen Argumenten, muss unbedingt vermieden werden. Ebenso sollte die Grenze zwischen einem „Überzeugen“ – also der Erarbeitung einer selbstständigen Einsicht, die eine einigermaßen freie Entscheidung ermöglicht – und einem problematischen „Überreden“ im Sinne einer verborgenen Nötigung strikt beachtet werden. Nur eine empathische, nicht wertende Überzeugungsarbeit ohne Zermürbung und ohne Einschränkung der Freiheit des ohnehin in einer schwächeren Situation befindlichen Patienten wäre zulässig. Im Zweifelsfall aber sollte nicht verkannt werden, dass der Patient der vorrangige Partner im therapeutischen Prozess ist und bleibt, weshalb andere noch so hehre und die Gesamtsituation einbeziehende Überlegungen seinen Motiven deutlich nachgereiht werden müssen.

So verständlich es jedenfalls in Einzelfällen erscheinen mag, die Belastung Dritter in ähnlichen Kontexten zu thematisieren, so muss doch auch bedacht werden, dass sich derartige Überlegungen leicht verselbstständigen, an Bedeutung zunehmen und sich schließlich auch unversehens gegen die betreffenden Personen wenden können. Dies mag zunächst bei halbherzigen Therapiezustimmungen aufgrund der Interessen von Angehörigen beginnen und zu ebenso wenig freien Therapieablehnungen führen, die aus Rücksicht vor drohenden familiären Belastungen getroffen werden.

Und wird nicht auch heute die Bitte um eine „erlösende Spritze“ mitunter eher von Angehörigen angesprochen, deren Mitleid sich häufig als Hilflosigkeit entpuppt, eine Situation „selbst nicht mehr mitanschauen können“? Könnte aus diesem Aspekt heraus nicht schließlich auch der Gedankengang entstehen, dass beispielsweise den Menschen mit diagnostizierten progredienten Demenzerkrankungen eine „selbstbestimmte Verantwortlichkeit“ nahegelegt wird, beizeiten einen Therapieverzicht (etwa per Patientenverfügung) festzulegen, um Angehörige und Gesellschaft nicht über Gebühr zu belasten?

So gesehen sind abseits der mittlerweile wohl allgemein anerkannten Bedeutung der Patientenautonomie die Begrenzungen im Sinne der Respektierung des Schutzrechts Dritter wahrzunehmen und gegebenenfalls in alle gemeinsamen therapeutischen Überlegungen einzubeziehen. Dies kann und muss jedoch zugleich einer ständigen Reflexion unterliegen, inwieweit der Vorrang der individuellen Selbstbestimmung dadurch beeinträchtigt wird. Das gelingt, wenn der Patient als – gelegentlich auch problematisches oder sehr schwaches – zentrales Gegenüber unserer therapeutischen Partnerschaft angesehen wird und es ungeachtet aller sozialen und ökonomischen Einflüsse auch bleibt.

Referenzen

  1. Zu den Selbstbestimmungsaspekten siehe: Peintinger M., Ethische Grundfragen in der Medizin, Facultas (2008), S. 86 f.

Anschrift des Autors:

Univ.Lektor OA Dr. Michael Peintinger
Krankenhaus „Göttlicher Heiland“
Dornbacher Straße 20-28, A-1170 Wien
michael.peintinger(at)meduniwien.ac.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: