Spiritualität und Pseudospiritualität in der Medizin

Imago Hominis (2014); 21(1): 49-59
Clemens Pilar

Zusammenfassung

Spiritualität wird als wichtige Ressource im therapeutischen Bereich wiederentdeckt. Der Begriff der Spiritualität, herausgelöst aus seinem ursprünglichen christlich-religiösen Kontext, wird jedoch sehr unterschiedlich interpretiert und unterliegt einem inflationären Gebrauch. Neben sinnvollen Ansätzen, die spirituelle Dimension des Menschen im therapeutischen Bereich zu berücksichtigen, findet man besonders auf dem Gebiet der Alternativmedizin häufig Therapien, die unter dem Etikett der „Ganzheitlichkeit“ in Wahrheit die Personalität des Menschen leugnen und lediglich eine Pseudospiritualität anbieten.

Schlüsselwörter: Spiritualität, Pseudospiritualität, Reduktionismus, Energetik, Bach-Blütentherapie, Edelsteintherapie

Abstract

Spirituality is being rediscovered as an important resource in the area of therapy. The concept of spirituality, detached from its original Christian religious context, is being interpreted very differently and is increasingly being used. In addition to a more meaningful approach to man’s spiritual dimension in the area of therapy, one finds – particularly in the field of alternative medicines – therapies today which deny, under the label of “holism“, the personhood of man and only offer a pseudo-spirituality.

Keywords: Spirituality, Pseudo spirituality, Reductionism, Energetic-Healing, Bach flower remedies, Gem therapy


Es ist erfreulich, dass trotz all der negativen Entwicklungen im Gesundheitssektor, die gegenwärtig immer wieder diskutiert werden, auch eine gegenläufige Bewegung unter Medizinern zu beobachten ist. Im Zusammenhang mit einer „Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens“,1 wird nun auch vermehrt wieder die Frage nach der Bedeutung der spirituellen Dimension des Menschen für die Medizin gestellt. Es ist naheliegend, dass sich auch Theologen und Seelsorger mit dieser Frage befassen. Als Medizin noch „Heilkunde“, und als solche immer eingebettet in eine religiöse Weltdeutung war, waren spirituelle Aspekte praktisch ein selbstverständlicher Teil der Therapien. Der Verlust dieser Einheit im Zuge des wissenschaftlichen Fortschrittes in der Medizin hat bekanntlich zu manchen unmenschlichen Auswüchsen geführt, die mit Schlagworten wie „Apparatemedizin“ oder „Fünf-Minuten-Medizin“ recht treffend bezeichnet werden. Da kann es dann gut sein, dass sich der kranke Mensch wie eine reparaturbedürftige Maschine behandelt fühlt. So ist es auch zu verstehen, dass trotz der unbezweifelbaren Segnungen und Erfolge der modernen Medizin zahlreiche Patienten nach „Alternativen“ Ausschau halten, die in Aussicht stellen, das Fehlende zu ergänzen.

Umso wichtiger ist es, dass nun auch im Rahmen der wissenschaftlichen Medizin wieder die Frage gestellt wird, wie die spirituellen Bedürfnisse der Patienten im Rahmen einer Therapie berücksichtigt werden können. Die Beobachtung, dass Menschen, die spirituellen bzw. religiösen Halt haben, tendenziell gesünder sind und eine höhere Lebenserwartung aufweisen, gibt einen berechtigten Anlass zu dieser Fragestellung. Die große Zahl an Publikationen zu diesem Thema zeigen aber auch, dass es keineswegs klar ist, was denn nun unter Spiritualität ganz allgemein zu verstehen ist und welche Bedeutung ihr speziell in der Medizin zukommen soll.

Auf dem breiten Markt der „Alternativen Medizin“ tummeln sich ja bereits zahlreiche Anbieter, die mit dem Versprechen arbeiten, den Menschen in allen Dimensionen seines Wesens – „Leib, Seele und Geist“ – zu behandeln. Zuweilen wird in diesen Zusammenhängen sogar von „Spiritueller Medizin“ geredet. Ob die solcherart angebotenen Heilmethoden dem behaupteten Anspruch aber wirklich gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt. Abgesehen von der mangelhaften medizinischen Qualität ist auch der Umgang mit den Begriffen wie „Ganzheitlichkeit“ oder „Spiritualität“ höchst fragwürdig.

Wie kann also eine neue seriöse Verbindung von Medizin und Spiritualität aussehen, wo aber wird man bestenfalls – genauso, wie man auch von „Pseudomedizin“ spricht – von „Pseudospiritualitäten“ sprechen müssen?

Zum Begriff „Spiritualität“

Im Zuge der Esoterik-Welle kam es zu einem inflationären Gebrauch des Begriffes Spiritualität. „Spiritualität“ ist heute ein Modewort der Wellnessindustrie. Ein Psychologe fragt sogar, ob es angesichts der zahlreichen Beutelschneider, die diesen Begriff verwenden, überhaupt noch eine Zukunft für einen vernünftigen Gebrauch des Wortes „Spiritualität“ geben kann.2 Wer auch immer heute mit diesem Begriff arbeitet, muss diese große Bandbreite an Bedeutungen bedenken. Für einen vernünftigen Gebrauch dieses Begriffs wird es deshalb hilfreich sein, zunächst dessen ursprüngliche Herkunft und Bedeutung zu umreißen, um dann auch zu sehen, welche Bedeutungserweiterungen legitim erscheinen, und wo andererseits Grenzen überschritten werden, so dass man bloß noch von „Pseudospiritualität“ sprechen kann.

Zunächst verweist der Begriff auf den biblisch-christlichen Kontext. Spiritus ist hier zu allererst der Heilige Geist, die dritte göttliche Person. Der Mensch als Geschöpf Gottes erhält das Leben durch die „Inspiration“ mit dem göttlichen Atem. Die Neschamah (lat. spiraculum vitae), der Lebensatem macht den Menschen zum lebendigen Wesen.3 Durch diesen von Gott kommenden Lebensatem weist die menschliche Existenz immer schon über sich selbst hinaus. Ohne den Lebensatem, im Lateinischen der Spiritus, kann der Mensch nicht existieren. Gott gibt den Atem, zu ihm kehrt er zurück.4 Dieser Lebensatem ist zugleich der Anteil des Menschen am göttlichen Spiritus. Damit ist der Mensch immer schon ein spirituelles Wesen. Das innerste Lebensprinzip des Menschen unterscheidet sich mithin vom Lebensprinzip der Tiere. Zwar wird der Mensch genauso wie die Tiere als Nefesch Chaj – als Lebewesen (oder lebendige Seele) bezeichnet, aber nur der Mensch wird durch die Neschamah belebt, die nicht einfach nur als Seele bzw. Lebenskraft verstanden wird, sondern als Geistseele. Kraft der Geistseele kann der Mensch mit Gott in eine personale Beziehung treten: „(Eine) geistige Seele haben heißt: ein Wesen sein, das von Gott auf ewigen Dialog hin gerufen und darin seinerseits fähig ist, Gott zu erkennen und ihm zu antworten. Was wir in einer mehr substantialistischen Sprache ‚Seele haben’ nennen, werden wir in einer geschichtlichen, aktualen Sprache bezeichnen ‚Dialogpartner Gottes sein’.“5

Bei Friedrich Weinreb finden wir eine interessante Deutung der hebräischen Begriffe für Krankheit und Gesundheit.6 Krankheit Chole hat dieselbe Wurzel, wie das Wort „gewöhnlich“ und das Wort „Sand“: Chol. Das Wort für Gesundsein wird vom Begriff für das Schöpferwirken Gottes abgeleitet. Bara heißt „erschaffen“, Beri „gesundsein“. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass der Mensch nur dann gesund sein kann, wenn er sich nicht im Alltag und dem „Gewöhnlichen“ verliert, sondern den Bezug zum Heiligen wahrt. Genaugenommen bedarf es, um gesund und ganz zu sein, des inneren Hörens auf den Schöpferruf Gottes.

Spiritualität meint dann in der christlichen Tradition im Unterschied zu einer rein äußerlich ausgeübten rituellen Religiosität die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott. Spirituelles Leben ist geistliches Leben, ist Leben aus dem Heiligen Geist, aus dem Geist Gottes.7 Durch seine spirituelle Natur ist der Mensch auf eine größere, ihn übersteigende Ordnung verwiesen. Auf diese Ordnung hin soll das Sinnen des Menschen gerichtet sein; diese Ordnung in Freiheit anzuerkennen und sich ihr einzufügen bringt dem Menschen Heil. Nicht nur das Seelenheil hängt von der sinnvollen Ausrichtung des Lebens ab, sondern auch die Gesundheit.8

Da sich diese höhere Ordnung als Ordnung der Liebe zeigt („Gott ist die Liebe“9), kann der Mensch ein sinnvolles Leben nur dann führen, wenn er diese Ordnung der Liebe anstrebt. Die Liebe aber zeigt sich am Dienst und an der Sorge für die anderen Menschen: „Was ihr einem meiner Geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan“.10 So wird die Sorge für die Armen und Kranken zu einem wesentlichen Aspekt christlicher Spiritualität. Ja, die Sorge für die Armen und Kranken wird als Gottesdienst verstanden. Christliche Spiritualität ist also nicht gleichzusetzen mit meditativer Selbstversenkung oder „Nabelschau“. Selbst christliche Mystik ist eine paradoxe Mystik: sie ist – wie es in jüngster Zeit Papst Franziskus vorschlägt – Mystik mit „offenen Augen“.11 Christliche Spiritualität öffnet für die persönliche Beziehung zu Gott und befähigt, Gott im Anderen, im Bruder und der Schwester zu finden. Der Begriff Spiritualität hat im christlichen Raum immer mit Beziehung zum Du zu tun. Zum Du Gottes und zum Du des Mitmenschen. Ein davon losgelöster Begriff von Spiritualität ergibt im christlichen Raum keinen Sinn.

Christliche Spiritualität öffnet für das Du und lässt den Menschen im anderen, auch und gerade im Armen und Kranken, Christus finden. Umgekehrt bedeutet Sorge für die Armen und Kranken nie bloße Sorge um den Leib, sondern immer auch Seelsorge, Sorge also um das Heil des Menschen. Alle Heilkunde stand deshalb im Dienst des ewigen Heils. Das IV. Laterankonzil ordnete z. B. an, dass der Patient vor dem Beginn einer medizinischen Behandlung zu beichten habe.12 Ohne Versöhnung mit Gott, ohne sich in diese göttliche Ordnung einzufügen, ist Heil, aber auch Heilung nicht denkbar. Jede Behandlung des Kranken hat mithin immer auch eine spirituelle Komponente und soll den Leidenden in eine tiefere Beziehung zu Gott führen.

Dieses Wissen, das sich in den biblischen Begriffen für Krankheit und Gesundheit aus drückt und in der christlichen Tradition der Sorge für die Kranken seinen Niederschlag gefunden hat, hat die Heilkunde bis in die Moderne geprägt, bis schließlich die naturwissenschaftliche moderne Medizin zur Trennung von Medizin und Religion geführt hat. Heilkunde war ohne Kunde vom Heil nicht denkbar. Die Sorge für die Kranken war ein unverzichtbarer Teil christlicher Spiritualität.

Spiritualität in der Medizin heute

Berücksichtigt man diese Begriffsgeschichte, ist es eine spannende Frage, was es bedeutet, wenn heute, unter geänderten kulturellen Bedingungen nach einer neuen Verbindung von Medizin und Spiritualität gesucht wird, ja wenn die „Wiedergewinnung einer verloren gegangenen Dimension“ in der Heilkunde gefordert wird. Was dabei ja meist ausdrücklich nicht angestrebt wird, ist eine neuerliche Verbindung von Medizin und (christlicher) Religion.

In der aktuellen Verwendung wird der Begriff „Spiritualität“ oft sogar als Gegenbegriff zur „Religiosität“ verstanden. So ist es heute nicht ungewöhnlich, dass Menschen sich als spirituell, jedoch areligiös bezeichnen. Gemeint ist damit meist allerdings bloß eine Abgrenzung gegenüber religiösen Institutionen. Wo der Begriff Spiritualität von jeder religiösen Sinngebung abgekoppelt wird, wird er hohl. Doch auch das kann beobachtet werden.

Ein erweiterter Spiritualitätsbegriff ist allerdings hilfreich, wenn man nach den religions- und kulturübergreifenden allgemeinen Merkmalen des „Spirituellen“ fragt. In Anlehnung an eine Definition von Arndt Büssing formuliert Ralph Marc Steinmann solch einen allgemeinen Spiritualitätsbegriff wie folgt: „Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende seines/ihres ‚göttlichen’ Ursprungs und Teilhabe bewusst wird (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z. B. Gott, Allah, JHWH, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u. a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der belebten und unbelebten Natur, mit dem Göttlichen, Absoluten, reinen Sein usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein, bemüht er sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten, was unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Bezüge in allen Lebensphasen und Lebensbereichen hat. Damit verbunden ist ein individueller Entwicklungs- und Bewusstseinsprozess, in dem der /die Suchende sich der spirituellen Dimension seines Menschseins als universal, existenziell und sinngebend bewusst wird.“13

Eine Medizin, die wieder zur Heilkunde wird, berücksichtigt den unverfügbaren individuellen Personkern, der zu seinem Ganzsein mehr benötigt als nur funktionierende Organe. Schipperges drückt dies in einer beschreibenden Definition dessen aus, was man unter „Gesundheit“, die auch die spirituelle Dimension mit einschließt, verstehen könnte:

„Gesund sein – das wäre eher eine Weise des Daseins überhaupt. Gesundheit ist bereits reines, sich selbst verwirklichendes Sein, bedeutet – was gerade das Kranksein so drastisch demonstriert – die Möglichkeit der Ausführung von Aufgaben, das Tragen von Lasten, das Lösen auch von Widersprüchen, das Erleiden letztlich des Sterbens. Gesund ist, wer sich und andere ertragen gelernt hat und dann auch selber als einigermaßen erträglich erscheint. Der gesunde Mensch, das wäre demnach jener durch und durch positiv gestimmte Mensch, der sich dem anderen zuwendet und damit der Welt, der aus Erfahrung lernt und seine Meinung äußert wie auch ändert, der die Kraft hat und den Mut gewinnt, etwas ins Leben zu investieren, sich einzusetzen, ranzugehen, ja draufzugehen, der Spannungen aushält, Konflikte löst, den Stress meistert, selbst mit Kranksein leben zu lernen bereit ist, der jeden Tag geschenkten Lebens als Chance wahrnimmt und sich zeitlebens im Prozess des Geborenwerdens weiß“14 In dieser Definition von Gesundheit fließen Heilung und Heil, in gewisser Weise sogar Heiligkeit ineinander. Ein absoluter Sinnbezug des menschlichen Lebens wird thematisiert. Wenn im Rahmen der Rede von der spirituellen Dimension des Menschen in der Heilkunde stets die „Ganzheitlichkeit“ zum Thema wird, kann es auch nicht um weniger gehen.

Zusammenfassend kann nun gesagt werden, dass eine wesentliche Voraussetzung für einen vernünftigen Gebrauch des Begriffs „Spiritualität“ darin liegt, dass der Mensch in seiner dualen Natur, als leib-seelische Einheit gesehen wird, genauer noch, wo die ursprünglich christliche Rede von der Geistseele des Menschen bewahrt bleibt, die auf eine höhere, über ihn als Individuum hinausweisende Ordnung verweist.

Dies ist wichtig zu betonen, denn im Rahmen der psychosomatischen Medizin ist die Bedeutung des seelischen Anteils längst zum Thema gemacht. Spiritualität thematisiert aber darüber hinaus letzte Sinnbezüge, die den Menschen unbedingt angehen. Dies in der Medizin zu berücksichtigen ist freilich höchst wünschenswert. („Es gibt nichts Gesünderes als ein sinnvolles Leben, aber das Leben ist nicht um der Gesundheit willen sinnvoll“15). Wie dies allerdings gelingen kann, ist eine andere Frage.

In jedem Falle scheint eine gewisse Skepsis angebracht, wenn die Forderung gestellt wird, auch „spirituelle Methoden“ in die medizinische Praxis mit einzubeziehen.16 Die Frage nach solchen Methoden im Dienste der Gesundheit beschäftigen die Psychosomatiker und alle, die sich um eine integrierte Medizin bemühen – und das ist sicher lobenswert. Aber was ist gemeint, wenn eine „Spiritualität minus Religion“ gefordert wird und spirituelle Methoden lediglich als Werkzeug dem für viele heute „höchsten Gut“, der Gesundheit, dienen sollen? Spiritualität wird dann als mentales Geschehen betrachtet, auch als individualistische, subjektive Innerlichkeit, das zum Wohlbefinden des Menschen und zur Unterstützung von Therapien in der Heilkunde dienen soll. Als „spirituelle Methoden“ (auch unter dem Oberbegriff Mind Body Practices gefasst) – deren gesundheitsrelevante Wirkungen dann in diversen Studien untersucht werden – gelten diverse Meditations- und Entspannungsübungen, Yoga sowieso, aber auch die Anwendung von Ritualen religiöser Herkunft. Die Kultivierung von Bewusstseinszuständen und Bewusstseinshaltungen soll ausdrücklich in die Gleichung des Heilens mit aufgenommen werden.17 Zwar wird in diesen Fällen die duale Natur des Menschen berücksichtigt, von „Spiritualität“ im ursprünglichen Sinne kann dort, wo diverse Praktiken bloß dem Wohlgefühl dienen sollen, – wenn überhaupt – nur in einem eingeschränkten Sinne gesprochen werden.18 Es scheint viel eher so, dass in diesen Konzepten Spiritualität mit Psychologie verwechselt wird. Auf jeden Fall haben diese Formen „Spiritueller Wellnessmethoden“ mit dem, was Spiritualität ursprünglich gemeint hat, nur noch wenig zu tun.

Pseudomedizin und Pseudospiritualität

Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Therapien, die sehr wohl auch letzte Sinnbezüge des Menschen thematisieren. Zu den wesentlichen Merkmalen zahlreicher alternativer Therapien gehört ja gerade die Behauptung, dass sie im Gegensatz zur so genannten „Schulmedizin“ ganzheitlich seien und den Menschen an Leib, Seele und Geist heilen könnten. Nicht wenige dieser Therapien bedienen sich einer typisch religiösen Sprache und geben als Therapieziele keineswegs nur körperliche Gesundheit, sondern das Heil für die Seele an, es ist dann zuweilen nicht bloß von Spiritualität in der Medizin, sondern von speziell „Spiritueller Medizin“ die Rede. Therapien werden als Hilfen verstanden, dass der kranke Mensch seine Gesundheit und sein Heil findet, in dem er durch die Therapie wieder in Harmonie mit der höheren, der absoluten Ordnung gesetzt wird. So zeigen sich eine nicht geringe Zahl an „Alternativen Heilmethoden“ genau besehen als religiöse Systeme. Kann also auf dem Sektor der alternativen Therapien die lange vermisste Synthese von Spiritualität und Medizin gefunden werden? Doch auch hier ist ein kritischer Blick vonnöten.

Paradoxerweise finden sich gerade bei den „Alternativen Heilmethoden“, die auf ihre Ganzheitlichkeit pochen, zahlreiche Methoden, die diese leib-seelische Doppelnatur des Menschen zwar zum Thema machen, diese aber praktisch durch die konkrete Therapie wieder leugnen und den ganzen Menschen auf ein (para-)naturgesetzliches Geschehen reduzieren. Zwar wird viel von Geist und Seele gesprochen, diese werden dann im Rahmen der Therapien aber im Sinne einer trivialen Maschine behandelt. Der Unterschied liegt oft lediglich darin, dass man anstatt von stofflichem Wirken, von „feinstofflichen“ Kräften spricht. Dass „Stoff“ Stoff bleibt, ob grob oder fein und das mechanistische Denken einer Apparatemedizin gerade nicht überwunden wird, wird nicht bemerkt. Dass positive Wirkungen einer Therapie etwa auf die Begegnung und das Kommunikationsgeschehen zurückzuführen seien, eben den „Placeboeffekt“, wird meist ausgeblendet oder sogar ausdrücklich abgestritten.19


Zur Erklärung der Therapien und der entsprechenden Wirkungen dient zumeist das Welt- und Menschenbild, das im Rahmen der Esoterik-Welle vielen Menschen bereits geläufig ist und ihr Denken und Selbstverständnis prägt. Demnach gäbe es keine Trennung von Körper und Geist, beide seien nur Manifestationen einer universalen Energie, die den ganzen Kosmos durchdringe. Alles sei Energie, alles sei Schwingung. Folgerichtig heißt es dann: „Die richtige Schwingung heilt“.20 Um dem ganzheitlichen Anspruch gerecht zu werden spricht man nicht von Energetik, sondern man verwendet die Wortneuschöpfung „Energethik“. Der Energiebegriff bleibt unscharf, die konkrete Verwendung lässt jedoch eine physikalistische Deutung erkennen. Je nach Therapie werden die Schwingungen dann durch „Resonanzwirkungen“ beeinflusst, oder – wenn in Anlehnung an das fernöstliche Menschenbild, die Kräfte in Energiebahnen (Meridianen) fließend gedacht werden – nach einer simplen Dampfmaschinenlogik durch Betätigung von Druckpunkten und Massagetechniken gelenkt oder es werden „Blockaden“ gelöst.

Ob dann in der Therapie besonders zubereitete Arzneien verabreicht werden, ob eine manuelle Therapie eingesetzt wird, oder ob man dem modernen Maschinendenken noch weiter entgegenkommt und fantasievolle Apparaturen einsetzt – wie etwa in der Bioresonanztherapie – durch die „Krankheitsschwingungen“ gelöscht oder umgepolt werden sollen, ist dann eine Frage des Geschmacks und der persönlichen Vorliebe.21

Krankheitsursachen und Kräfte der Heilung werden allein im Individuum gesucht. Die gestörte Schwingung, die Energieblockade, die fehlende Harmonie mit dem höheren „Selbst“ kann dann als Leidensursache genannt werden. Selbst die für den Menschen so wichtige Kommunikation kann so gestaltet werden, dass das Individuum darin völlig auf sich selbst zurückgebogen wird. Kommuniziert wird dann mit den eigenen Organen, oder, wie eine russische Heilerin empfiehlt, mit den eigenen Zellen.22

Bizarr erscheint auch die jüngere Spur der Heilmethoden durch Zeichen zum Aufmalen oder Trinken. Wer die Homöopathie zum Aufmalen anwendet, malt Symbole auf den Körper des Patienten.23 Das Zeichen soll aber nicht vom Geist des Menschen gesehen, gedeutet und verstanden werden. Vielmehr soll das Zeichen aufgrund seiner besonderen geometrischen Form eine spezifische Energie, eine Schwingung aussenden, die unmittelbar auf die „Energien“ des Patienten wirken. Wahlweise könne man auch ein Glas Wasser auf Symbolkarten stellen, damit die Energie der Symbole das Wasser energetisieren. So könne die Heil-Kraft der Symbole getrunken werden. Der Mensch als zur Freiheit begabte Person scheint in diesen Ansätzen nicht mehr auf, lediglich eine Ansammlung von „Energien“, die auf (pseudo-)physikalische Weise aufeinander wirken sollen.

Zahlreiche dieser Therapien geben als Ziel nicht bloß körperliche Heilung an, sondern ausdrücklich die spirituelle Weiterentwicklung, da diese die Grundlage aller Gesundheit sei. Die spirituelle Entfaltung kann der Klient dann durch die Arzneien, Steine oder Gerätschaften einfach an sich geschehen lassen. Er wird im Vollsinne zum homo patiens, der alle Verantwortung abgeben und an die Wirkung entsprechender kosmischer Naturgesetzlichkeiten delegieren kann. Zur geistlichen Entfaltung wird dann auch kein Gegenüber gebraucht, kein Gespräch, es fällt die Notwendigkeit weg, sein Leben zu riskieren und sich zu übersteigen auf das Größere hin. Wo aber Beziehung bedeutungslos wird, weil das Individuum in allen Bezügen auf sich selber zurückverwiesen wird und auch die geistige Entfaltung lediglich in einer Aufblähung des Selbst bestehen soll, wird der Begriff Spiritualität – der von seinem Ursprung her ein Beziehungsbegriff ist – zur leeren Worthülse. Drei Beispiele auf dem uferlosen Angebot meist sehr ähnlicher Therapien können dies veranschaulichen.

Beispiel 1: Nullpunktenergie-Therapie

Als drastisches Beispiel seien hier einige Ausschnitte aus einem Werbetext der Firma „ad Fontes“ angeführt, die ihre Philosophie und Produkte über das Internet anbietet.24 Die Auswahl dieser Website erfolgt zufällig, – die Sprache und die Behauptungen sind typisch für eine sehr große Zahl von Anbietern mit vergleichbaren Produkten und Heil(s)versprechen. Diese Firma „ad fontes“ vertreibt ihre Produkte, die auf der Basis der „Nullpunktenergietechnologie“ – nach entsprechenden Angaben, eine Weiterentwicklung der „Quantenmedizin“ – wirken sollen. Zu den Produkten gehören Steine, Essenzen (10 ml um sage und schreibe € 1.500.-), sowie ein Hifi-Modul (€ 1.800.-). Bei diesem „Lebensenergie-System“ handle es sich um einen Booster für die persönliche Entwicklung: „Das Hochenergie-System bietet Ihnen die Möglichkeit, Ihre wahren Potentiale zu erschließen sowie Ihre körperliche und geistige Entwicklung extrem zu beschleunigen. Die Nullpunkt- oder Lebensenergie als übergeordnete Energieform ist der Verstärker, der Treiber, die Voraussetzung für alle anderen Veränderungen. Sie sorgt für Struktur und Ordnung in unserem Organismus und liefert die Blaupause für den optimalen Zustand. Sie wirkt über die energetische Ebene auf die geistige und physische Ebene. Nur ein Mehr an Nullpunktenergie ermöglicht Entwicklung und Wachstum. Auf der physischen Ebene entscheidet die Photonenemission der Körperzellen darüber, ob und wie wir uns körperlich entwickeln. Je höher die Photonenemission unserer Zellen ist, desto vitaler, leistungsfähiger und energiegeladener sind wir.“

„In uns werden die Voraussetzungen geschaffen, die wir so dringend brauchen, um eine spirituelle Entwicklung zu planen und durchzuführen. Nullpunktenergie ist die Lösung für spirituellen Reichtum. Bezogen auf die Erleuchtung stellt sie eine beschleunigte Alternative zu jedem anderen Weg dar und ist zudem in Europa der einzig gangbare Weg mit Aussicht auf Erfolg“.

Umfassendes körperliches Wohlbefinden, optimierte Persönlichkeitsentfaltung auf allen Ebenen, spirituelle Erleuchtung und auch Wunscherfüllung durch die Befähigung, sich die eigene gewünschte Realität erschaffen zu können, soll allein durch die Einnahme einer Wunderdroge, bzw. durch das Auflegen von Steinen gelingen. Eine persönliche und eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit der Umwelt und der Gesellschaft wird damit überflüssig. Dies ist freilich ein typisches Muster, das in vielen ähnlichen Therapieangeboten zu finden ist: „Spirituelle Hilfsmittel“ für die orale Einnahme stellen schließlich einen wichtigen ökonomischen Faktor in der einschlägigen Szene dar.

Beispiel 2: Bach-Blütentherapie, oder die „Sakramente des Feldes“

Bekannter und beliebter als die oben genannte Methode ist die Bach-Blütentherapie. Als frühes Derivat der Homöopathie ist auch die Bach-Blütentherapie eigentlich nicht wirklich als Medizin zu werten, sondern als Selbsterlösungsweg auf „parastofflichem“ Weg. Dr. Edward Bach, der 1919 seine Medizinerkarriere als Pathologe und Bakteriologe am Londoner Homöopathischen Spital begann und dort die Homöopathie kennenlernte, entwickelte bald sein eigenes System, das sich ganz aus der Ideenwelt der theosophischen Esoterik speiste.

Nach Bach liegt in jedem Menschen der göttliche Funke, der auch Seele oder höheres Selbst genannt wird. Die Entwicklung der Individuen ist Teil der Höherentwicklung Gottes. Der Mensch ist auf dieser Welt, um jene Weisheit und Erfahrungen zu erlangen, die man nur durch eine Erdenexistenz erreichen kann, um Tugenden zu entwickeln und auszulöschen, was falsch ist. Dies geschieht in zahlreichen Entwicklungsstufen, in denen sich das Individuum wiederholt reinkarniert. Es ist die irdische Aufgabe des Menschen, diesen Geboten, unbeeinflusst von außen durch andere, zu folgen und niemandem zu erlauben, Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen. Alles Wissen liege im eigenen Inneren. Der innere göttliche Funke ist der alleinige Leitstern, dem es zu folgen gilt. Wenn die Persönlichkeit nicht der Stimme des höheren Selbst folgt, dann ist Krankheit das Korrektiv, das das Individuum wieder auf den rechten Weg zurückbringen soll. Deshalb sei das Wesen der Krankheit wohltätig, denn „es ist ihr Zweck, die Persönlichkeit zum göttlichen Willen der Seele zurückzuführen.“25 Doch sind es nicht nur Fehlhaltungen aus diesem Leben, die möglicherweise einer Korrektur bedürfen, es kann sich auch karmische Schuld angesammelt haben: Das Wesen der Krankheit als solche ist dann Hinweis auf die „Art von Fehlverhalten“, durch die der Patient gegen das „göttliche Gesetz von Liebe und Einheit verstoßen hat.“26 Als die eigentlichen Grundkrankheiten des Menschen werden dann die Fehler Stolz, Grausamkeit, Hass, Eigenliebe, Unwissenheit, Unsicherheit und Habgier genannt. Jede Art von Krankheit soll zur Entdeckung des zugrunde liegenden Fehlers führen. Aufgabe der Heilkunde ist nach Bach nicht, Krankheiten zu kurieren, sondern zu helfen, fehlende Tugenden zu entfalten.

Diese Heilmittel sind, so Bach, in der Natur zu finden, denn alles Leiden kam nur, weil der Mensch sich vom Weg der Natur abgewandt hat und ihn zugunsten des menschlichen Weges aufgegeben hat. Dr. Bach ist der Ansicht, dass gewisse Pflanzen in ihrem Entwicklungstand höher stehen als der durchschnittliche Mensch: „Wir sollten diese schönen Blumen des Feldes als ein Sakrament empfangen, als die Gottesgabe unseres Schöpfers, die uns in unserer Bedrängnis hilft.“27 Nur durch solche sei es denkbar, dass sie für den Menschen in seinem geistigen Aspekt veredelnd sein können. Diese Arzneien, die als nur gute Substanzen dem Menschen Helfer und Trost sein sollen und ihm helfen, ein dem göttlichen Wesen gefälliges Leben zu führen, sind als Gnadenmittel zu verstehen, die dem Menschen auf seinem spirituellen Weg helfen sollen, die Vollkommenheit zu erlangen. Das Wichtigste ist, dass diese Pflanzen den Menschen seiner Göttlichkeit näher bringen.

Dazu müssen aus den Pflanzen (bzw. Bäumen, oder auch dem Quellwasser, das Dr. Bach zu seinen Blütenarzneien rechnet) die geistigen Kräfte gewonnen werden, die dann direkt auf die Seele im Menschen wirken sollen. Ein besonderes Herstellungsverfahren soll dafür sorgen, dass keine stofflichen Anteile in der Arznei enthalten sind, sondern nur die „Geisteskräfte“ der Pflanzen.

Es ist nur konsequent, wenn spätere Vertreter die Bach-Blütentherapie als einen Weg der Gnade bezeichnen28 und als Ziel der Therapie nicht nur Heilung, sondern die Heiligkeit nennen.29 Die Entfaltung der nach diesem Konzept notwendigen Tugenden erfolgt nicht durch das Bemühen des Geistes und die Beherrschung des Willens in Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern durch das Schlucken von Arzneien. „Etwas“ soll also „Jemanden“, das Objekt das Subjekt zur Ganzheit führen, vorbei am vernehmenden Geist, vorbei an der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und sich in die Tugenden einzuüben. Kein Du macht hier den Menschen ganz, sondern das Medikament. Damit aber wird letztlich doch der ganze Mensch zu einer trivialen Maschine reduziert.

Beispiel 3: Edelsteintherapie – Mineralien als spirituelle Freunde und Begleiter

Es ist schon ein Kuriosum der besonderen Art, dass gerade die Edelsteintherapie als besonders spirituelle Heilkunde bezeichnet wird. Der Stein, in der Bibel der Inbegriff des Leblosen, soll den Menschen zur Fülle der Lebendigkeit führen. In der Beliebtheit steht die Edelsteintherapie der Bach-Blütentherapie kaum nach. Zudem kann die „Steinheilkunde“ – anders als viele Neuerfindungen – auf eine lange Tradition zurückblicken. Gerne wird gerade in christlichen Kreisen darauf verwiesen, dass auch Hildegard von Bingen einen Traktat über die Heilkraft der Edelsteine verfasst haben soll. Nun, da diese Frau des Mittelalters endlich zur Würde der Altäre erhoben und noch dazu zur Kirchenlehrerin erklärt wurde, fühlen sich solche Steingläubigen erst recht bestätigt, und nicht wenige sind der falschen Ansicht, dass nun diese mittelalterlichen Ansichten gar Lehre der Kirche seien. Allein dieses Faktum zeigt aber, wie sehr die Edelteintherapie mit dem Bereich des Religiösen und Spirituellen in Verbindung gebracht wird.

Die Wirksamkeit der Steine wird mit deren „Schwingungen“ erklärt. „Alles ist in Bewegung“, so lautet eine Überschrift: „Es ist kaum zu glauben, aber die Wissenschaft hat es bewiesen: Auch ein Stein, der Inbegriff des Harten, ist in sich Bewegung … Das Schwingen der Atome erzeugt Energie, die auf uns Menschen, die wir ebenfalls aus schwingenden Teilchen bestehen, Einfluss hat.“30 Auf Tiefgründigkeit kommt es bei der Erklärung der Heilwirkungen nicht an: „Da Steine nichts als verdichtete Energie sind, wirken sie sowohl durch ihre Schwingung als auch durch ihre Farbe. Jeder Stein hat seine spezifische Schwingung, die sich auf die Schwingung des Menschen übertragen lässt.“31 „Bringen wir einen Stein mit unserem Körper in Berührung, wird das einstrahlende Licht zwangsläufig die »Licht-Kommunikation« zwischen den Zellen beeinflussen und bestimmte Reaktionen hervorrufen. … Damit gehört die Steinheilkunde wie die Homöopathie, die Bach-Blütentherapie oder die Aromatherapie zu den Informationstherapien.“32 Wenn Gienger hier von einer Kommunikation zwischen Stein und Mensch spricht, so ist das nicht als Metapher gemeint!: „Wenn Sie ein Mineral in der Hand halten, sollten Sie immer daran denken, dass Sie keine tote Materie berühren. Die Steine leben, sie strahlen aus, spenden uns ihre heilsame Schwingungsenergie.“33 Steine sind dann dem Menschen überlegene Lichtwesen. Der Edelstein wird zum spirituellen Freund und Begleiter, mitunter sogar einem Schutzengel gleichgesetzt („Der Rosenquarz ist ein lieber Stein, er ist der Schutzengel kleiner Kinder … Er beschützt alles, was hilflos und rein ist, alles, was Schutz gegen die ‚böse’ Welt benötigt.“34). Die richtige Einsicht, dass der Mensch für seine seelische und geistliche Entwicklung in Beziehung leben muss und Freundschaft hilfreich ist, wird hier auf das tote Mineral bezogen und so ad absurdum geführt. Der Stein als Engel und spiritueller Begleiter und gegebenenfalls als Therapeut hat freilich den Vorteil, dass er in der Hosentasche immer verfügbar ist und die wirkliche Anstrengung und das Abenteuer der Selbsttranszendenz auf das Du hin obsolet werden lässt.

Zusammenfassung

„Spiritualität eignet sich nicht dazu, medizinisch vereinnahmt zu werden“, mahnt der Schweizer Psychiater Daniel Hell.35 Dass der Mensch als Patient auch in der Medizin in seiner spirituellen Dimension wahrgenommen wird, ist zwar höchst wünschenswert. Doch wird man, wenn man nach einer Verbindung von Medizin und Spiritualität fragt, darauf achten müssen, dass man nicht im Zuge des modernen Machbarkeitsdenkens bei der Suche nach „spirituellen Methoden“ stehen bleibt und Spiritualität mit Psychotherapie vermischt. Wer von der spirituellen Dimension des Menschen spricht, anerkennt, dass es ein immaterielles, unverfügbares, durch keine Methode – und schon gar nicht durch „feinstoffliche“ Pseudoarzneien oder „Schwingungen“, welcher Art auch immer – behandelbares Geheimnis im Menschen gibt, das ihn erst zum Menschen macht. Eine Medizin, die auch die spirituelle Seite des Menschen berücksichtigen möchte, anerkennt, dass dieses innerste Lebensprinzip des Menschen, das wir mit dem Begriff der Geist-Seele zu fassen suchen, über einen Freiheitsgrad verfügt, das nicht definierbaren Gesetzmäßigkeiten folgt und nicht mit mechanistisch verstandenen Naturgesetzen einzufangen ist.36

Die spirituelle Dimension des Menschen kann nur dann adäquat in die Medizin einbezogen werden, wenn der Arzt oder Therapeut, jenseits aller Methodik und allem Machbarkeitsdenken dem Patienten als Menschen begegnet und sich gemeinsam mit ihm von einem höheren Sinn und einer größeren Ordnung umgriffen weiß. Wenn auch Mediziner dieses größere Geheimnis des Menschen anerkennen und – wohl auf je persönliche Weise – dem Patienten helfen, sich diesem Geheimnis zu stellen, um eine – ebenfalls je persönliche Antwort zu geben – hat das Spirituelle wieder einen Platz in der Medizin. Was ursprünglich untrennbar miteinander verbunden war, findet auf solche Weise wieder zueinander.

Referenzen

  1. vgl. den entsprechenden Buchtitel, Hontischk B., Bertram W., Geigges W., Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens. Bausteine einer integrierten Medizin, Schattauer , Stuttgart (2013)
  2. vgl. Fischler H., New Cage, Esoterik 2.0. Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt, Molden Verlag, Wien/Graz/Klagenfurt (2013), S. 58
  3. vgl. Gen 2,7
  4. vgl. Gen 6,3
  5. Ratzinger J., Einführung in das Christentum, Kösel-Verlag (2000), S. 296
  6. Weinreb F., Vom Sinn des Erkrankens, Origo Verlag, Bern (1999) S. 29 f.
  7. Körtner U. H. J., Für einen mehrdimensionalen Spiritualitätsbegriff: Eine interdisziplinäre Perspektive, in: Frick E., Roser T., (Hrsg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Kohlhammer, Stuttgart (2011), S. 28
  8. vgl. Sir 38,15
  9. 1 Joh 4,8
  10. Mt 25,40
  11. Papst Franziskus, Evangelii Gaudium, www.vatican.va/holy_father/francesco/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium_ge.pdf (letzter Zugriff am 3. Februar 2014)
  12. Engelhardt H. T., Delkeskamp-Hayes C., Der Geist der Wahrheit und die Legion der Spiritualitäten. Ein orthodoxer Blick auf die Klinikseelsorge im religiösen Pluralismus, in: Frick E., Roser T. (Hg.), Medizin und Spiritualität, Kohlhammer, Stuttgart (2011), S. 74
  13. Steinmann M. R., Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität, in: Büssing A., Kohls N., Spiritualität transdisziplinär, Springer, Berlin/Heidelberg (2011), S. 46
  14. Schipperges H., Krankheit und Kranksein im Spiegel der Geschichte, Springer, Berlin/Heidelberg (1999), S. 22
  15. Meyer-Abich K. M., Was es bedeutet gesund zu sein. Philosophie der Medizin, Carl Hanser Verlag, München (2010), S. 275
  16. vgl. dazu Esch Th., Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung, in: Büssing A., Kohls N., Spiritualität transdisziplinär, Springer, Berlin/Heidelberg (2011), S. 23 ff.
  17. Kohls N., Walach H., Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastungen, in: Büssing A., Kohls N., Spiritualität transdisziplinär, Springer, Berlin/Heidelberg (2011), S. 134
  18. vgl. dazu Engelhardt H. T, Delkeskamp-Hayes C., siehe Ref. 12, S.73-78
  19. so etwa der Homöopath Vithoulkas: „Nicht selten gewinnt der Patient allein durch (das) Gespräch eine tiefere Einsicht über sich selbst; doch täuschen wir uns nicht: die eigentliche Heilung wird erst durch die Verabreichung des homöopathischen Einzelmittels, nicht durch den psychodynamischen Kontakt mit dem Behandelnden in Gang gesetzt“, in: Vithoulkas G., Medizin der Zukunft, Georg Wenderoth Verlag, Kassel (1997), S. 82
  20. Kraaz I., Rohr W. v., Die richtige Schwingung heilt. Das große Praxisbuch für Bach-Blüten, Farbe und andere Energien, Goldmann Verlag, München (1994)
  21. So wurde mir von einem deutschen Heilpraktiker berichtet, dass rund um Wolfsburg mit Vorliebe Bioresonanzgeräte und ähnliche Apparaturen eingesetzt werden. Für die Patienten, die aus der Autoindustrie kommen, seien Elektronikgeräte in der Therapie besonders beliebt und attraktiv.
  22. vgl. Lumira, Erneuere deine Zellen. Eine russische Heilerin offenbart ihr energetisches Verjüngungsprogramm, Trinity Verlag, München (2012)
  23. Neumayer P., Stark R., Medizin zum Aufmalen, Mankau Verlag, Murnau (2010)
  24. www.nullpunktenergie.de/home.html (letzter Zugriff am 3. Februar 2014)
  25. Bach E., Von der Homöopathie zu den Bachblüten. Gesammelte Schriften vom Entdecker der Bachblüten, Goldmann Verlag, München (1994), S. 184
  26. ebd., S. 186
  27. ebd., S. 152
  28. Geßwein W., Blüten und Gnade, Intuition Publications Verlag, Köln (1993)
  29. Scheffer M., Bach-Blütentherapie. Theorie und Praxis, Heinrich Hugendubel Verlag, München (1990), S. 10
  30. Labacher J., Heilsteine. 50 Steine und ihre therapeutische Anwendung für Körper und Seele, Ludwig Verlag, München (2002), S. 8
  31. Pöttinger H., Harmonie und Heilkraft durch edle Steine, Pinguin Verlag, Innsbruck (1994), S. 8
  32. Gienger M., Die Steinheilkunde, Neue Erde, Saarbrücken (1995), S. 149-159
  33. Graf B., Heilen mit Edelsteinen, Gräfe und Unzer Verlag, München (1999), S. 8
  34. Sonnenberg P., Heilende Steine von A bis Z. Die wichtigsten Heilsteine und ihre stärkende Wirkung auf Körper und Geist, Iris Verlag, Amsterdam (2000), S. 80
  35. Hell D., Die Wiederkehr der Seele. Wir sind mehr als Gehirn und Geist, Herder Verlag, Freiburg/Basel/Wien, (2010), S. 156
  36. ebd., S. 168

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