Fallbericht: Künstliche Ernährung

Imago Hominis (1999); 6(2): 150-151

Es handelt sich um einen 78-jährigen Patienten, der wegen Verdachts auf cerebrale Durchblutungsstörung auf eine interne Abteilung eingewiesen wird. Die Verwandten hatten eine gewisse Verwirrtheit in den letzten Wochen beobachtet. Der Patient hatte z.B. nicht mehr vom Einkaufen nach Hause gefunden. Manchmal sprach er unzusammenhängende Dinge. Er konnte jedoch noch selbst essen und trinken.

Bei der Aufnahme ist der Patient zeitlich und örtlich desorientiert, spricht nur verwirrt und unzusammenhängende Worte. Beim Status fällt lediglich eine gewisse Dehydratation auf. Außerdem bestehen subfebrile Temperaturen. Im Thoraxröntgen finden sich pneumonische Infiltrate in der linken Lunge. Es wird eine antibiotische Therapie sowie eine Infusionsbehandlung zur Rehydratation eingeleitet. Außerdem bekommt der Patient durchblutungsfördernde Medikamente.

Während die Pneumonie in wenigen Tagen beherrscht werden konnte, kommt es zu einer rapiden Verschlechterung der zerebralen Situation. Der Patient erkennt nicht einmal mehr seine eigenen Verwandten, muß gefüttert werden, uriniert neben das Bett und beginnt zunehmend aggressiv zu werden. Auf sedierende Medikamente spricht der Patient nicht mehr an.

Da das nicht beherrschbare Demenz-Syndrom weit im Vordergrund steht, wird der Patient nach 2-wöchigem Aufenthalt in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt. Dort kommt es in den folgenden Tagen zu einer weiteren Eintrübung des Bewußtseins, und es tritt ein fraglicher Meningismus auf. Der Patient wird daraufhin auf eine neurologische Abteilung überstellt.

Bei der Aufnahme dort ist der Patient somnolent und reagiert auf Schmerz nur mehr mit ungerichteten Bewegungen. Es erfolgt eine intensive neurologische Durchuntersuchung mit Liquorpunktion, EEG, mehrmaligen CT’s u.s.w.

Letztendlich wird die Diagnose vaskuläre Demenz gestellt und der Patient wird nach 2-wöchigem Aufenthalt zur weiteren Therapie wieder auf die psychiatrische Klinik zurücktransferiert. Bei der Rückübernahme ist der Patient großteils somnolent, bettlägrig und rund um die Uhr pflegebedürftig. Der Patient kann kaum mehr schlucken und wird daher nach wenigen Tagen auf die interne Abteilung zur weiteren „Therapie“ (künstliche Ernährung) rücktransferiert.

Dort angekommen hält der Patient zwar zeitweise die Augen geöffnet, ist jedoch nicht ansprechbar und reagiert auch kaum auf Schmerzreize. Man beginnt mit einer parenteralen Flüssigkeitstherapie und mit einer Intensivpflege des beginnenden Dekubitus.

Die Verwandtschaft ist beruhigt, da nun für den Vater „alles geschieht“, was möglich ist.

Bei der Chefvisite stellt der Primarius die Sinnhaftigkeit einer Infusionstherapie bei einem sterbenden Patienten in Frage und empfiehlt, die Infusion auslaufen zu lassen, damit der Patient in Ruhe sterben kann. Hier werde unnötig Sterbensverlängerung betrieben!

Dies löst eine emotionsgeladene Debatte unter Ärzten und Pflegepersonal aus. Die behandelnden Stationsärzte sind strikte gegen ein Absetzen der Flüssigkeitsbehandlung. Sie geben zwar zu, daß diese Art der Therapie sinnlos sei, weil keine Hoffnung auf Besserung besteht, führen aber 2 Argumente für die Gabe von Flüssigkeit als Infusion an: Erstens seien die Angehörigen beruhigt, andererseits weiß man nie, ob der Patient nicht Durst leidet. Vom Primarius wird eingewendet, daß letzteres sehr unwahrscheinlich sei und daß man dann ja auch den möglichen Hunger stillen und daher konsequenterweise künstlich ernähren sollte. Die Meinung des Pflegepersonals ist ebenfalls geteilt. Einige sind für die Beendigung der Infusionstherapie, einige wehren sich dagegen mit dem Argument, sie könnten es emotional nicht verkraften, einen Sterbenden zu pflegen, bei dem von ärztlicher Seite überhaupt nichts mehr getan wird. Die Ärzte schließen sich großteils dieser Argumentation an, und der Patient bekommt weiter Flüssigkeit, nachdem der Primarius die Abteilung wieder verlassen hat.

Am Wochenende bekommt der Patient Fieber. Der diensthabende Arzt (sonst auf einer anderen Station tätig) nimmt eine Pneumonie als Folge des schlechten Allgemeinzustandes des Patienten an und verordnet parenteral Antibiotika. Der Patient überlebt und wird fieberfrei. In den folgenden Tagen stabilisiert sich der Zustand. Der Patient reagiert sogar mit unkoordinierten Worten, wenn er angesprochen wird. Er bekommt weiter Flüssigkeit, aber keine ausreichenden Kalorien.

Bei der darauf folgenden Chefvisite nach einer Woche einigt man sich schließlich doch, die Infusionen abzusetzen und dem Patienten Flüssigkeit zum Trinken zu geben, soweit er das toleriert. Der Patient wird auf ein „Sterbezimmer“ gebracht, wo ihn die Angehörigen auch Tag und Nacht besuchen können. Man hat sie darüber aufgeklärt, daß die Prognose infaust sei. Innerhalb weniger Tage stirbt der Patient.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: