Warum aussteigen? Zum Konflikt um die Schwangerschaftskonfliktberatung in der Bundesrepublik Deutschland

Imago Hominis (2000); 7(2): 99-101
Herbert Gillessen

Vorgeschichte

Der Konflikt um die Schwangerschaftskonfliktberatung, der die katholische Kirche in Deutschland in eine schwere Krise gebracht hat, hängt u.a. mit der Wiedervereinigung Deutschlands zusammen. 1990 galt in der BRD für den Schwangerschaftsabbruch eine sogenannte Indikationen-Regelung, während in der DDR eine Fristen-Regelung in Kraft war.

Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 gab nun dem gesamtdeutschen Gesetzgeber auf, spätestens bis Ende 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens und „die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen“ besser gewährleiste, als dies in den beiden Teilen Deutschlands damals der Fall war.

Ein erster Gesetzesentwurf wurde vom Bundesverfassungsgericht am 28. Mai 1993 als nicht verfassungskonform zurückgewiesen. In seinem 4. „Leitsatz“ sagte das Gericht: „Der Schwangerschaftsabbruch muss für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein. Das Lebensrecht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung des Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden.“

Im 11. „Leitsatz“ bahnte sich dann jedoch ein folgenschwerer Paradigmenwechsel an: „Dem Gesetzgeber ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verwehrt, zu einem Konzept für den Schutz des ungeborenen Lebens überzugehen, das in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen, und dabei auf eine indikationsbestimmte Strafdrohung und die Feststellung von Indikationsbeständen durch einen Dritten verzichtet.“

Aufgrund dieser und anderer Vorgaben wurde am 29. Juni 1995 vom Deutschen Bundestag das „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz“ verabschiedet. Es sieht nur noch zwei Indikationen vor: die medizinische (ohne zeitliche Begrenzung) und die kriminologische (bis zur 12. Woche nach der Empfängnis).

Dazu kommt nun die sogenannte „Beratungsregelung“. Sie besagt, dass ein Schwangerschaftsabbruch für alle Beteiligten straflos ist, wenn 1.) die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen; 2.) der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird; 3.) seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind.

Die Schwangerschaftskonfliktberatung „ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden. Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.“

Der Konflikt innerhalb der katholischen Kirche

I. Die Warnung des Papstes

Am 21. September 1995 schrieb der Papst den deutschen Bischöfen einen Brief, in dem er seine Besorgnis über das neue Abtreibungsgesetz ausdrückte. Er würdigte zwar einige positive Ansätze, kritisierte dann aber vor allem den veränderten Stellenwert, den das neue Gesetz der Beratungsbescheinigung zuweist. Sie bestätige, dass eine Beratung stattgefunden habe, sei aber zugleich ein notwendiges Dokument für die straffreie Abtreibung in den ersten 12. Wochen der Schwangerschaft. So „ist die Beratungsbescheinigung nun de facto die alleinige Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung.“

Papst Johannes Paul II. zitierte in diesem Zusammenhang Bischof Lehmann, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, der am 10. Juni 1992 gesagt hatte: „Die Beratungsstellen können sich nicht in ein Verfahren einbinden lassen, das die Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht.“

II. Vorläufige Richtlinien

Trotz dieser Warnung beschlossen die Bischöfe, im staatlichen System der Konfliktberatung zu bleiben. Am 21.11.1995 erließen sie „Vorläufige Bischöfliche Richtlinien für katholische Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen“, nach denen ein Nachweis nicht ausgestellt wird, wenn die ratsuchende Frau sich nicht auf eine Beratung im Sinn dieser Richtlinien eingelassen hat und wenn die beratende Person die Beratung als noch nicht abgeschlossen ansieht.

Am 11. Januar 1998 schrieb der Papst den deutschen Bischöfen einen zweiten Brief, in dem er ihren jahrzehntelangen Einsatz für das ungeborene Leben ausdrücklich anerkannte, aber noch einmal auf das „Dilemma“ des Beratungsscheins hinwies. Auch die „Vorläufigen Bischöflichen Richtlinien“ könnten dessen „widersprüchliche Spannung“ nicht beheben. „Die Frau kann den Schein aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen dazu gebrauchen, um nach einer dreitägigen Frist ihr Kind straffrei und in öffentlichen Einrichtungen und zum Teil auch mit öffentlichen Mitteln abtreiben zu lassen.“ So habe der Beratungsschein „faktisch eine Schlüsselfunktion für die Durchführung straffreier Abtreibungen“ erhalten. Die Beraterinnen würden gegen ihre Absicht „in den Vollzug eines Gesetzes verwickelt, der zur Tötung unschuldiger Menschen führt und vielen zum Ärgernis gereicht.“

Durch diese Zweideutigkeit werde „die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt.“ Der Papst bat darum die Bischöfe, Wege zu finden, „dass ein Schein solcher Art in den kirchlichen Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt“ werde. Dies sollte aber so geschehen, „dass die Kirche auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent“ bleibe.

III. Paradigmenwechsel

Die Deutsche Bischofskonferenz setzte daraufhin eine Arbeitsgruppe ein, die nach einer Lösung im Sinne des Papstes suchen sollte. Am 14.1.1999 legte sie ihren umfassenden Bericht vor. Darin wurde das Beratungskonzept des neuen Gesetzes als „Paradigmenwechsel“ im Lebensschutz ausdrücklich gewürdigt: „Um überhaupt Kenntnis von der Existenz des Kindes zu erlangen und somit eine Chance für den Schutz des ungeborenen Lebens zu erhalten, bedarf es des im Beratungskonzept zum Ausdruck gekommenen Verzichts auf eine Strafandrohung für einen Schwangerschaftsabbruch nach erfolgter Beratung, um die Schwangere zu einem echten Dialog hin innerlich zu öffnen. Die Straflosigkeit ist eine Voraussetzung, damit von der Frau erwartet werden kann, dass sie sich ernsthaft auf die Beratung einstellt und einlässt.“ (S.10)

Die Arbeitsgruppe empfahl einen „Beratungs- und Hilfeplan“, welcher der Schwangeren in Not rechtlich verbindliche Zusagen machte, für den Fall, dass sie das Kind austragen würde. Der Papst griff diesen Vorschlag auf, allerdings mit einer wichtigen Modifikation: Die mit dem „Beratungs- und Hilfeplan“ gekoppelte Bescheinigung sollte keinerlei Bezug zum neuen Gesetz enthalten und den Zusatz tragen: „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden.“

Mehrere Vertreter der Ärzteschaft erklärten daraufhin, sie fühlten sich durch diesen Zusatz „verunsichert“ und würden einen solchen Schein nicht zur Abtreibung verwenden. Doch bald war von Juristen und Politikern zu hören, ein solcher Zusatz sei juristisch irrelevant und ändere nichts an der gesetzlichen Funktion des Beratungsscheins.

Auf eine Anfrage des Kölner Kardinals Joachim Meisner ließ der Papst den deutschen Bischöfen mitteilen, es sei nicht zu erkennen, wie die Kirche in der gesetzlichen Konfliktberatung bleiben könne, „falls die staatlichen Stellen den genannten Zusatz faktisch ignorieren.“

Am 23. November 1999 erklärten die Bischöfe dann nach einem erneuten Brief des Papstes, dass sie zwar die Beratung schwangerer Frauen in Not intensivieren, aber in Zukunft keinen Beratungsschein mehr ausstellen lassen wollten, der den Weg zu einer straffreien Abtreibung ermögliche. Im Lauf des Jahres 2000 würden sie deshalb eine Neuordnung der katholischen Beratung im Sinn der Weisung des Papstes durchführen.

Warum aussteigen?

Das Hauptargument der Befürworter des Verbleibs der Kirche im staatlichen Beratungssystem lautet: Nur so erreichen wir die Frauen, die unschlüssig sind, und können sie womöglich für das Austragen der Schwangerschaft gewinnen. Mehrere Frauen bezeugen, dass sie durch die einfühlsame und kompetente Beratung ermutigt wurden, das Kind nicht abtreiben zu lassen.

Aber rechtfertigt diese Möglichkeit das Verbleiben im System? Durch das Aushändigen des Beratungsscheins erhält die Frau die Möglichkeit, mit einem Arzt einen rechtskräftigen Vertrag zwecks Tötung ihres Kindes zu schließen. Ein „kirchlicher Schein“ fördert zudem den Irrtum, die Kirche akzeptiere die Entscheidungsautonomie der Frau in dieser Sache.

Die Beraterinnen geraten in einen schweren Gewissenskonflikt: sie beraten zugunsten des Lebens und ermöglichen doch (ungewollt!) die Tötung des Kindes. Ein katholischer Frauenarzt berichtete, Frauen hätten um Abtreibung ersucht mit einem Beratungsschein, den sie „von der Kirche“ bekommen hätten.

Es geht um die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Sachliche Kompetenz, menschliche Wärme und konkrete Hilfeleistung der katholischen Beraterinnen werden Frauen in Not auch in Zukunft anlocken, Kinder retten und Frauen helfen: dieses Ziel ist alle Mühe wert.

Anschrift des Autors:

Dr. Herbert Gillessen, Pfarrer
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Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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