Die sittlichen Tugenden. Anthropologische und praktisch-kognitive Dimension

Imago Hominis (2000); 7(2): 103-114
Martin Rhonheimer

Zusammenfassung

Ethik spricht vom handelnden Menschen. Sie ist die Lehre von jenem Guten, in dem wir als freie, vernünftige Wesen unser Glück finden können. „Glück“ ist jedoch nicht einfach subjektive Befriedigung, sondern Erfüllung des Strebens nach Maßstäben von Vernünftigkeit. In der Ethik geht es deshalb darum, die Bedingungen für die „Wahrheit der Subjektivität“ zu analysieren. Eine Tugendethik behauptet, dass diese Bedingungen vor allem im Besitz der Tugenden bestehen. Gemäß klassischem Verständnis kennzeichnen sittliche Tugenden jene Verfasstheit menschlicher Personen, bei welcher diesen, was in Wahrheit und vernünftigerweise gut ist, auch (subjektiv) als gut erscheint: Sittliche Tugenden sind affektive Bedingung für die Vernünftigkeit von Handlungssubjekten. Sie richten das handelnde Subjekt affektiv auf das Gute aus und potenzieren auf diese Weise praktische Vernunft, insbesondere die Fähigkeit, auch im Einzelnen und Konkreten das sittlich Richtige zu erkennen und es auch effektiv zu tun. Somit kommt ihnen eine anthropologische und kognitiv-praktische Doppelaufgabe zu, ohne dadurch den Begriff sittlicher Verpflichtung und den rationalen Diskurs über moralische Prinzipien, Regeln oder Normen überflüssig zu machen.

Schlüsselwörter: Tugend, Tugendethik, moralische Prinzipien, Normen

Abstract

Ethics is about the acting human person. Ethics is a doctrine about the good in which, as free and reasonable beings, we can achieve happiness. Rather than simple satisfaction of one’s subjective desires, “happiness” denotes human fulfillment according to reasonableness. Thus Ethics analyzes the preconditions of the “truth of subjectivity”. Virtue ethics argues that these preconditions principally consist in having the virtues. In their classic understanding, “moral virtue” refers to a set of emotional dispositions and to the character of persons which makes to them (subjectively) appear as good what is good also according to reason and to truth. Accordingly, the moral virtues are the affective and emotional prerequisites for acting subjects to be truly reasonable. They affectively and emotionally direct the human person towards the true good and thereby enhance the power of practical reason. Especially regarding concrete and particular actions, they increase reason’s capability of making out in each case the morally right thing to do, and of putting it into practice. So, the moral virtues have a twofold dimension, anthropological and cognitive-practical, without however rendering thereby super-fluous the concept of a “moral obligation” and a rational discourse about moral principles, rules or norms.

Keywords: virtue, virtue ethics, moral principles, norms


1. Sittliche Tugenden und die „Perspektive der Moral“

Um über sittliche Tugenden zu sprechen, ist zunächst ein Wort über jene Perspektive zu sagen, die wir die „moralische“ nennen. Die „Perspektive der Moral“, wie sie hier verstanden wird, entspricht nicht genau dem, was zumeist - im angelsächsischen Raum geläufigerweise the moral point of view genannt wird: der Standpunkt, welcher - jeweils das Verfolgen des Eigeninteresses einschränkend – die Interessen der anderen bzw. der Allgemeinheit geltend macht. Gemäß dieser Auffassung verträte dann die Moral gegenüber dem seine eigenen, nur persönlichen Interessen verfolgenden Subjekt den Standpunkt der Unparteilichkeit; von morality zu unterscheiden wäre dann die prudence, die bloße Klugheit, die jeweils das eigene Interesse verfolgt und deshalb durch Moralität in ihre Schranken gewiesen werden muss.1 Diese Sicht enthält zwar einen Kern Wahrheit. In der Tat ist die der Moral eigene Perspektive diejenige eines das pure Eigeninteresse korrigierenden allgemeinen oder höheren Standpunktes. Zu bestreiten ist jedoch der behauptete Gegensatz zwischen persönlichem Interesse und Moral, bzw. ein Begriff des Moralischen als Einschränkung dessen, was in unserem persönli­chen Interesse liegt.

In einer eudämonistischen Ethik, d.h. einer Ethik, die das Glücksstreben des Menschen nicht nur als empirisches Faktum, sondern als normative Grundgegebenheit anerkennt und für die „Glück“ deshalb der Horizont ist, in dem Moral und Eigeninteresse in irgend einer Weise zusammenlaufen, ist ein solches Dissoziieren der beiden Größen ohnehin nicht denkbar. Glück ist nämlich der Inbegriff der Erfüllung durch Besitz des Guten gemäß Maßstäben der Vernünftigkeit (da der Mensch ein vernünftig strebendes, d.h. wollendes Wesen ist). Moral hat es mit dem Guten zu tun, und Ethik ist die Lehre von dem Guten, in dem wir vernünftigerweise unser Glück finden können.

Die „Perspektive der Moral“, wie sie einer Tugendethik klassischen Zuschnitts zugrunde liegt, ist der Standpunkt des Menschen als leib-geistige Einheit und handelndes Subjekt, ausgestattet mit Trieben, Affekten und Emotionen, instinktschwach, aber gleichzeitig befähigt, aus seiner eigenen Zentralität sich durch Intellekt und Wille auf andere hin zu transzendieren, frei, und zugleich stets der Verfehlung seiner Freiheit ausgesetzt, zwar Herr seines Tuns aber doch auch immer gefährdet, dessen Sklave zu werden. Aus dieser Sicht macht die Dichotomie „Eigeninteresse - Moral“ keinen Sinn. Denn hier steht Moral gerade im Dienst des eigenen Interesses am Guten, nämlich im Dienste der Wahrheit dieses Guten und damit im Dienst des Interesses am Gelingen der eigenen Existenz, am „guten Leben“, ein anderes Wort für „Glück dieses Lebens“. Gleichzeitig aber kann das Interesse der jeweils anderen bzw. der Allgemeinheit an ihrem Wohl und dem für sie Guten jetzt auch als eigenes Interesse verstanden werden, da es – sofern der Handelnde auf Kohärenz bedacht ist – unmöglich erscheint, ein „Für-mich-in-Wahrheit-Gutes“ anzuerkennen und praktisch zu verfolgen, wenn ich es nicht grundsätzlich auch als ein „Für-die-anderen-Gutes“ anerkenne und insofern daran, dass sie dieses Guten teilhaftig werden, auch ein persönliches Interesse habe. Die Relevanz von Moral und ihren Wahrheitsansprüchen für die Verfolgung meines persönlichen Interesses garantiert gerade die Universalisierbarkeit solcher Ansprüche, die Gemeinsamkeit der Interessen und damit eine grundlegende, wenn auch nicht notwendigerweise bruchlose Verschränkung von Eigeninteresse und Moral. Freilich heißt dies nicht, sittliche Forderungen bzw. praktische Urteile seien wesentlich universal oder universalisierbar. Sie sind im Gegenteil partikulär, situationsgebunden, konkret und, wie Aristoteles sagt, „immer wieder anders“. Aber gerade dies ist nicht Thema der Moralphilosophie oder Ethik, sondern eben Gegenstand der konkreten praktischen Urteile des Handlungssubjekts. Moralphilosophie beschäftigt sich gerade mit dem diesen zugrundeliegenden Allgemeinen, wodurch konkretes Urteilen und Handeln eben „moralisch“ wird.

Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses „Scheinens des Guten“ vor der praktischen Vernunft. „Moral“ steht nicht im Dienste der Überwindung oder Unterdrückung von Subjektivität (auch nicht empirischer und sinnlicher Subjektivität), sondern im Dienste ihrer Wahrheit, gerade auch – und dies ist mit einem kritischen Seitenblick auf Kant gesagt – der Wahrheit der durch unsere empirischen und sinnlichen Antriebe geprägten Subjektivität. Die Perspektive einer Moral, der es um solche „Wahrheit der Subjektivität“ zu tun ist, ist immer jene des handelnden Subjekts, der „ersten Person“. Was wir in den Blick gewinnen müssen, ist wohl gerade dieser Standpunkt des handelnden Menschen, – der immer und notwendigerweise auf ein Gutes und, da er doch in seinem Streben nach dem Guten kein Betrogener sein will, auf ein „in Wahrheit Gutes“ aus ist –, sowie der diesen Standpunkt reflektierende ethische Diskurs. Die heutigen Bemühungen um „Ethik“, vor allem wenn sie sich primär als Diskurs zur Begründung von „Normen“ verstehen, leiden oft gerade darunter, dieser Perspektive nicht gerecht zu werden, trotz aller wertvollen Teileinsichten. Sie leiden unter dem Verlust der Frage nach dem Ethischen.2

2. Ethik als Lehre von der Tugend

Ethik entspringt einer Reflexion auf praktische Erfahrung, die Erfahrung von Handlungssubjekten ist. Sie darf diese Perspektive des Handelns nicht verlassen, will sie das Phänomen „menschliche (sittliche) Handlung“ nicht verfälschen. Wenn wir in dieser Perspektive der Praxis von „Gütern“ und „Zielen“ sprechen, so meinen wir immer Korrelate eines Strebens, und wir betrachten menschliches Tun als „Erstreben eines Gutes“. Das ist, was immer der Fall ist, wenn wir etwas tun.

Das Gute ist demnach, wie wir von Aristoteles lernen, immer etwas einem handelnden Subjekt „gut Scheinendes“. Mit „Schein des Guten“ ist hier nicht Täuschung gemeint, sondern das Gute, insofern es sich in der Beurteilung durch das handelnde Subjekt als ein solches zeigt. Gut – in der Perspektive der Praxis – ist ja gerade, was wir als gut beurteilen, und uns entsprechend als Gutes erscheint. Dass hier das „Urteil über das Gute“ zu einem „Scheinen des Guten“ führt liegt darin, dass Handlungsurteile Urteile über Strebungen sind. Es handelt sich um affektiv bedingte Urteile und Urteile über Affekte und Strebungen. Deshalb auch ist es, wie Aristoteles bemerkt, „für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet“3. Nicht weil wir immer aus „Lust“ handeln, sondern weil sie jenen Affekt bezeichnet, der die Vernunft am allermeisten zu desorientieren vermag, sie aber auch gleichzeitig, verläuft sie „in der rechten Weise“, die mächtigste Unterstützung der Vernunft ist4.

Die entscheidende Frage der Praxis besteht nun darin zu klären, welches die Bedingungen dafür sind, dass dieser „Schein“, bzw. dieses Urteil auch die Wahrheit trifft, dass das „gut Scheinende“ auch das „in Wahrheit Gute“ ist. Das ist nur dann der Fall, wenn das Streben selbst (Affekte und Wollen) das in Wahrheit Gute trifft. Genau so verhält es sich beim tugendhaften Menschen. „Der Tugendhafte nämlich urteilt über alles und jedes richtig und findet in allem und jedem das wahrhaft Gute heraus“5.

Ethik ist also, aristotelisch verstanden, Lehre von der Tugend. In dieser Tradition steht auch Thomas von Aquin. Eine solche Ethik sucht nicht eine „Objektivität“ der „universalen Vernunftimperative“, oder der „menschlichen Natur“ oder aber eines „besten Weltzustandes“. Sondern die Bestimmungskriterien für eine Art von Objektivität, die wir die Wahrheit der Subjektivität nennen können: Die Wahrheit praktischer Urteile von Handlungssubjekten über das ihrem Streben gegenständliche Gute. Das heißt nicht, Praxis und Ethik hätten nichts mit „universalen Imperativen der Vernunft“, mit „menschlicher Natur“ oder mit dem „besten Zustand der Welt“ zu tun. Gemeint ist vielmehr, dass wir darin für die ethische Reflexion keinen Ausgangspunkt finden können.

In der Tat verfälscht in der Ethik der Gegensatz „subjektiv“-„objektiv“ die Perspektive. Das sittlich Gute (oder Richtige) ist weder eine von bloßer Subjektivität abgehobene Objektivität, noch auch etwas Subjektives im Sinne eines subjektivistischen Relativismus. Objektivität ist in der Perspektive der Moral kein Gegenbegriff zu Subjektivität, sondern vielmehr eine bestimmte Verfasstheit von Subjektivität, nämlich deren Wahrheit. Die grundlegende Perspektive der Moral ist jedoch wesentlich immer die Perspektive der Subjektivität, d.h. des strebenden und aufgrund seines Strebens handelnden Subjekts. Nur in dieser Perspektive lässt sich verstehen, was eine sittliche Tugend ist.

Um die Frage nach den Bedingungen der Wahrheit der Subjektivität zu klären, sind mehrere Schritte nötig. Ethik ist insgesamt nichts anderes als die Klärung dieser Frage. Sie hat es demnach auch – wie jedes Wissen – mit Wahrheit zu tun. Damit ist klassische Tugendethik unterschieden von vielen gegenwärtigen Formen der Tugendethik, wie sie sich vor allem im angelsächsischen Raum in den vergangenen Jahrzehnten ausgebreitet hat6. Diese Form der Tugendethik hat einen weitgehend nicht-kognitivistischen Charakter, d.h. sie behauptet, die Moralität einer Handlung und schließlich des handelnden Subjekts selbst entspringe nicht so sehr der erkennbaren – und im Nachhinein auch als Normen, Prinzipien oder Regeln formulierbaren – Richtigkeit von Handlungsweisen, sondern vielmehr der jeweiligen moralischen Verfasstheit des handelnden Subjekts. Nicht „Richtigkeit des Handelns“ definiert hier, was die Tugend des Subjekts ist, sondern Tugend als richtige Verfasstheit des Subjekts definiert und generiert die „Richtigkeit des Handelns“. Wichtig ist also zunächst nicht, das „Richtige“ zu tun (schon gar nicht auf Grund von Normen, Prinzipien oder Regeln), sondern „richtig“ zu fühlen, richtig zu denken, die richtigen Motive zu haben, – kurz, ein subjektiv richtig verfasster (z.B. altruistischer, mitfühlender, starkmütiger, gerechtigkeitsliebender) Akteur zu sein. Daraus, so der moderne Tugendethiker, entspringen dann entsprechend richtige, moralisch wertvolle Handlungen. „Tugenden“ als subjektive Verfasstheit des Handlungssubjekts werden damit, mehr oder weniger scharf, der Erkenntnis und Befolgung von Prinzipien, sittlichen Normen und Regeln des richtigen Handelns entgegengesetzt. Die richtige Motivation durch tugendhafte Verfasstheit des Subjekts steht nun gegen „Verpflichtung“ durch Prinzipien, Normen und Regeln. Während der klassische (neuzeitliche) „Moralphilosoph“ die Erkenntnis der Richtigkeit von Handlungsweisen, entsprechende Prinzipien, Normen oder Regeln und die dadurch geschaffene sittliche Pflicht an den Anfang stellt, Tugenden hingegen dann als bloß abgeleitete Größe im Sinne einer subjektiven Verfasstheit gemäß den so erkannten Prinzipien, Normen und Regeln begreift, versteht der (moderne) Tugendethiker die sittlichen Tugenden als das Primäre, den Ursprung von Moralität, die Richtigkeit einer Handlungsweise hingegen als abgeleitete, aus der Tugend des Subjekts, der Richtigkeit seiner Verfasstheit entsprungene Größe. Damit tritt „Tugend“ bzw. richtige Motivation an die Stelle von sittlicher Pflicht: man tut das moralisch Richtige und Gute, nicht weil man Pflichten, Regeln oder Normen erfüllt, sondern weil man ein richtig verfasster, ein guter Mensch ist.

Die gegenwärtige, vor allem im angelsächsischen Raum vertretene Tugendethik kritisiert berechtigtweise einige Schwachpunkte neuzeitlicher „Moralphilosophie“ und akzentuiert dabei wesentliche Anliegen klassischer Tugendethik. Die Unterschiede bleiben jedoch beträchtlich. Gegenwärtige Tugendethik ist einseitig und eine Extremposition. Klassische Tugendethik ist weder nicht-kognitivistisch (sie behauptete also nicht, dass die Richtigkeit einer Handlungsweise der Richtigkeit ihrer Motivation entspringt), noch kennt sie einen Gegensatz von Tugend und Pflicht7. Ebenfalls reduziert sie jedoch die Tugenden auch nicht, wie dies die neuzeitliche Moralphilosophie tut, auf bloß habituelle Aneignung von Prinzipien, Normen und Regeln, sondern ist ausgesprochene Glückslehre: sie versteht das Gute, Richtige, Gesollte immer im Hinblick auf das dem Erreichen wahren – wenn auch u.U. durchaus unvollkommenen – Glücks Zuträgliche. Klassische Tugendethik versteht Tugend als jene emotionale bzw. affektive Verfasstheit des Subjekts, die (1) auf rational erkennbaren Prinzipien gründet und durch die (2) das Richtige, die Pflicht, das Sollen dann im Einzelfall erst adäquat erkennbar wird, weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftgemäss disponiert und damit Vernünftigkeit im partikulären Handeln ermöglicht und sichert (was keineswegs bedeutet, was im einzelnen das Richtige sei, könne nicht rational gerechtfertigt werden und könne vor dem Gewissen des Handelnden nicht als „Pflicht“ auftreten). Sittliche Tugend definiert und sichert damit auch die Bedingungen dafür, dass das Glücksstreben sich in den Bahnen von Vernünftigkeit vollzieht, dass wir darauf als Letztes und um seiner selbst willen erstrebtes Gut darauf aus sind, was auch vernünftigerweise als ein solches Letztes und Höchstes gewollt werden kann.

Sittliche Tugend ist damit in zweifachem Sinne Bedingung für die Vernünftigkeit des Handlungssubjekts: Sie bedeutet auf der Ebene der allgemeinen Prinzipien affektive Ausrichtung gemäß dem Vernünftigen, auf der Ebene der partikularen, konkreten Handlung hingegen kognitive Potenzierung durch die richtige motivationale, affektive Verfasstheit des Subjekts. Dadurch greifen Vernünftigkeit (kognitiver Aspekt) und habituelle affektive Disposition (motivationaler Aspekt) eng ineinander, im Sinne der klassischen aristotelischen Zirkularität. Beides ist demnach richtig: Sittliche Tugend ist sowohl habituelle Verfasstheit des Subjekts gemäß vernünftigen, rational einsehbaren und argumentativem Diskurs zugänglichen Prinzipien (die auch als Normen oder Regeln gefasst werden können, und in diesem Sinne eine abgeleitete Größe sind); gleichzeitig ist sittliche Tugend aber auch selbst affektives Prinzip der Erkenntnis des jeweils Richtigen im Bereich des konkreten, unmittelbaren Handelns. Dadurch ist das Tugendgemäße jeweils auch das „Gesollte“ bzw. „Pflichtgemäße“ – allerdings nicht im Gegensatz zum subjektiven Streben begriffen, sondern gerade, sofern das Subjekt eben tugendhaft ist, ein diesem Streben, Fühlen und Wollen adäquates „Gesolltes“ und „Pflichtgemäßes“.

Dies ist nun noch im einzelnen weiter auszuführen.

3. „Tugend“ im allgemeinen, intellektuelle und sittliche Tugenden

Im allgemeinsten Sinne wird mit dem Wort „Tugend“ die Vollkommenheit eines operativen, d.h. auf den Vollzug von Akten gerichtetes Vermögen bezeichnet. Solche Vermögen sind Intellekt (als theoretischer und praktischer) Wille, das sog. konkupiszible Strebevermögen (sinnliches Begehren) und das iraszible Strebevermögen (Mut). Das deutsche Wort „Tugend“ bringt in keiner Weise die ursprüngliche Bedeutung des griechischen areté und des lateinischen virtus zum Ausdruck. Areté meint so viel wie Trefflichkeit, Tüchtigkeit, Hochwertigkeit. Virtus kommt von vir (Mann) und meint ursprünglich etwa Mannhaftigkeit, dann aber auch einfach Trefflichkeit, Vorzüglichkeit, sittliche Vollkommenheit. Areté und virtus bezeichneten die Vortrefflichkeit des Menschen als Menschen schlechthin. Tugendhaft – in diesem klassischen Sinne – ist demnach nicht, wer ein „untadeliges Leben“ führt, indem er sich nichts zuschulden kommen lässt, wer lieb und gut ist, auch wenn er sonst für das Leben nicht viel taugt, sondern wer seine menschlichen Vermögen immer zum Guten gebraucht, das Gute mit Souveränität, Beständigkeit und Freude tut, wer kompetent und gewitzt ist, sich auskennt und jede Lage schnell und richtig einzuschätzen vermag; kurz: wer realisiert, was Aristoteles das „gute Leben“ und eupraxia nennt. Das gute Leben ist ein durch die Ansprüche der Vernunft geordnetes Leben, und eben deshalb ein glücklich zu preisendes Leben – glücklich nicht, weil ein solches Leben unbedingt das erfolgreichste ist, sondern weil wir meinen, es sei eben gelungen. Deshalb, so erklärt Aristoteles scheinbar paradox, können wir einen Menschen eigentlich erst dann mit Sicherheit glücklich preisen, wenn sein Leben zu Ende ist.

Tugenden sind sämtlich Vollkommenheiten jener Vermögen, die auf Tätigkeit (operatio) ausgerichtet sind. Es gibt freilich operative Potenzen, die einer solchen Vervollkommnung nicht bedürfen, weil sie bereits naturhaft ihren Akt vollkommen vollziehen. Es gibt keine Tugend des Sehens oder Tastens. Zwar können die Akte dieser Sinne mehr oder weniger vollkommen sein; dies jedoch beruht auf der physiologischen Disposition des entsprechenden Körperorgans.

Auch die sinnlichen Strebevermögen bedürfen in sich betrachtet keiner operativen Vervollkommnung; sie wirken mit naturaler Spontaneität, und auch hier ist das „besser“ oder „schlechter“ abhängig von physiologischen Dispositionen (die aber auch durch Gewöhnung in etwa modifiziert werden können). Als Vermögen einer menschlichen Person erhalten jedoch die sinnlichen Strebevermögen ihre letzte Vollkommenheit erst durch Integration in die Ordnung der Vernunft: durch Ausrichtung ihrer Strebedynamik auf das durch die Vernunft beurteilte Gute (das bonum rationis). Dazu bedürfen sie der Tugend als einer über die Natur des Vermögens hinausweisenden Vollkommenheit.

Ähnliches gilt für den Willen: Dieser erstrebt zwar seiner Natur gemäß das Gute der Vernunft, aber mit der Beständigkeit einer naturgegebenen Disposition tut er dies nur, insoweit zwischen ihm als Streben eines Individuums und dem erstrebten Guten eine Proportion besteht. Von Natur aus existiert eine solche Proportionierung zwischen dem Akt des Willens und dem Guten nur bezüglich des Guten für den Strebenden selbst. Mit Beständigkeit erstrebt der Wille deshalb nur das eigene Gute wie Selbsterhaltung oder Anerkennung und Hilfe durch andere. Damit der Wille jedoch auch das Gute für den anderen mit derselben Beständigkeit – gleichsam eben auch naturhaft erstrebt, bedarf er einer zusätzlichen Vervollkommnung: der Tugend der Gerechtigkeit.

Die Tugenden des Strebens (d.h. des sinnlichen Begehrens, des Mutes und des Willens) nennt man sittliche oder ethische Tugenden gemäß dem griechischen areté ethik, Vortrefflichkeit des ethos, d.h. des Charakters, der affektiven Disposition, der gewohnheitsmäßigen Neigung. So ist sittliche Tugend die Vortrefflichkeit dessen, was ein Mensch gewöhnlich tut und wozu er auf Grund seiner Dispositionen geneigt ist. Ähnliches drückt auch das lateinische virtus moralis aus (von mos, Sitte, Gewohnheit, Brauch, Charakter, Verhalten). Freilich ist die Etymologie hier nur von nebensächlicher Bedeutung.

Davon zu unterscheiden sind sogenannte intellektuelle Tugenden (Verstandestugenden, Aristoteles nennt sie dianoetische): Sie sind entsprechende operative Vollkommenheit des Verstandes, und zwar sowohl des theoretischen, wie auch des praktischen. Der Intellekt besitzt eine naturhafte Hinordnung auf die Erkenntnis der ersten (spekulativen und praktischen) Prinzipien. Er erfasst diese gleichsam spontan und bedarf dazu keiner weiteren Ausformung. Nicht jedoch gilt dies für jene Erkenntnis, die aufgrund solcher Prinzipien und vermittels weiterer Sinneswahrnehmung erschlossen wird, d.h. für den eigentlichen inventiven Prozess der schlussfolgernden Vernunft (dianoia).

Die Tugenden des theoretischen Intellektes heißen Weisheit (sophia/sapientia) und Wissenschaft (epistm/scientia). Diese Tugenden vervollkommnen den Intellekt in der Erfassung und Betrachtung von Wahrheit. Bezüglich der Erkenntnis der letzten und höchsten Ursachen sprechen wir von der Tugend der Weisheit; sie besitzt über alles andere Wissen eine architektonische, d.h. ordnende und beurteilende Funktion. Bezüglich der Erkenntnis von Wirklichkeit „nach unten“ hin vervollkommnet sich der Intellekt durch die verschiedenen Wissenschaften, deren es ebenso viele gibt, wie Gattungen des Wissbaren existieren. In diesem Sinne sind also beispielsweise Wissen und damit verbundene intellektuelle Fähigkeiten eines Historikers oder Physikers verschiedene Arten intellektueller Tugenden.

Der praktische Intellekt vervollkommnet sich durch die Tugenden der Kunst (techn/ars) und der Klugheit (phronsis/prudentia), wobei man im Falle von Kunst besser vom „poietischen Intellekt“ sprechen würde. Das moderne deutsche Wort „Tugend“ ist natürlich auf Kunsthandeln (worunter auch Technik fällt) kaum mehr anwendbar; und ebensowenig scheint es für Weisheit und Wissenschaft angebracht zu sein. Aber es geht hier ja nicht um Worte, sondern um den Begriff und die Sache: Die Tugend des Kunsthandelns ist Trefflichkeit oder Vollkommenheit des Intellektes (genauer: der Vernunft) bezüglich des poiein/facere, des Machens und Herstellens (recta ratio factibilium), eine Mischung von Wissen und Fertigkeit. Die Klugheit hingegen - ebenfalls ein abgegriffenes und missbrauchtes Wort - ist die Trefflichkeit oder Vollkommenheit der Vernunft bezüglich des prattein/agere, des Handelns, bzw. der Wahl guter Handlungen (recta ratio agibilium), eigentlich praktische Weisheit oder, gemäß einem Wort des hl. Thomas von Aquin, die „Weisheit in den menschlichen Dingen“8.

Mit Ausnahme des Intellekts der Prinzipien und der Klugheit können wir die intellektuellen Tugenden im Zusammenhang der philosophischen Ethik außer acht lassen. Die Klugheit nimmt unter den intellektuellen Tugenden eine Sonderstellung ein: Sie ist zwar Vervollkommnung der Vernunft, diese Vervollkommnung ist jedoch durch affektive Dispositionen mitbedingt (was auf die anderen intellektuellen Tugenden nicht zutrifft). Die Klugheit ist im eigentlichen Sinne die Tugend der praktischen Vernunft, die ja, wie wir früher sahen, in den Prozess des Strebens, in die affektive Dynamik eingebettet ist. Klugheit ist nicht nur abhängig von diesem Streben; als Tugend der praktischen Vernunft ist sie auch die Vollkommenheit jenes Vermögens, das dieses Streben kognitiv leitet. Deshalb rechnet man die Klugheit ebenfalls unter die sittlichen Tugenden. Ja, sie ist eigentlich die sittliche Tugend schlechthin, denn ein schlechter Mensch kann nicht wirklich klug sein. So ist sie die „rechte Vernunft dessen, was zu tun ist“, die recta ratio agibilium.

Tugend ist in allen Fällen Vollkommenheit eines operativen Vermögens, und zwar jene Vollkommenheit, die durch die Natur des Vermögens nicht schon gegeben ist und die bewirkt, dass dieses Vermögen die ihm gemäßen Akte in vollkommener Weise zur Ausführung bringen kann. Auch wer noch so intelligent ist: Ohne Studium, Übung und Erfahrung kann er kein guter Mathematiker oder Architekt werden. Ohne Wissen, Übung und Erfahrung vermag auch niemand ein guter Mensch zu sein, und das heißt: In allem oder zumindest zumeist das Gute und Richtige bezüglich des konkreten Handelns zu beurteilen und auch zu tun. Denn ein guter Mensch ist nicht nur ein solcher, der weiß, was im allgemeinen zu tun gut ist, sondern der dies auch im konkreten Hier und Jetzt weiß; und dies nicht nur weiß, sondern auch effektiv tut.

Um was für eine Art von Vollkommenheit handelt es sich näherhin, wenn wir von Tugend sprechen? Es ist eine Vollkommenheit, die mehr ist, als das Vermögen selbst; jedoch auch weniger noch als der „gute Akt“ des Vermögens. Die Vollkommenheit des Mathematikers ist mehr als bloße Intelligenz, und weniger als der Vollzug konkreter Akte mathematischer Erkenntnis oder Berechnung. Denn Mathematiker bleibt man ja auch, wenn man schläft oder Tennis spielt, also keine Akte vollzieht, die etwas mit Mathematik zu tun haben. Und dasselbe gilt von allen anderen Tugenden, wobei Akte der sittlichen Tugenden freilich in allen menschlichen Handlungen irgendwie mitspielen: Auch Tennisspielen ist abgesehen von Kunstfertigkeit auch menschliches Handeln: Man verfolgt ja ein Ziel, indem man sich z.B. damit den Lebensunterhalt verdient oder sich erholen oder Freundschaft pflegen will. Und auch Architekten beschränken sich nicht darauf, Häuser zu bauen, sondern damit erstreben sie immer auch etwas, was nicht einfach „Häuserbauen“ ist; und dieses Erstrebte kann z.B. gerecht oder ungerecht sein. Immer jedoch sind Tugenden Vollkommenheiten eines Vermögens, die es ermöglichen, die diesem Vermögen entsprechenden Akte gut zu vollziehen, die jedoch zugleich mit dem Vollzug der entsprechenden Akte nicht identisch sind.

Man nennt eine solche Vollkommenheit einen Habitus, eine Art stabile Disposition oder erworbene Neigung auf eine bestimmte Art von Aktvollzügen hin, die es ermöglicht, solche Akte mit der dem Vermögen entsprechenden Vollkommenheit, mit Leichtigkeit, Spontaneität und Treffsicherheit zu vollziehen. Tugenden sind gleichsam eine zweite, erworbene Natur auf der Ebene des Vermögens, durch die der Akt dieses Vermögens (Wahres Erkennen, Schönes hervorbringen, Schuhe herstellen, Gerechtes tun usw.) so vollzogen werden kann, wie es die bloße Natur nur etwa beim Sehen, Hören usw. ermöglicht. Tugend ist also eine Art Konnaturalität mit den dem Vermögen entsprechenden Aktvollzügen, ähnlich einem erworbenen Instinkt9. Tugend ist Können, Virtuosität, Brillanz, Souveränität, Kompetenz, Treffsicherheit usw. in spezifischen Bereichen des Erkennens, Herstellens und Handelns. Sie ist die Vollkommenheit des Menschseins im Bereich seiner Tätigkeit und damit auch Vollkommenheit und Erfüllung von Freiheit.

Zusammenfassend: Tugend jeder Art ist ein auf den guten Aktvollzug eines Vermögens gerichteter Habitus: Ein habitus operativus bonus. Aber damit ist nur bezeichnet, was allen Tugenden (im Unterschied zum Laster) gemeinsam ist. Wir erkennen so auch gerade, was ein Laster ist: Es ist eine Abkehr davon, wozu das entsprechende Vermögen eigentlich ein Vermögen ist, und damit eine Depravation des Menschseins und menschlicher Freiheit. Ein Laster ist nicht nur eine andere Möglichkeit, ein Vermögen zu nutzen. Falsches Erkennen ist ja auch nicht einfach eine andere Art von Erkennen sondern eher ein Mangel an Erkennen und damit eine Abkehr des Erkenntnisvermögens von dem ihm eigenen, naturgemäßen Guten: der Wahrheit. Schlechtes Wählen und schlechtes Tun ist nicht eine andere Art von Verwirklichung des eigenen Menschseins, sondern eher ein Mangel an Verwirklichung von Menschsein: eine Abkehr von dem dem Menschen als Menschen eigenen, naturgemäßen Guten: der Tugend als Ordnung der Vernunft. Ein Mensch, der einen schlechten oder ungerechten Willen besitzt, ist nicht ein solcher, der eben die Dinge anders sieht, sondern einer, der zunehmend überhaupt nichts sieht, weil er sich von der Vernunft entfernt. Und die Vernunft ist es ja, die dem Menschen das für ihn als Menschen Gute aufzeigt. Dennoch ist das Laster ebenfalls Habitus. Im Willen ist er Stolz, Hochmut, im sinnlichen Begehren Unmäßigkeit oder Gefühllosigkeit, im Mut Feigheit oder Tollkühnheit.

Wie gesagt: Die Kennzeichnung der Tugend als „Habitus guter Aktvollzüge“ (habitus operativus bonus) gilt für alle Tugenden. Für die Bestimmung von „sittlicher Tugend“ ist sie nicht ausreichend. Was ist denn nun genauer eine sittliche Tugend?

4. Anthropologische und affektiv-kognitive Dimension der sittlichen Tugend

Sittliche Tugend ist die Vollkommenheit des Strebens (sinnliches Begehren, Mut10, Wille) und durch Streben bestimmten Handelns gemäß der Ordnung der Vernunft. Sittliche Tugend ist einmal Integration des Sinnlich-Leiblichen in die Logik des Geistes, Ordnung innerhalb der Seele; und weiter: Beständigkeit in der Öffnung des Willens auf das Gut des anderen, wobei „der Andere“ sowohl der Mitmensch als auch Gott ist.

Wie Aristoteles sagt, führt die Vernunft über das Streben der Sinne nicht wie über den Leib ein despotisches, sondern ein „politisches und königliches Regiment“11. „Politische Herrschaft“ ist Herrschaft über Freie. Diese sind nicht einfach unterworfen, sondern sie handeln aus eigenen Antrieben und können auch widersprechen. So vermag auch das sinnliche Begehren mit der Vernunft im Widerstreit zu liegen. Nicht „despotische“ Herrschaft einer im sittlichen Wissen vollkommenen Vernunft über die sinnlichen Antriebe vermag die Vollkommenheit des Handelns zu garantieren, sondern allein Teilhabe oder Partizipation der sinnlichen Antriebe an der Vernunft, so dass das Streben der Sinne selbst zu einem von Vernunft durch­formten Prinzip menschlichen Handelns wird12. Damit ist die Beziehung zwischen Streben und Vernunft auf den Begriff gebracht: Jede sittliche Tugend ist Partizipation der jeweiligen Eigendynamik des Strebens an Vernünftigkeit und deshalb ein Habitus des vernunftgemäßen Strebens.

Vernunftgemäß ist, dass die Sinne begehren, wie es gemäß dem Urteil der Vernunft gut ist; dass man sich vor dem fürchtet, was gemäß dem Urteil der Vernunft und nicht nur der bloßen Einschätzung der Sinne zu fürchten ist und das man entsprechend handelt (hin und wieder ist es ja schlicht unvernünftig, das Handeln durch Furcht vor Schmerz oder Tod bestimmen zu lassen oder diese zu fliehen); ebenfalls ist es der Vernunft gemäß, das Gute, das man für sich selbst erstrebt, auch für den anderen zu wollen; usw.

Deshalb erklärt Thomas von Aquin, die sittliche Tugend sei „eine gewisse Disposition oder Form, die wie ein Siegel durch die Vernunft in das Strebevermögen eingeprägt ist“13 und: „Sittliche Tugend vervollkommnet den strebenden Teil der Seele, indem sie diesen auf das Gut der Vernunft hin ordnet. Das Gut der Vernunft ist jenes, was durch die Vernunft moderiert oder geordnet ist“14. Die sittliche Tugend sitzt also nicht einfach im Willen. Dies trifft nur auf die Gerechtigkeit zu. Jedes Strebevermögen besitzt seine Tugend(en): das sinnliche Begehren die Vollkommenheit des Maßes (temperantia) und der Mut die Vollkommenheit des Starkmutes oder der Tapferkeit (fortitudo).

Tugend ist deshalb nicht bloß eine innere Einstellung oder Grundhaltung. Sie ist nicht einfach Willensstärke oder Vernünftigkeit. Sie ist auch nicht Unterwerfung unter kategorische Imperative, Pflichtbewusstsein oder Entschlossenheit zum Guten15. Vielmehr ist sie innere Harmonie des Menschen und aller seiner Strebungen mit der Vernunft. Der maßvolle Mensch begehrt mit Leidenschaft nach dem Vernunftgemäßen; der starkmütige Mensch widersteht mit Leidenschaft allen Gefahren und Hindernissen, die sich dem Erreichen des Vernunftgemäßen entgegenstellen (er ist starkmütig, beharrlich, geduldig). Und der Gerechte tut gegenüber dem Mitmenschen nicht nur seine Pflicht, sondern er liebt seinen Mitmenschen wie sich selbst und das für den anderen Gute wie das für ihn selbst Gute. Wahre Gerechtigkeit ist letztlich die fundamentalste Art von Wohlwollen. Die Klugheit jedoch ist der Habitus der mittel- oder handlungsbestimmenden praktischen Vernunft, der sich gerade durch Integration dieser Vernunft in die Gesamtheit der anderen sittlichen Tugenden ausbildet.

Subjekt oder Träger der sittlichen Tugend ist demnach jeweils ein Strebevermögen. Gerade die sinnlichen Strebungen (für den Willen ist dies ohnehin klar) werden dadurch zu Handlungsprinzipien, durch die gutes Handeln angetrieben, mitgeformt und, was gerade Aristoteles betont, lustvoll wird. „Das Tugendgemäße ist für den Freund der Tugend lustbringend“. So „ist der nicht wahrhaft tugendhaft, der an sittlich guten Handlungen keine Freude hat, und niemand wird einen Mann gerecht nennen, wenn er an gerechten, oder freigebig, wenn er an freigebigen Handlungen keine Freude hat“16. Sittliche Tugend ist affektive Konnaturalität mit dem Guten, und zwar eine Konnaturalität des ganzen Menschen und aller seiner Strebungen.

Die Verbindung der Lehre von der Tugend mit der Lehre über die Lust fügt der anthropologischen Charakteristik der sittlichen Tugend eine zweite handlungstheoretische Bedeutung hinzu, auf die bereits verschiedentlich hingewiesen wurde. Es ist dies die kognitive Funktion der sittlichen Tugend.

Denn das Gute, das wir im Handeln verfolgen, ist ja immer ein gut-Scheinendes. Wie bereits eingangs bemerkt, ist mit diesem „Scheinen“ nicht eine Täuschung, sondern „Sichtbarkeit“ gemeint; d.h. die Tatsache, dass das Gute immer nur der affektiv eingebundenen Wertung des strebenden Handlungssubjekts als Gutes gegenständlich und somit sichtbar ist. Dass tugendhaftes Handeln ein Handeln aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten ist, heißt: Es ist ein Handeln, das auch im Konkreten mit Spontaneität und Sicherheit das in Wahrheit Gute trifft. Der Tugendhafte vermag in der Regel schlagartig Situationen richtig zu beurteilen und das Richtige zu wählen. Auch wenn kluges Handeln immer Erfahrung und Wissen voraussetzt, ist dennoch in einer solchen Art von Handeln die Affektivität ausschlaggebend; sie leitet geradezu das Urteil der Vernunft. Und wenn wir, obwohl wir im allgemeinen um das Gute wissen, im Konkreten dennoch Schlechtes wählen, so ist dies eben gerade, weil die Vernunft affektiv fehlgeleitet wird. Es ist die sogenannte ignorantia electionis bzw. der error electionis, Wahlunwissenheit und Wahlirrtum17. Der Tugendhafte jedoch wählt immer das Gute, weil das ihm gut Scheinende auch immer das wahrhaft Gute ist. Er wird dadurch selbst Regel und Maß für das wahrhaft Gute18. Denn seine Affekte, die ja für dieses Scheinen bestimmend sind, sind eben auf das der Vernunft gemäße Gute ausgerichtet.

Auch der nicht oder nur unvollkommen Tugendhafte kann das Gute wählen; aber nicht aufgrund affektiver Konnaturalität, sondern aufgrund von Wissen, bloßem „Pflichtbewusstsein“ und zumeist auch Zurückdrängung ungeordneter Affekte. Für Kant ist gerade dies unausweichliches Schicksal des Menschen und identisch mit „Tugend“, die er deshalb „moralische Gesinnung im Kampfe“ nennt19. Die Aristotelische Konzeption impliziert jedoch nicht, dass der Tugendhafte kein Pflichtbewusstsein oder kein Bewusstsein moralischer Verpflichtung besitzt. Im Gegenteil. Aber Pflicht ist für ihn identisch mit dem, was ihm gut scheint, worauf seine Affekte hinneigen und woran er Freude hat20. Der Tugendhafte besitzt auch ein subjektives Interesse am wahrhaft Guten. Das in Wahrheit Gute, das „Pflichtgemäße“, ist für ihn nicht einfach „Pflicht“ oder gar Last, sondern sein Interesse. So ist sittliche Tugend höchste Potenzierung von Freiheit und praktischer Vernunft, die gerade dadurch eben Klugheit wird21.

Genau diese, für eine klassische Ethik konstitutive Möglichkeit einer Einheit von „moralischem Sollen“ und subjektivem Interesse wird etwa von Hans Krämer grundsätzlich als illusorisch bezeichnet. Für Krämer gibt es deshalb zwei sich ergänzende, aber nicht in eine Einheit zu bringende Typen von Ethik: die Strebensethik (sie handelt von dem Für-mich-Guten, weil Gewollten) und die Moralphilosophie (sie handelt von dem Für-den-Anderen Guten und deshalb Gesollten)22. Auf unreflektierte Weise impliziert ist hier allerdings ein Menschenbild, demgemäß es im Bereich des Für-mich-Guten kein „Sollen“ geben kann (und damit letztlich auch kein unrichtiges, nach moralischen Maßstäben korrigierbares Wollen); und im Bereich des Dem-andern-Geschuldeten kein wirkliches Wollen, sondern nur die Einschränkung meines jeweils auf das Für-mich-Gute gerichteten Wollens. Der Mensch erscheint hier als ein radikaler Egoist, und moralisches Sollen als die Einschränkung dieses Egoismus zum Wohle des anderen bzw. zur Ermöglichung menschlichen Zusammenlebens.

Genau deshalb ist sittliche Tugend für das im Vollsinne gute Handeln notwendig. Tugend ist nicht einfach eine Form von Wissen, sondern Ordnung der Strebungen gemäß der Vernunft. Wissen ist nur ein Teil der Tugend, Weg zur Tugend und gleichsam, als Gewissen, Kontrolle für die Tugend, die als unvollkommene noch auf dem Weg ist.

Dass die Tugend ein Wissen um das Gute einschließt und deshalb in ihrem Bereich auch Wahrheitskriterien anerkannt werden müssen, das ist das ursprüngliche Anliegen des Sokrates im platonischen Dialog „Protagoras“: Es geht hier um die Klärung der Voraussetzungen dafür, dass Tugend überhaupt durch Lehre vermittelt werden kann. Die unvermeidliche Einseitigkeit dieses in mannigfachen Aporien endenden Standpunktes, der vornehmlich als eine Gegenposition zur Sophistik entstanden ist, wurde erst von Aristoteles überwunden, jedoch ohne die entscheidende Erkenntnis preiszugeben: Sittliche Tugend impliziert Erkenntnis und ist eine Form von Wahrheit, die allerdings, so korrigiert Aristoteles, erst dadurch auch praktisch wird, dass die Affektivität dieser Wahrheit gemäß ausgerichtet ist. Das „Praktische“ besteht dabei allerdings nicht nur darin, dass praktische Erkenntnis auch zu effektivem Handeln führt, sondern auch in jener spezifischen Art von Erkenntnis, die erst durch Integration der Affekte in die Sphäre der Vernunft möglich wird: eine Erkenntnis, die das Richtige und Gute im Konkreten bzw. Partikularen trifft. Denn in sich ist ja Vernunfterkenntnis universaler Natur. Handlungen jedoch (bzw. das praktisch Gute „hier und jetzt“) sind immer partikulare Vollzüge in konkreten Situationen und im Zusammenhang mit bestimmten Personen, zu denen der Handelnde wiederum in dieser oder in jener Beziehung steht, Beziehungen, die selbst wiederum in eine kontingente Lebensgeschichte eingebettet sind. „Es ist also ein Wissen vom Jeweiligen, das erst das sittliche Wissen vollendet“23. Gerade die sinnlichen Affekte verstellen entweder den Blick auf das hier und jetzt zu tuende Gute, oder aber sie ermöglichen überhaupt erst, es zu sehen und auch zu tun. Dasselbe gilt aber auch für den Willen. „Der Aristotelische Tugendbegriff fordert nicht nur, dass die praktische Vernunft den Bereich des Affektiven integriere; Aristoteles behauptet auch, dass sittliche Erkenntnis nur unter Voraussetzung dieser Integration möglich sei“24. Diese wechselseitige Beziehung, das geradezu zirkuläre Verhältnis zwischen Affektivität und praktischer Vernunft – „keine Tugend ohne Klugheit“ und „keine Klugheit ohne Tugend“ – ist allerdings nicht nur eine der wichtigsten Einsichten der Aristotelischen Ethik; sie bildet auch eines ihrer zentralen Probleme. Dies jedoch ist hier nicht weiter auszuführen25.

Der Text dieses Artikels ist teilweise dem Buch „La prospettive della morale. Fundamenti dell’etica filosofica, Armando, Rom 1994“ entnommen (spanische Ausgabe: „La perspectiva de la moral, Rialp, Madrid 2000). Das Buch wird in einer überarbeiteten Fassung voraussichtlich nächstes Jahr in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Perspektive der Moral“ im Akademie Verlag Berlin erscheinen.)

Referenzen

  1. Diese typisch angelsächsische, aber auch im deutschen Sprachraum weit verbreitete, letztlich kantisch inspirierte Dichotomie ist aber gerade auch von angelsächsischen Autoren zuweilen kritisiert worden. Vgl. z.B. J. Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, 313 ff.
  2. Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem 'Ethischen' verzichten? In: Theologie und Philosophie 59 (1984), 161-177
  3. Aristoteles, Nikomachische Ethik (=EN) II, 2, 1105a 6-7
  4. Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976
  5. EN III, 6, 1113a 30-31
  6. Einige wichtige klassische Beiträge und weiterführende Bibliographie findet sich z.B. in: P. Rippe und P. Schaber, Tugendethik, Stuttgart 1998; R. Crisp und M. Slote, Virtue Ethics, Oxford 1997 (Oxford Readings in Philosophy).
  7. Zur klassischen Tugendethik in ihrer antik-griechischen Ausgestaltung vgl. die ausgezeichnete Studie von J. Annas, The Morality of Happiness, Oxford 1993.
  8. „...sapientia in rebus humanis“ (Summa Theologiae, II-II, q.47, a.2)
  9. Zum Begriff der Konnaturalität vgl. R. T. Caldera, Le jugement par inclination chez Saint Thomas d'Aquin, Paris 1980; M. D'Avenia, La conoscenza per connaturalità in S. Tommaso D'Aquino, Bologna 1992.
  10. Wie bereits oben erwähnt: „Sinnliches Begehren“ ist der sog. appetitus concupiscibilis, d.h. das durch die Perzeption von Sinnesgegenständen Begehren; „Mut“ ist der appetitus irascibilis, d.i. jenes Begehren, das sich, ebenfalls auf der Ebene der Sinnesgegenstände, auf jene Güter bezieht, deren Erlangung die Überwindung eines Hindernisses, einer Beschwernis usw. implizieren. Das sinnliche Begehren wird durch die Tugend des Masses (temperantia) vervollkommnet, die, gemäss dem Urteil der rechten Vernunft, in der Mitte zwischen Unmässigkeit und Gefühllosigkeit liegt; dem irasziblen Begehren entspricht die Tugend des Starkmutes, die in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit liegt, beides Extreme, welche ebenfalls jeweils vernunftwidrig sind.
  11. Aristoteles, Politik, I, 5 1254b 6
  12. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, q.58, a.2
  13. Ders., De Virtutibus in communi, a.9
  14. Ders., Summa Theologiae, I-II, q.59, a.4
  15. Vgl. auch F. Ricken, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem 'Ethischen' verzichten?, 172ff
  16. Aristoteles, EN I, 9 1099a 10-11; 17-20
  17. Vgl. dazu M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994, 396 ff.; 446 ff
  18. Vgl. EN III, 6, 1113a 24 - b 1
  19. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 152 (W. Weischedel, Studienausgabe IV, 207)
  20. EN IX, 8, 1169a 16-18
  21. Vgl. G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù. Saggio di filosofia morale, Rom, 1989, 251
  22. Vgl. H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1992, 79 u. 132
  23. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. erw. Aufl. Tübingen 1972, 305
  24. F. Ricken, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem 'Ethischen' verzichten?, 174
  25. Vgl. dazu M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, vor allem Kap. IV. und V.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Martin Rhonheimer, lehrt an der Universitá Pontificia della Santa Croce, Piazza die Sant’Appolinare 49, I-I00186 Roma
Private Adresse: Berninastraße 85, CH-8057 Zürich

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