Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2001); 8(2): 145-147
Oswald Jahn

Die Aufnahme an der Internen Klinik erfolgt über Intervention eines Freundes zur weiteren Behandlung. Der Grund der Aufnahme ist die Weiterbehandlung eines Oesophaguskarzinoms in der südamerikanischen Heimat: „In Wien könne man helfen, dort wären die nötigen medizinischen Voraussetzungen gegeben, die zuhause nicht bestanden hätten“ – so habe ihm sein Hausarzt geraten. Er wird auf Sonderklasse aufgenommen.

Bei der Anamnese berichtet er, dass er außer Kinderkrankheiten, Mandel- und Blinddarmoperation Probleme mit dem Alkoholkonsum gehabt hätte, der zu einer Lebererkrankung geführt habe. Trotz Wissens um diese Krankheit hätte er weiter getrunken, bis nach einer Hämatemesis und Sklerosierung 1996 die Entscheidung zur Alkoholabstinenz dauernd eingehalten worden sei. Das Rauchen habe er jedoch noch nicht eingestellt, obwohl er unter morgendlichem Husten leide. 1998 sei eine Prostataoperation durchgeführt worden, die er ohne Probleme überstanden habe.

Vier Wochen vor der Aufnahme seien Schmerzen im Epigastrium aufgetreten, weswegen eine Gastroskopie durchgeführt worden sei, wobei der Krebs der Speiseröhre festgestellt wurde. Eine zur gleichen Zeit erfolgte Coloskopie ergibt kleine Polypen, die abgetragen werden.

Nach derzeitigen Beschwerden befragt, wird dies eher verneint, bzw. dissimuliert, er leide an leichtem Husten, geringer Müdigkeit und Einschlafstörungen. Beschwerden durch die Krankheit werden nicht angegeben.

Beruflich habe er eine wichtige Arbeit abgeschlossen, er sei als Journalist – im Gegensatz zu früheren Zeiten – nicht mehr aktiv. Derzeit habe er keine fixe Arbeit, neue Aufgaben bzw. Arbeiten seien geplant, jedoch noch nicht begonnen.

Die familiäre Situation habe er geregelt, auch habe er gebeichtet. Er strebe auf alle Fälle eine radikale Lösung seiner Krankheit an, falls diese geboten werde, nehme er sie auch an, er würde auch ein erhöhtes Risiko auf sich nehmen.

Die physikalische Untersuchung ergibt Übergewicht, einen unauffälligen Herz- und Lungenbefund. Im Abdomen finden sich Zeichen eines geringen Aszites, die Leber ist 3 QF unter dem Rippenbogen zu tasten, Oberfläche derb, kleinhöckrig, die Milz nicht palpabel. Der übrige Status ist unauffällig.

Von den Laborbefunden:

Blutsenkung8/26mm Westergren
Bilirubin0,8mg/dl
GOT21U/l
GPT19U/l
g GT41U/l
LDH302U/l
N T70%
Cholesterase4,53
Ges EW8,1g/l
HepatitisA-Ak pos.

Blutbild, Harnbefund und übrige Laborroutine unauffällig.

Lungenfunktion und EKG unauffällig.

Thorax-Rö.: unauffällig, CT: fragliche Sekundarien im Cardiabereich, sonst negativ.

Endosonographie: 34 cm ab Zahnreihe TU (T2, N0, MX), Leberzirrhose, portale Hypertension, kleine Ösophagusvarizen

Histologie: Mittelgradig ausreifendes gering verhornendes Plattenepithelkarzinom. Keine gesicherte Metastasierung.

Klinische Gesamtsituation:

a) Leberzirrhose, mit Zustand nach Hämatemesis durch Ösophagusvarizen(1966), die aber doch gute Funktion und stabile Verhältnisse zeigt. Seit Einhalten der Alkoholkarenz dürfte damit kein weiteres Fortschreiten der Erkrankung zu erwarten sein.

b) Krebs der Speiseröhre im unteren Drittel, keine gesicherte Metastastasierung, da Endosono keine Bestätigung des Verdachtes des CT ergab. Der weitere Verlauf ohne Eingreifen führt zur Stenose der Speiseröhre mit Schluckbeschwerden, Schmerzen und Metastasierung. Eine Stenteinlage könnte die Schluckbeschwerden lindern, bzw. wäre mit einer später angelegten Witzelfistel eine Nahrungsaufnahme möglich. Eine Bestrahlungstherapie oder Zytostaticagabe scheint nicht erfolgversprechend. Da die letzte Gastroskopie erst zwei Jahre zurücklag, wo kein Tumor festgestellt wurde, ist auf ein rasches Wachstum zu schließen.

Frage an den Arzt: Kann das Operationsrisiko eingegangen werden?

Es handelt sich um eine Operation in beiden Körperhöhlen mit langer Operationsdauer, technisch aufwendig und risikoreich, aber möglich. Der Erfolg wäre eine komplette Entfernung des Krebses, mit zusätzlicher Vermeidung weiterer Varizenblutungen durch die Interposition. Dieses hohe Risiko wird auch dem Patienten und seiner Lebensgefährtin mit entsprechendem Zeitaufwand und Einfühlungsvermögen mitgeteilt.

Frage an den Patienten: Soll er das Operationsrisiko eingehen?

Die Alternative zur Operation ist Zuwarten und das Fortschreiten der Krankheit mit Beschwerden, Schmerzen und Problemen auf sich nehmen. Schon der Entschluss nach Wien zu kommen, spricht für das Aufsichnehmens eines nicht unbeträchtlichen Risikos. Nach den bisherigen Erfahrungen hat er immer nach vorne entschieden und optimale Lösungen angestrebt. Die Chance, eine Heilung dieser Erkrankung zu erreichen, wird von ihm bevorzugt.

Nach Besprechung mit Internisten, Chirurgen und Anästhesisten erfolgt die Operation nach Akijama, Dauer 9½ Stunden.

Bei der Exploration finden sich zwei kleine Knötchen im Bereich des Ösophagus (4cm oral der Cardia), sonst palpatorisch kein Hinweis auf Sekundarien, daher wird der Operationsplan durchgeführt: multiple Verwachsungen mit Pankreas, Milz und Magenhinterwand erschweren die Präparation; da eine Milzvenenthrombose besteht, wird auch die Milz entfernt. Von colar wird der Ösophagus präpariert, nach Wegfall des Präparates eine End-Seit Ösophagogastrostomie durchgeführt, eine Jejunalsonde im Sinne einer Witzelfistel angelegt und nach Blutstillung, Reposition des Dünndarms das Abdomen geschlossen.

Unmittelbar postoperativ kam es zu einer deutlichen Verbesserung, der Patient konnte am nächsten Tag extubiert werden. Am Abend traten jedoch hohe Temperaturen auf, der Patient musste wegen insuffizienter Atmung als Folge einer Pneumonie am 3. postoperativen Tag reintubiert werden. In weiterer Folge kam es zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit Multiorganversagen; trotz intensivmedizinischer Versorgung verstarb der Patient am 15. postoperativen Tag.

Die Obduktion ergab das Bild der Sepsis mit Herzdilatation und Lungenödem, der Operationssitus war bland. Es fanden sich weiters peripankreatische Lymphknotenmetastasen, eine kleinknotige Leberzirrhose, Pankreasfettgewebsnekrosen und Schockniere.

War die Entscheidung zur Operation trotz negativem Ausgang richtig?

Vom Patienten her war primär der Wunsch gegeben, eine radikale Lösung durchzuführen, möglicherweise bestand eine fatalistische Einstellung, auf das Ganze zu gehen und jeglichen Misserfolg in Kauf zu nehmen. Denn mit einem Siechtum über Monate wollte er primär nicht übereinstimmen. Die Hoffnung auf eine entsprechende Lebensqualität war für ihn sicherlich ein wesentlicher Entscheidungsgrund. Sein Wille war letztlich der Grund, die Operation durchzuführen.

Als Arzt stand man vor der Entscheidung aktiv zu werden oder passiv zu bleiben. Für das aktive Vorgehen war die Möglichkeit der Radikalität der wesentliche Entscheidungsgrund, man könnte auch einen gewissen Stolz mit einbeziehen – der Patient kam aus dem Ausland und die Wiener Medizin sollte zeigen, was sie kann. Auch der Status als Klassepatient könnte einen finanziellen Anreiz dargestellt haben. Beide zuletzt genannten Gründe sind eher zurückzustellen, da primär das Wohl des Patienten zählte und relativ lange mit ihm diskutiert worden war und das Für und Wider über einen beträchtlichen Zeitraum hindurch offen geblieben ist.

Als Ursache des Misserfolges muss die Lebererkrankung mit der mangelnden Infektabwehr genannt werden. Da jedoch die Voruntersuchung keine wesentliche Funktionseinschränkung zeigte und die Prostataoperation ½ Jahr vorher ohne Probleme überstanden wurde, war kein Anhaltspunkt gegeben, hier diesen Ausgang zu erwarten. Inwieweit die Lungenerkrankung durch den Nikotinkonsum vorgegeben war, lässt sich wohl vermuten, aber nicht beweisen, da die Funktionsprüfung präoperativ normal war.

Wie hätte ich entschieden, wenn ich Patient gewesen wäre oder diese Entscheidung bei meinen Eltern hätte treffen müssen? Ich glaube, ich wäre auch für ein operatives Vorgehen gewesen, da eine Aussicht auf Erfolg auch über schwierige Zeiten gegeben war. Es bleibt immer bei solchen Entscheidungen ein Restrisiko, das nicht kalkulierbar ist, mit dem zu rechnen jedoch oft ungern angenommen wird.

Nach chinesischer Sitte müssen Ärzte dort für jeden verstorbenen Patienten eine Kerze in ihr Fenster stellen, hier wird eine große Kerze stehen, für einen Freund, der mutig seinen Ärzten vertraut hat!

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Oswald Jahn
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A-1080 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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