Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2004); 11(2): 131-133
Friedrich Kummer

Ausgangslage: Dieser 72-jährige passionierte Raucher weist alle Zeichen der COPD im sehr fortgeschrittenen Stadium auf: Er hat bereits eine lebensbedrohliche Exazerbation hinter sich, weist Hautatrophien, Suffusionen und eine respiratorische Kachexie auf. Er kommt mit einer massiven Ateminsuffizienz zur Aufnahme, die sich vorübergehend bessert, um innerhalb von 10 Tagen mit größter Vehemenz zu rekurrieren. Dabei wird er notfallintubiert und beatmet. Die Entwöhnung gestaltet sich insofern äußerst problematisch, als trotz mehrfacher scheinbar positiver Versuche jedes Mal eine Erschöpfung der Atemmuskulatur eintritt und die Reintubation erforderlich macht (dies durch 2 Monate).

Medizinische Aspekte: Vor 20 Jahren wäre dieser Patient kaum an die Maschine gekommen. Die Intensivbetten waren damals knapp, die allgemeine Einstellung war – auch unter Ärzten – schicksalsergebener als heute, insbesondere bei einem solchen Patienten in der Endphase einer irreversiblen und steil progredienten Erkrankung. Heute wird von der Medizin erwartet, dass alles Verfügbare genutzt wird, dementsprechend ist auch die Nachfrage aus Laienkreisen gestiegen.

Als Alternative zur Intubation besteht seit einigen Jahren die Möglichkeit der nicht-invasiven Druckbeatmung (NIPPV), die – wenn bei einem kooperativen Patienten anwendbar – in vieler Hinsicht günstiger ist (Verkürzung der Zeit auf der ICU, weniger Kosten und Komplikationen). Nunmehr ist der Patient aber intubiert und zeigt in dieser Situation, wo ihm das Atmen abgenommen wird, eine subjektiv positive Stimmungslage.

Solch ein Patient wäre ein idealer Kandidat für die Heimbeatmung bzw. Frühmobilisation inkl. Elektrostimulation und hyperkalorischer Ernährung. Dies ist aber dem Vernehmen nach aufgrund der familiären Struktur alles nicht durchführbar. Andrerseits schien das ärztliche Team frustriert über die Erfolglosigkeit der Entwöhnungsversuche, sodass das Problem offen diskutiert wurde, nach einer vorübergehenden Extubation bei abermaliger Verschlechterung auf die Reintubation zu verzichten. Das größte „Hindernis“ dafür ist das subjektiv gute Befinden des Patienten, wenn er an der Maschine hängt. Hier zeigt er eine läppisch-fröhliche Grundhaltung, wobei er durchaus voll ansprechbar und wohl auch entscheidungsfähig ist. Zu Recht wird daher – da nun einmal begonnen – mit den Reintubationen weitergefahren wie bisher.

Die Komplikationen der MRSA-Infektion bzw. der damit verbundenen Therapie haben ihm wohl den wirklich traurigen Teil des Dramas (frustrane Dauerbeatmung bis zum endgültigen Organversagen) erspart. Eine Entscheidung, den Patienten bei neuerlichem Versagen der Atempumpe nicht mehr zu beatmen, wäre eine zumindest paternalistische, wenn nicht inhumane Aktion bzw. Unterlassung gewesen, so lange der Patient nicht von sich aus darauf verzichtet, z. B. durch die Zustimmung zu einer DNR-Erklärung (Verzicht auf Wiederbelebung), die er unter klarer Autonomie abgibt.

Ethische Aspekte: Hier handelt es sich um einen Fall, bei dem die Frage eines Therapieabbruchs oder eines Therapieverzichts zu klären ist, und zwar mit (un-)mittelbarer Todesfolge, da die Therapie in einer maschinellen Beatmung zur künstlichen Lebenserhaltung besteht.

Ein Therapieabbruch bestünde in der Extubation, ein Therapieverzicht in der Unterlassung der Reintubation bei wiedereinsetzender Verschlechterung.

Wenn man mit einem derartigen Fall konfrontiert ist, müssen die Rechte des Patienten als Person gewahrt werden:

  • Autonomie: Was will der Patient selbst in dieser ausweglosen Situation?
  • Benefit: Was kann das Team zur Verbesserung seiner Lage tun?
  • Nil-nocere: Wie kann zusätzlicher Schaden vermieden werden?

Das Behandlerteam wieder darf sich auch seine Gedanken machen über:

  • Nachhaltigkeit: Was erwarten wir uns auf die lange Sicht?
  • Verhältnismäßigkeit: In welcher Relation steht der Aufwand zum möglichen (nachhaltigen) Erfolg?

Die Frage der Autonomie wurde bereits angerissen (siehe oben): Ein – wie es scheint – fröhlicher Beatmungs-Patient ist wohl auch im Stande, auf der Beibehaltung des augenblicklichen Zustandes zu bestehen, auch wenn dieser weder „nachhaltig“ noch „verhältnismäßig“ erscheint. Schließlich bleibt der Patient in extremer Abhängigkeit von der Maschine (durch zugezogene Fachleute für Entwöhnungstechniken bestätigt), wodurch ein unverhältnismäßig großer Aufwand resultiert (die Kosten für ein Beatmungsbett belaufen sich etwa auf das 5-fache eines normalen Bettes). Der Fall läge anders, wenn der Patient den Wunsch äußerte, endlich sterben zu dürfen. Der Verzicht auf Reintubation wäre dann wohl ein Akt der Barmherzigkeit (das Sterben wird nicht mehr „behindert“) und würde nicht in den Geruch der Sterbehilfe kommen: Es würde ja dabei auf unverhältnismäßig aufwändige Mittel (ohne Nachhaltigkeit) verzichtet werden.

Der Fall wir zum Lehrbeispiel, wenn man die „Autonomie“ eines geistig beschränkten Patienten bzw. die Situation eines Patienten betrachtet, der sich im bewusstlosen Zustand, Wachkoma, apallischem Syndrom („vegetative state“) befindet. Jetzt müssen seine Rechte durch Dritte mit Orientierung an bestehenden Rechtsordnungen gewahrt werden.

Die erste Annäherung besteht in der Ergründung des mutmaßlichen Willens des Patienten. Diese stützt sich gewöhnlich auf Zeugenaussagen, denen zufolge die Patienten sich in besseren Zeiten zu Intensivstation, Maschinen, mühsam aufrecht erhaltener Lebensfunktionen bei infauster Prognose geäußert hätten. Aus dem engen Kontakt mit Familienmitgliedern erwachsen wertvolle Indizien für die Beurteilung der Mentalität, Lebensphilosophie, Temperamenz, der Religiösität etc. der Betroffenen.

Das Vorliegen einer schriftlichen Verfügung aus der Hand des Patienten selbst wird derzeit als überaus vorteilhaft erachtet, wenngleich eine Übereinkunft bezüglich standardisierter Abfassung und Rechtsverbindlichkeit außerordentlich schwer zu erreichen scheint. Immerhin könnte sich ja die Haltung der Betroffenen zwischen Abfassung der Verfügung und Eintritt des Anlassfalles geändert haben.

Eine weitere Möglichkeit im Vorfeld besteht in der Nominierung von Familienangehörigen oder einer speziellen Vertrauensperson (Stellvertreter), die verlässlich die Interessen des Bewusstlosen wahrzunehmen wissen. Die Bestellung eines Sachwalters ist in unserem Lande nur für die Übernahme zivilrechtlicher Funktionen eingerichtet.

Die Gerechtigkeit gebietet überdies die Wahrung jener Güter, die einem Individuum zustehen, also auch die unabdingbare Achtung der Würde der Person. Diese kann von der Bewusstseinsfrage nicht abhängig gemacht werden. Sie läuft auch immer Gefahr, von emotionellen Projektionen der mitleidenden Angehörigen relativiert zu werden. Diese tendieren nur zu häufig dazu, von „Verlust der Würde" und „würdelosem Leben bzw. Sterben“ zu sprechen, wenn der Anblick und die objektive Situation vom Patienten kaum mehr erträglich ist, selbst für die Betroffenen selbst durch krankheitsbedingte Umstände oder medikamentösen Einfluss dem subjektiven Leiden enthoben sind.

Zurück zu unserem Patienten: Dem Vernehmen nach hat das Betreuerteam alles unternommen, um eine Heimbeatmung (Beatmungsmaschine, adaptiertes Zimmer, ev. motorisierter Rollstuhl) zu organisieren, doch scheitert dies an der ungünstigen häuslichen Situation und dem Mangel an einschulbaren Hilfskräften. Daher wurde Team-intern erwogen, die Reintubation bei nächster Gelegenheit zu unterlassen und den Patienten in der endogenen CO2-Diagnose sterben zu lassen. Dies wurde aber nie in die Tat umgesetzt, zu Recht, denn die Autonomie des Patienten wäre hier zusammen mit dessen Würde als Person schwerstens verletzt worden.

Die Frage: Hätten wir nicht doch schon bei der ersten Episode auf die Intubation und kontrollierte Beatmung verzichten sollen? – bleibt in ihrer großen Ambivalenz ungemildert offen stehen. Objektiv gesehen hätte der Patient aufgrund seiner Prä- und Komorbidität tatsächlich nicht an die Maschine kommen dürfen, aber – Hand auf’s Herz – welcher verantwortungsvolle Arzt in der nächtlichen Notsituation mit einem erstickenden Patienten hätte anders gehandelt?

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
St.-Johanngasse 1-5/1-11, A-1050 Wien
fkummer(at)imabe.org

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: