Fälle von „überzogenen Patientenwünschen“

Imago Hominis (2009); 16(2): 155-157

Einleitung

Patienten sind Menschen in einer besonderen Lebenssituation, in der sie zur Auseinandersetzung mit eigenem Leiden herausgefordert sind. In dieses wird in aller Regel der Arzt als erste allgemeine Anlaufstelle zur Problembewältigung involviert. Dabei gehen Patienten und Ärzte einen Behandlungsvertrag ein, der beide Teile zur Mitwirkung an der Erreichung des Behandlungszieles verpflichtet.

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient hat eine historische Entwicklung durchgemacht. An die Stelle einer Asymmetrie zugunsten des Arztes (Paternalismus) ist eine – theoretisch – ausgewogene Partnerschaft (Patientenautonomie, informed consent) getreten. Einerseits wurden in der Deklaration von Helsinki 1964 vom Weltärztebund die menschenrechtskonformen Ansprüche der Patienten formuliert, andererseits wurden in den vergangenen 20 Jahren für die Ärzte in vielen Bereichen Richtlinien zur Ausführung ihres Berufes (gute medizinische Praxis, „Good Medical Practice“, GMP) entwickelt.

Seither waren und sind es ausschließlich die Ärzte, die für tatsächliche oder vermeintliche Verletzungen des Behandlungsvertrages immer wieder – und auch vor Gericht – zur Verantwortung gezogen werden. Die Patienten werden in ihren Rechten sachkundig und erfolgreich durch die Einrichtung des Patientenanwalts oder Spitals-ombudsmanns unterstützt. Diese Institutionen haben die Rolle eines außergerichtlichen Mediators im Interesse der Patienten, die Ärzte können für sich das Schiedsgericht der Standesvertretung (Ärztekammer) anrufen.

Im Folgenden werden nun spezielle Fälle aufgegriffen, in denen Spitalsärzte durch konkrete Aktionen von Patienten und deren Angehörigen belastet werden, wobei letztere die ihnen zukommenden Rechte möglicherweise fehleinschätzen.

Fall 1

Eine 56-Jährige, seit 5 Monaten nierentransplantierte Frau entwickelt einen hochfieberhaften Zustand und wendet sich an die Nierenambulanz der Universitätsklinik. Dort wird eine Abstoßung weitgehend ausgeschlossen und ein unspezifischer Infekt angenommen. Wegen Bettenknappheit wird auf eine ambulante Behandlung entschieden.

Die weiteren medizinischen Fakten: Wegen ausbleibender Besserung Aufnahme in einem Peripheriespital, antibiotische Therapie, enger fachlicher Kontakt mit der Nierenklinik. Nach Ausschluss einer Pneumonie bzw. einer anderen schwerwiegenden infektiösen Genese des Fiebers wird die Patientin nach einigen Tagen doch von der Universitätsklinik übernommen. Die Enddiagnose bei Entlassung von der Klinik ist eine Fieberreaktion auf die laufende Immuntherapie (mit Rapamune).

Der Gatte der Patientin hatte ständigen Kontakt mit allen involvierten Ärzten (Ambulanzen, der Klinik, Ärzten des Peripheriespitals etc.). Die Hausärztin (eine enge Vertrauensperson der Patientin seit 8 Jahren) hatte die Patientin – im Konsens mit dem Ehemann - unter dem Hinweis „allgemeine Klasse“ in das Spital eingewiesen. Damit wollte sich dann aber der Gatte wegen angeblicher Infektionsgefahr durch Mitpatientinnen nicht zufrieden geben und ersuchte um eine Verlegung auf ein Sonderklassezimmer gegen entsprechende Aufzahlung. Nach der Transferierung seiner Frau auf die Universitätsklinik wandte er sich mit geharnischten Vorwürfen an den Patientenanwalt, dass seine Frau im Peripheriespital nicht automatisch in einem Sonderklasse (2-Bett-)Zimmer aufgenommen worden und die Transferierung an die Universitätsklinik nur durch seine Initiative zustande gekommen sei.

Die dem Patientenanwalt zugegangene Erwiderung des Spitals, die auf Grund der komplexen Vorwürfe einen erheblichen Aufwand erforderte, stellt richtig, dass innerhalb der 3 Tage im Spital laufend Kontakte mit der Universitätsklinik gepflogen wurden, zumal eine objektive und subjektive Besserung verzeichnet wurde, eine Ansteckungsgefahr durch Mitpatientinnen nicht gedroht habe und die Transferierung wegen Bettenmangels auch nicht hätte früher erfolgen können. Die Überstellung sei schließlich im guten Glauben des ungetrübten Konsenses erfolgt.

Danach sind keine weiteren Reaktionen von Seiten des Gatten der Patientin dokumentiert.

Fall 2

Eine 76-jährige Patientin wird wegen wässriger Durchfälle und allgemeiner Schwäche stationär im Spital aufgenommen. 10 Jahre davor war eine Kolon-Teilresektion wegen eines Karzinoms erfolgt. Ferner besteht bei Aufnahme eine senile Demenz, diffuse Muskelschmerzen mit Schwäche in den Oberarmen, eine chronische Coxitis links bei Zustand nach Endoprothese der Hüfte rechts, sowie Zeichen der Multimorbidität mit Hypertonie, Nephrosklerose und Anämie. Es besteht ein häufiger Konsum von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wegen der Schmerzen in den Armen und in der linken Hüfte.

Bei der Koloskopie zeigten sich kleine Ulcera mit entzündlichen Schleimhautdysplasien, die dem unkontrollierten NSAR-Gebrach zugeschrieben werden. Wegen der Muskelsymptomatik und den erhöhten Entzündungsparametern bestand auch der Verdacht auf eine Polymyalgia rheumatica. Unter einer auf die Minimaldosis titrierten Prednisolontherapie verschwanden die Diarrhoen und besserten sich auch prompt die Schmerzen in den Muskeln und der Hüfte. Die Patientin kann selbst essen und ist mit Krücken gehfähig, braucht aber Unterstützung bei der Toilette und anderen täglichen Verrichtungen.

Die vorgeschlagene Entlassung nach etwa 3 Wochen des Aufenthaltes wird von den Angehörigen kategorisch abgelehnt. Die Gründe sind vage (der Gatte sei selbst krank, die Kinder hätten keine Zeit), Heimhilfen (vom Spital über den zuständigen Sozialstützpunkt organisiert) werden ebenfalls abgelehnt. Vielmehr wird das Spital „an seine Aufgabe erinnert“, kranke Leute ohne Zeitbegrenzung stationär weiterzubehandeln. Ein Antrag auf Asylierung wird von den Angehörigen nicht unterschrieben (Angst vor Entzug des Pflegegeldes?). Nach zähen Verhandlungen, bei denen von den Angehörigen immer wieder mit dem Patientenanwalt gedroht wird, und die sich über 3 Wochen ziehen, erfolgt schließlich doch die Überstellung in ein Pflegeheim.

Fall 3

Ein 63-jähriger Diplomingenieur hatte in den Jahren 2002 und 2004 eine Hüftgelenks-Endoprothese erhalten. Bei der präoperativen Blutuntersuchung war 2002 im routinemäßigen Screening auf Syphilis ein grenzwertig erhöhter TPHA-Test erhoben worden. Zur Sicherung der Verdachtsdiagnose (stattgehabte luetische Infektion?) wurden vom Labor die entsprechenden Zusatzuntersuchungen (Bestimmung von IgM-Antikörpern und VDRL-Test) als unbedingt notwendig empfohlen. Dies unterblieb zwar, doch wurde diese Empfehlung im Arztbrief an den Hausarzt weitergereicht, wovon aber der Patient keine Kenntnis erhielt. Bei der nächsten Aufnahme (2004) wurde der niederschwellige Screeningbefund wieder erhoben, seine Konstanz über 2 Jahre – nach Rücksprache mit dem Labor – nunmehr als Zeichen von „falsch positiv“ und als „ignorierbar“ gewertet. Auch von diesem Sachverhalt erfuhr der Patient nichts.

2005 beantragte der Patient einen Behindertenausweis, für welchen er die beiden Entlassungsbriefe (2002 und 2004) vorzulegen hatte. Nach Anforderung und Lektüre derselben musste er nach seinem laienhaften Verständnis den Eindruck gewinnen, dass bei ihm der Verdacht auf eine luetische Infektion festgestellt, diesem aber nicht weiter nachgegangen worden war. Dies rief nun bei ihm und seiner Gattin große Bestürzung hervor, zumal die letztere inzwischen eine Nierentransplantation erhalten hatte und unter immunsuppressiver Therapie stand. Das Ehepaar fühlte sich dadurch in einen psychischen Ausnahmezustand versetzt, zumal sich der Patient keinerlei Möglichkeit einer derartigen Infektion bewusst war. Selbstverständlich vermied nun das Ehepaar solange jeden sexuellen Kontakt, bis endlich die längst fällige Laboruntersuchung den Beweis lieferte, dass nie eine luetische Infektion bestanden hatte. Diese Periode der psychisch-emotionalen Belastung hatte immerhin 2 bis 3 Monate bestanden.

Seither kämpft der Patient um eine Abgeltung für seine erlittene Unbill. Der Anwalt des Krankenhauses und der Leiter der orthopädischen Abteilung verwiesen etwas lapidar auf die (ohnehin erfolgte) Empfehlung im Arztbrief, und darauf, dass auch aus der empfohlenen Erhebung der Zusatzbefunde eine nervliche Belastung des Patienten resultiert hätte, wenn auch wohl von kürzerer Dauer. Eine Entschädigungspflicht könne aus dem Sachverhalt nicht abgeleitet werden. Schließlich wurde die Schiedsstelle der Ärztekammer angerufen, vor welcher das Krankenhaus sein Fehlverhalten einsah und eine Summe von EURO 5.000 zur Abgeltung anbot. Damit gab sich das Ehepaar nicht zufrieden, da es sich die 6- bis 8-fache Summe erwartet hatte, und beschloss, das Krankenhaus auf diese Summe zu klagen.

Fragestellungen

  1. Kann der Kooperationswille von Patienten und Angehörigen reglementiert werden (Verhaltenskodex für Patienten)?
  2. Sind Patienten und Angehörige moralisch verpflichtet, nicht abgesprochene Eigeninitiativen den Ärzten bekanntzugeben?
  3. Ist es sinnvoll, wenn sich die Betreuer (Ärzte, Pflegepersonal, Sozialarbeiter) präventiv an den Patientenanwalt/Spitalsombudsmann wenden, wenn sie sich seitens der Patienten oder Angehörigen unter Druck gesetzt fühlen?
  4. Ist eine „bipolare“ Anlaufstelle (Ombudsmann für Patienten und Ärzte) denkbar?
Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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