Editorial

Imago Hominis (2012); 19(2): 79-81
Enrique H. Prat

Kein Sektor des Gesundheitswesens ist so stark gewachsen und im Wachstum begriffen wie der Bereich der Altenpflege. Pflegeethik hat deshalb eine große gesellschaftliche Bedeutung: Sie ist aktuell, notwendig und wichtig. Pflege muss so gestaltet sein, dass sich in der Art der Pflege die betroffenen Hilfsbedürftigen als Menschen selbst wieder finden können. Letztlich besteht die Herausforderung darin, Menschen in ihrer Würde zu achten. Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen zeigt, in welchen Größenverhältnissen wir uns derzeit bewegen – und welche Szenarien für die Zukunft entwickelt werden.

In Österreich beziehen mehr als 420.000 Personen Pflegegeld (Austria-Statistik 2011). Der Großteil der Betroffenen, 83%, was rund 350.000 Personen entspricht, wird zu Hause versorgt. 17% (rund 70.000 Personen) der Pflegegeld-Bezieher leben laut Daten der Träger-Vereinigung Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt in Pflegeheimen.

Bei den zu Hause Versorgten dominiert mit 60% (255.000 Personen) die ausschließlich durch Angehörige durchgeführte Betreuung. Laut Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) aus dem Jahr 2008 werden sich die schon heute ziemlich hohen Gesamtaufwendungen für Langzeitpflege von 2010 bis 2030 je nach Szenario verdoppeln bis vervierfachen.

Daten der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft zufolge leiden etwa 100.000 ÖsterreicherInnen an einer dementiellen Erkrankung. Bis zum Jahr 2050 wird diese Zahl auf etwa 230.000 angestiegen sein - denn mit dem Alter steigen Inzidenz- und Prävalenzzahlen. Weltweit dürfte die Zahl der Demenzkranken im Zuge der höheren Lebenserwartung von heute rund 36 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 115 Millionen Patienten ansteigen. In Österreich wird jährlich etwa eine Milliarde Euro für die Versorgung Demenzkranker ausgegeben (75% nicht-medizinische-, 25% medizinische- und davon 6% Medikamentenkosten). Die Alzheimer-Krankheit ist für 60 – 80% der Demenzen verantwortlich, gefolgt von der vaskulären Demenz (15 – 20%) und der Demenz mit Lewy-Bodies (7 – 20%). Andere Demenzformen sind selten (unter 10%). Mischformen sind häufig.

In der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis setzen wir die Auseinandersetzung mit Aspekten der Pflegeethik fort. Die Themen sind vielfältig. Die Frankfurter Pflegeforscherin Ruth Schwerdt beleuchtet das Verhältnis zwischen jüngeren Pflegenden und alten Menschen mit Pflegebedarf in der beruflichen Altenpflege. Ausgehend von der Dialogischen Philosophie nach Martin Buber erarbeitet sie einen Lösungsansatz, wie professionelle Pflege die Begegnung mit der zu pflegenden Person erhalten kann – und dabei weder in eine Überidentifikation mit den Bedürfnissen, noch in eine kühle Distanz zum Menschen mit Pflegebedarf zu kippen.

Sollen Pflegende überhaupt bei ethischen Entscheidungen am Lebensende einbezogen werden? Die Ergebnisse einer am Wiener AKH durchgeführten Studie zeigen, dass Pflegepersonen eine sehr wichtige Rolle bei ethischen Entscheidungen am Lebensende innehaben, die Entscheidungsprozesse aber meist informell und unstrukturiert ablaufen. Die Pflegeexperten Sabine Ruppert, Patrik Heindl und Vlastimil Kozon (AKH Wien) zeigen auf, welche Konsequenzen daraus auf struktureller Ebene zu ziehen sind.

Anhand von Ergebnissen einer Untersuchung auf onkologischen Stationen zeigt Martin W. Schnell (Universität Witten/Herdecke), dass Ärzte und Pflege den Patientenkontakt als einen interpersonellen Schutzbereich in je unterschiedlicher Weise gestalten. Beide Zugänge stoßen auf Grenzen, mit denen die Heilberufler umzugehen haben.

Auf Basis der Leadership-Theorie habe ich selbst versucht darzulegen, welche Haltungen und Tugenden für die im Pflegeberuf Tätigen von besonderer Relevanz sind, um auch in der geriatrischen Langzeitpflege eine exzellente Leistung zu erbringen. Exzellenz hängt ja nicht nur von Organisation ab, sondern bedarf auch einer anspruchvollen Vision, die ihrerseits ein für die Entfaltung der notwendigen Tugenden/Haltungen notwendiges Missionsbewusstsein generiert.

Der Palliativmediziner Herbert Watzke (Medizinische Universität Wien) führt das Thema der Pflege in den Bereich der Palliativmedizin über. Er zeigt, dass Palliative Care heute früh im Krankheitsprozess und gemeinsam mit onkologischen Antitumor-Maßnahmen eingesetzt werden kann und dabei Lebensqualität fördernd und lebensverlängernd wirkt.

Unsere Schwerpunkt-Publikationen brachten Pflegeethik in den Blick als philosophische Reflexion über die ethischen Dimensionen der Beziehung zwischen Pflegeperson und Pflegebedürftigen. Pflege sollte aber auch aus sozialethischer Sicht betrachtet werden. Dann ginge es in der Reflexion darum, wie die Gesellschaft mit den im Pflegeberuf Tätigen umgeht. Es scheint, dass die wohlhabenden Länder gerade hier ein beträchtliches Problem haben.

Während die Zahl der Pflegefälle stark steigt, zeigen die in der Pflege Berufstätigen eine große Unzufriedenheit. Sie fühlen sich zunehmend ausgebrannt. Sowohl in Akutkrankenhäusern als auch in Langzeitpflegeeinrichtungen sind Pflegepersonen, die ohnehin eine sehr anspruchvolle Arbeit leisten müssen, oft überfordert. Im März 2012 hat das British Medical Journal (2012; 344: e1717) die ersten Hauptresultate der weltweit größten Pflegepersonalstudie publiziert. Es wurden in 13 Ländern (darunter Deutschland) Pflegekräfte und Patienten nach ihrer Zufriedenheit mit der Krankenpflege befragt. Mit 61.168 Krankenschwestern und 131.318 Patienten in mehr als 1.000 Kliniken dürfte es sich um die weltweit größte, jemals im Pflegebereich durchgeführte Studie handeln. Die Ergebnisse, die die Gruppe um Linda Aiken von der University of Pennsylvania School of Nursing in Philadelphia und Walter Sermeus von der Katholischen Universität in Löwen/Belgien vorstellte, zeigen beim Pflegepersonal an europäischen und US-amerikanischen Krankenhäusern ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der herrschenden Situation. Viele fühlen sich ausgebrannt. Die Frustration reichte zwischen 19% (in den Niederlanden) und 49% (in Griechenland) bis hin zur Absicht, sich im nächsten Jahr einen neuen Job suchen zu wollen (Deutschland 36%). Zwischen 10% (Niederlande) und erschreckenden 78% (Griechenland) sagten, dass sie ausgebrannt seien (Deutschland 30%). Burnout im Pflegeberuf scheint ein echtes Problem.

Sozialethisch müsste die Frage geprüft werden, ob der Pflegeberuf das gesellschaftliche Ansehen genießt, das er verdient, und Leistungen in diesem Sektor finanziell entsprechend Einsatz und Bildung honoriert werden. Vieles spricht leider dafür, dass es hier einen sozialethischen Handlungsbedarf gibt. Es wäre wert, diese Fragen in einer weiteren Publikation aufzugreifen.

Enrique H. Prat

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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