Editorial

Imago Hominis (2012); 19(3): 151-153
Jürgen Wallner

Nicht nur die moderne Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant weiterentwickelt, auch die Bioethik hat neue Konzepte und Methoden entwickelt, um im klinischen Kontext konkrete Hilfestellungen bei schwerwiegenden Fragen, Problemen und Konflikten bieten zu können. Die „klinische Ethik“, die sich in diesem Zusammenhang ausgehend von Nordamerika auch in Europa entwickelt hat, ist Gegenstand des vorliegenden Hefts von Imago Hominis. Ein Anliegen war es, Autoren zu Wort kommen zu lassen, die Bioethik nicht bloß in akademischen Lehrsälen oder öffentlich-politischen Gremien betreiben, sondern dort, wo die Schärfe des Augenblicks und die ganze Bandbreite menschlicher Existenz angesichts von Krankheit, Gebrechen oder Behinderung erfahrbar wird: am Krankenbett, in der Klinik.

Angesichts der zahlreichen ethischen Herausforderungen, die sich im klinischen Alltag den Handelnden stellen, ist es nur nachvollziehbar, wenn hierfür eine systematische Unterstützung gefordert wird. Wie eine solche aussehen kann, dem geht Jürgen Wallner in seinem Beitrag Klinische Ethikberatung: wo wir stehen nach. Der Autor argumentiert, dass sich die klinische Ethik als eigenständiger Bereich der Bioethik etabliert und mit ihrem Beratungsangebot auf eine lange Tradition der Ethik zurückgreifen kann. Die Ethikpraxis im klinischen Kontext besteht insbesondere darin, die Entscheidungsträger in ihren Beratungen zu unterstützen. Dies geschieht in institutionalisierter Form in klinischen Ethikkomitees und in ethischen Fallbesprechungen. Wallner verweist darauf, dass diese Ethikpraxis international zunehmend professionalisiert wird, wofür gute Gründe sprechen.

Wie eine ethische Fallbesprechung konkret konzipiert werden kann, legt Klaus Kobert in seinem Beitrag Die Rolle der Angehörigen im ethischen Fallgespräch dar. Während es aufgrund mangelnder Einwilligungs- und Kommunikationsfähigkeit oftmals unmöglich ist, den Patienten selbst in die ethische Deliberation einzubinden, stehen häufig Angehörige für ein Gespräch zu Verfügung. Wenngleich sie in Österreich und Deutschland nicht per se eine rechtliche Stellvertreterrolle haben, sind sie sowohl aus grundlegenden Respekts- als auch pragmatischen Klugheitsüberlegungen wichtige Gesprächspartner für die klinische Entscheidungsfindung. Kobert liefert überzeugende Argumente, dass und wie Angehörige in die ethische Fallbesprechung einbezogen werden sollten, er weist aber auch darauf hin, dass dies nicht immer der Fall sein muss.

Entscheidungen für eine Begrenzung oder Zurücknahme kurativ ausgerichteter Therapiemaßnahmen aufgrund fehlender Indikation oder ablehnenden Patientenwillens stellen einen Großteil jener Fälle dar, in denen eine konkrete Unterstützung seitens der klinischen Ethik erwartet wird. Kurt Lenz zeigt in seinem Beitrag Therapiebegrenzung, welche grundlegenden Begriffe und Prozesse es hierbei zu beachten gilt. Im Gegensatz zu einer überkommenen, weil irreführenden, Terminologie von „aktiver/passiver Sterbehilfe“ führt der Autor in die heute in der klinischen Ethik immer weiter verbreiteten Begriffe der Therapiebegrenzung und -reduktion ein. Dabei wird deutlich, dass es um komplexe Handlungen geht, die aufeinander abzustimmen sind. Therapiebegrenzung ist nicht ein Im-Stich-Lassen des Patienten, sondern die Begrenzung oder Reduktion von kurativen Maßnahmen geht mit der Intensivierung von Palliative Care einher. Mit seinen konkreten Frage- und Checklisten liefert der Beitrag zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie klinische Ethik operationalisiert werden kann.

Therapiebegrenzungs-Entscheidungen werden von vielen Beteiligten als besonders schwierig erfahren, wenn es sich beim Patienten um ein Kind handelt. Alfred Dilch erörtert in seinem Beitrag Therapiezielplanung in der Pädiatrie: „Von DNR-Order zu AND“, wie solche Entscheidungsprozesse gestaltet werden können. Ausgangspunkt ist die Frage, was die ethischen Kernprinzipien von Fürsorge, Nicht-Schaden und Respekt vor der Selbstbestimmung im Kontext der Pädiatrie bedeuten können. Dabei besteht heute Konsens darin, dass Kinder entsprechend ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit in die Entscheidungsfindung einzubeziehen sind. Bei Neugeborenen, Kleinkindern oder Kindern mit einer schweren kognitiven Störung ist dies freilich faktisch nicht möglich. In diesen Fällen gilt es, einen Dialog zwischen therapeutischem Team und Eltern aufzubauen, der letztere einbindet, ohne sie zu überfordern. Um beiden Seiten die bestmögliche Sicherheit zu geben, stellt Dilch ein Therapiezielprotokoll vor, welches er in der klinischen Praxis verwendet, um Entscheidungen zwischen Behandlungsteam und Eltern zu dokumentieren. Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass dies keine abschließende Gewissheit über den Verlauf der Dinge bieten kann. Zweifellos ist es aber ein gutes Beispiel dafür, wie mit Instrumenten der klinischen Ethik die Verantwortung von den Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen wahrgenommen werden kann.

Ein medizinischer Fachbereich, der selten mit Problemen der klinischen Ethik verbunden wird, ist jener der Orthopädie. Dass man dies durchaus anders sehen kann, zeigt Walter Strobl mit seinem Beitrag Verbesserung der Lebensqualität bei schwerstbehinderten Patienten. Er geht darin der Frage nach, wie Therapieentscheidungen bei Patienten mit schweren neuroorthopädischen Erkrankungen, die für den Betroffenen meist eine lebenslange Einschränkung bedeuten, getroffen werden können. Im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung steht die Lebensqualität, die sich nicht nur aus den physischen Funktionseinschränkungen oder -verbesserungen, sondern auch aus psychischen und sozialen Aspekten ergibt. Ähnlich wie bei Neugeborenen oder Kleinkindern hat man bei schwerstbehinderten Menschen oftmals nicht die Möglichkeit, ihren Willen direkt zu erfassen. Zudem kommen Schwierigkeiten die Indikationsstellung betreffend, die sich auf die Frage zuspitzen: Ist alles Machbare sinnvoll? 
Strobl bietet für die Bearbeitung dieser Frage eine Reihe an Orientierungspunkten, denen ein bio-psycho-soziales Gesundheits- bzw. Krankheitsverständnis zugrunde liegt.

Wie bereits angesprochen, ist der Patientenwille für die klinische Entscheidungsfindung aus ethischer und rechtlicher Perspektive ein unumgänglicher Bezugspunkt, der aus dem Respekt vor der Selbstbestimmung des Menschen resultiert. Der hohe Stellenwert, der dieser Autonomie in unserer Gesellschaft zukommt, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Rechtsordnung selbst vorweggenommenen Willenserklärungen eine gewisse Autorität einräumt. Michael Peintinger liefert mit seinem Beitrag Erfahrungsbericht über Patientenverfügungen im Alltag einen Einblick zur Handhabung solcher antizipierter Willenserklärungen im Krankenhaus aus erster Hand. Der Autor, der auf ein langjähriges Engagement in der klinischen Ethik im Allgemeinen und in der Entwicklung von rechtlichen und organisationalen Standards für Patientenverfügungen blicken kann, zeigt die praktischen Fragen und Probleme auf, die bei der Errichtung, Interpretation und im Vollzug von Patientenverfügungen auftreten. Ein besonderes Anliegen ist Peintinger dabei das qualitätsgesicherte Arzt-Patienten-Gespräch in der Errichtung einer solchen Verfügung – eine Anforderung, die heute leider noch nicht ausreichend garantiert werden kann.

Dr. Jürgen Wallner, MBA

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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