Editorial

Imago Hominis (2012); 19(4): 235-237
Susanne Kummer

 Die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik sind in den vergangenen 20 Jahren rasant gestiegen. 80 Prozent der Schwangeren nehmen inzwischen eine über die vorgeschriebenen Ultraschalluntersuchungen hinausgehende pränatale Diagnostik in Anspruch: Aufgrund zunehmend eugenischer Tendenzen werden vorgeburtliche Untersuchungen aber inzwischen auch zwiespältig beurteilt.

Zwar werden die diagnostischen Methoden immer feiner, die Palette der (meist privat zu bezahlenden) Angebote wächst. Doch bis auf ein kleines Spektrum gibt es kaum Therapiemöglichkeiten. Dagegen herrscht offenbar der Glaube, Gesundheit ist durch vermehrte Untersuchungen zu bewirken. Das beruht auf der Illusion, die Diagnose sei bereits die Therapie, und die Medizin könne zu einem perfekten Kind verhelfen. Zugleich wird die Schwangerschaft pathologisiert. Nicht bloß „Risiko“frauen werden gescreent, inzwischen gelten auch normalen Schwangerschaften als potentielle Risikoschwangerschaft, die auf Nackenfaltenmessung, Triple-Test, Organscreening u. a. nicht verzichten dürfen.

Die Janusköpfigkeit der derzeitigen Praxis der vorgeburtlichen Tests zeigt sich aber vor allem in dem Dilemma, dass das Mehr an Information nicht im Dienste des (ungeborenen) Kindes steht, sondern gegen es verwendet wird. Pränatale Diagnostik kann positiv genutzt werden, um in manchen Fällen noch während der Schwangerschaft bzw. sofort nach der Geburt medizinisch eingreifen zu können. Die Zielrichtung ist aber inzwischen oft eine andere: Wenn ein Befund tatsächlich „auffällig“ ist oder gar eine Behinderung festgestellt wird, folgt als erstes die Überlegung eines Schwangerschaftsabbruchs, der in den meisten Fällen dann auch durchgeführt wird. Down-Syndrom-Kinder „sterben aus“. Die „Therapie“ besteht in der Abtreibung. Nicht die Krankheit wird eliminiert, sondern die Kranken.

Dass sowohl Mütter (und Väter) als auch Ärzte häufig alleine gelassen sind, ist kein Geheimnis. Jede Frau, die mit einer Auffälligkeit konfrontiert ist, befindet sich in einem Schockzustand. Zusätzlich zum Rat für eine Abtreibung kommt ein hoher gesellschaftlicher Druck auf die Eltern: Wer möchte sich, dem Kind oder der Gesellschaft schon ein belastendes Leben mit Behinderung „antun“? Zahlreiche Nebenfaktoren haben Einfluss auf die Entscheidung: Was hier zunächst wie persönliche Wahlfreiheit, Autonomie aussieht, wird zur Verantwortung für die Qualität des Kindes und endet als soziale Pflicht gegenüber der Gesellschaft.

Ärzte sind andererseits häufig in der Zwickmühle, da das Ziel der Pränataldiagnose zunehmend nicht nur der Sorge um Gesundheit von Mutter und Kind gilt, sondern angesichts der rechtlichen Situation auch zur eigenen Absicherung dient. Wer möchte schon auf Schadenersatzzahlung nach Geburt eines behinderten Kindes geklagt werden, wenn die Eltern später behaupten, sie hätten „rechtzeitig“ abgetrieben, wären sie nur genügend informiert gewesen? Ein Kassenarzt hat im Schnitt acht Minuten Zeit, um die vorgeschriebenen vorgeburtlichen Routineuntersuchung vorzunehmen, er ist verpflichtet, die werdende Mutter über weitere Methoden der Pränataldiagnose zu informieren. Für intensivere Gespräche gibt es da nicht viel Raum, schon gar nicht bei „Auffälligkeiten“, wo auf die nächste Instanz verwiesen werden muss.

Worin bestehen heute Logik, Praxis und Folgen vorgeburtlicher Diagnostik? Der Komplexität des Themas muss man sich aus verschiedenen Perspektiven nähern, worum wir uns in der vorliegenden Ausgabe bemüht haben.

Jeanne Nicklas-Faust (Ärztin, Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe und selbst Mutter eines behinderten Kindes) stellt die Ergebnisse einer repräsentativen Studie vor, die sowohl das Schwangerschaftserleben von Frauen in Deutschland untersuchte als auch Aussagen zur Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik (PND) ermöglicht. Erschreckend ist festzustellen, wie wenig die Betroffenen über die Tests eigentlich wissen. Eine starke Inanspruchnahme der PND bei gleichzeitig geringem Informationsstand - diese Situation verlangt dringend nach neuen Zugängen zu diesem diagnostischen Instrumentarium.

Der Sozialethiker Manfred Spieker (Universität Osnabrück) zeigt, wie sich schleichend der Bedeutungshorizont des Begriffs Verantwortung wandelt. Angesichts eines „vermeidbaren“ kranken Kindes schlägt Verantwortung um in die Pflicht, nur noch gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Wo aber nur noch ein durch PND qualitätsgesichertes Kind zur Welt kommen darf, verliert es seinen Status als Subjekt. Es wird zum Objekt, das durch die PND zu zertifizieren ist.

Die medizinischen Aspekte der Pränataldiagnostik in ihren Möglichkeiten und Grenzen werden von den Medizinern Karl Radner (Facharzt für Frauenheilkunde und Gynäkologie, Wien) und Walter Rella (Allgemeinmediziner) erörtert. Sie stellen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor und beleuchten umfassend die selten gestellte Frage, inwieweit pränatale Untersuchungen wie etwa zu häufiger Ultraschall selbst schon schädigende Nebenwirkungen auf das ungeborene Kind haben können.

Der Moraltheologe Josef Spindelböck (Philosophisch-Theologische Hochschule St. Pölten) erörtert das ethische Dilemma, in das Ärzte geraten können, wenn sie vermuten müssen, dass die Information über eine etwaige Risikoschwangerschaft eine Abtreibung zur Folge haben wird. Welche Mittel stehen zur Verfügung, um einerseits umfassend über die Fakten zu informieren und andererseits die Frau in ihrer jeweiligen Situation zu unterstützen?

Ist nicht im Grunde jedes Leben eine „Zumutung“? In einem religionsphilosophischen Nachdenken geht Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hochschule Heiligenkreuz) der Frage nach der Zumutbarkeit des Lebens nach. Der Mensch als „Leidwesen“ widerspricht dem modernen Denken, zu dem die Planbarkeit des Lebens und die kontrollierte Fortpflanzung gehören. In dieser Mentalität spitzt sich der Konflikt von gegensätzlichen menschlichen Haltungen zu: der Zwiespalt zwischen Annehmen und Verweigern des Ungeplanten, zwischen Austragen und Verändern des Unerträglichen, zwischen Erleiden und Abschaffen.

Anhand des jüngst auf den Markt gekommenen Bluttest zur Erkennung von Trisomie 21-Kindern (PraenaTest) zeigt Erika Feyerabend (BioSkop: Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien) die Hintergründe auf, wie es in der Schwangerenvorsorge – und im gesamten Gesundheitswesen – auch um Marktpotentiale, Forschungsinteressen, Patente und sehr viel Geld geht.

Der 11. Weltkongress zum Thema Bioethik im Juni 2012 – von dem die Bioethikerin Margit Spatzenegger berichtet – scheint jedenfalls eher den Verdacht zu bestärken, dass Ethik in Forschung und Medizin nicht als Korrektiv zu utilitaristischen Verzweckungen des Menschen verstanden wird, sondern bloß eine Feigenblatt-Funktion übernehmen soll.

Eine nachdenkliche Lektüre wünscht

Susanne Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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