Kommentar zum Fall

Imago Hominis (1999); 6(3): 234-237
Wilhelm Streinzer

Einleitung

Dieser Fall, aus der Praxis eines erfahrenen praktischen Arztes, zeigt die Problematik der Behandlung einer sogenannten Vertretungspatientin, die ein Rezept über ein „Suchtgift" haben möchte. Die Patientin kann, wenn ihr behandelnder Arzt auf Urlaub oder krank ist, jeden anderen praktischen Arzt als Vertretungsarzt aufsuchen. Frau F.C. will nur ein Rezept, sonst nichts. Der vertretungsweise in Anspruch genommene Arzt, der die Patientin nicht kennt, hat in der kurzen ihm zur Verfügung stehenden Zeit die Diagnose zu überprüfen, zu klären ob die Arzneispezialität indiziert ist, ob es Kontraindikationen oder Interaktionen mit anderen Medikamenten gibt, und er hat in diesem speziellen Fall auch die Rechtslage und die Formalvorschriften zu beachten, die bei Verordnung eines „Suchtgiftes" vorgeschrieben sind.

Problematik aus der Sicht der Patientin:

Frau F.C. möchte ein Rezept, damit sie ihre laufende Therapie, in diesem Fall eine Schmerztherapie, fortsetzen kann. Ein Spitalsrezept und einen Spitalsbrief, aus dem hervorgeht, daß Schmerzzustände bestehen, die auch durch eine Laminektomie nicht behoben werden konnten, hat sie mitgebracht. Sie nimmt auch andere Medikamente wie Saroten retard, verschiedene andere Analgetika und auch, wie ihr bei der ärztlichen Konsultation einfällt, Tramal gegen Kopfschmerzen. Zur Legitimation zeigt sie ihren Reisepaß. Aus der Sicht der Patientin müßte dies genügen, um das von ihr gewünschte Rezept zu erhalten.

Problematik aus der Sicht des Arztes:

Der Arzt kennt die Patientin nicht, auch nicht den behandelnden Hausarzt, weil die Patientin aus einem entfernten Bezirk kommt. Er verschreibt der Patientin eine Großpackung Vendal retard. Er will ihr die Schmerztherapie nicht vorenthalten, auch den Vorschriften des Gesetzes und der Krankenkasse hat er entsprochen. Er hat einen Spitalsbrief und ein Spitalsrezept gesehen und die Identität von Frau F.C. geprüft.

Es wurde zwar, nach den Ökonomierichtlinien der Kasse, nicht das preisgünstigste Präparat verordnet, da es sich aber um eine Therapiefortsetzung handelt, ist ihm als Vertretungsarzt eine Therapieumstellung nicht zuzumuten. Auch das Präparat an sich, ein starkes Opiat, ist für eine dauernde Schmerztherapie gut geeignet. Morphine verursachen im Gegensatz zu vielen anderen Analgetika keine Organschäden, eine Abhängigkeitsgefahr ist bei den retardierten Formen nicht gegeben und die Patientin ist hinsichtlich der Dosis bereits eingestellt, sodaß eine Atemdepression nicht zu erwarten ist.

Saroten verschreibt er nicht, auch nicht Tramal gegen Kopfschmerzen.

Bedenken kommen ihm erst später. Bei der Krankenkasse ist die Patientin nicht als „Suchtgifterschleicherin" bekannt. Das Spital hat die bereits vorbestehende Therapie nach offensichtlicher Nutzlosigkeit des chirurgischen Eingriffes in Bezug auf die Schmerzen weiter verschrieben. Damit sind die anfänglichen Bedenken vorerst ausgeräumt.

Problematik aus der Sicht des Gesetzgebers (Suchtmittelgesetz – SMG):

Stark wirksame Opioide sind eine wirkungsvolle und bewährte Therapie gegen chronische Schmerzzustände. Das weiß auch der Gesetzgeber. Verhindert werden soll ein unsachgemäßer Gebrauch, durch Änderung der Galenik und kombinierter Verwendung mit anderen psychotropen Substanzen. Diese modernen retardierten Morphinformen können von Suchtgiftabhängigen so verändert und verwendet werden, daß die gewünschte rasche Anflutung des Opiats erzielt werden kann. Geschützt werden soll nicht nur der Anwender selbst, sondern es soll auch der Verkauf ( auf den Schwarzmarkt bringen) dieser Substanzen verhindert werden. Deshalb sind vom Gesetzgeber zahlreiche Hürden bei der Rezeptierung vorgeschrieben worden. Das beginnt schon bei der speziellen Anforderung für die Rezeptformulare, beinhaltet die Vorschriften über die Ausfüllung des Rezeptes, die Beachtung der Tageshöchstdosen und des Monatsbedarfes und endet in der Stigmatisierung des Patienten, der mit einem solchen Rezept die Apotheke aufsucht.

Diskussion:

Ein suchtmittelverschreibender Arzt steckt in einem großen Dilemma. Ist er zu restriktiv bei der Verordnung von stark wirksamen Opiaten, handelt er unethisch, weil er manchen seiner Patienten eine wirkungsvolle und nebenwirkungsarme Therapie versagt. Ist er zu großzügig mit der Verschreibung, handelt er sich die Kritik mancher Patienten ein, oder er verliert diese an andere Kollegen. „Mein Arzt will mich süchtig machen, mein Arzt gibt mich auf, er hat mir Morphium verschrieben, mein Arzt will mich vergiften" um nur einige Patientenmeinungen anzuführen. Oder er handelt sich eine spezielle Klientel ein. Die Information über einen Arzt, der großzügig mit der Verschreibung von „Suchtgift" ist, spricht sich rasch herum. Im Wartezimmer mehren sich dann die „Patienten", die nur ein Rezept gegen starke Schmerzen wollen, denn vom Verkaufserlös z.B. des Vendal retard auf dem Schwarzmarkt soll man angeblich gut leben können. Eine zu großzügige Verschreibungspraxis, auch wenn sie nur aus Gutgläubigkeit des Arztes erfolgt, hat kassenrechtliche Folgen. Das beginnt bei Rückzahlung der zuviel auf Kassenkosten verordneten Medikamente bis in Höhe von fünfstelligen Schillingbeträgen und endet mit der Vertragskündigung seitens der Kasse. Nach dem seit dem 1.1.1998 geltenden neuen Suchtmittelgesetz (SMG) kann es durchaus zu einer Verurteilung wegen Drogenhandels kommen. Dazu genügt die Verschreibung von mehr als einem Monatsbedarf („Überverschreibung").

Die Bedenken unseres Arztes sind berechtigt. Der erfahrene praktische Arzt hat geahnt, daß etwas nicht stimmt. Der Wunsch der Patientin nach Vendal retard, das Mitbringen aller Befunde und auch des Reisepasses zur ärztlichen Untersuchung ist fast zu perfekt. Es wird von keinem Arzt eine detektivische Tätigkeit gefordert, ein gewisses Mißtrauen ist aber jedenfalls angebracht. Es muß dieses Mißtrauen bei der ärztlichen Konsultation ja nicht offensichtlich werden. Ärzte, die Drogenabhängige betreuen, wissen um die zahlreichen Ausreden und Ausflüchte, die keiner Überprüfung standhalten. Es ist in solchen Fällen angezeigt, die Angaben des Patienten zu überprüfen: z.B. bei der Angabe, mehr Schmerzmittel zu benötigen, „weil eine kranke Tante in Graz gepflegt werden muß" – Adresse und Telefonnummer der Tante geben lassen und einen Anruf über den Gesundheitszustand der Tante ankündigen, bei der Angabe „die Handtasche mit dem Rezept sei gestohlen worden"- sich die Anzeigebestätigung der Polizei zeigen lassen, oder bei der Behauptung „einen längeren Auslandsurlaub zu planen" – die Buchungsbestätigung des Reisebüros zeigen lassen. Oft erweisen sich dann die Angaben der Patienten als ein „Mißverständnis", oder die in Verlust geratene Medikamentenschachtel taucht wieder auf. Stellen sich die Angaben des Betreffenden als glaubhaft heraus, kann mit ärztlicher Begründung und Zuweisung zum Amtsarzt eine höhere Menge als der Monatsbedarf erhalten werden, ohne daß der Verschreiber mit dem Gesetz in Konflikt kommt.

Daß die Bedenken des Arztes in diesem Fall gerechtfertigt waren, ergibt sich aus der fast schon typischen Behauptung von Frau F.C. am nächsten Tag, daß er ihr nur eine Kleinpackung von Vendal verschrieben hätte. Diese Vorhaltung kann durch die Rezeptdurchschrift entkräftet werden, eine nochmalige Verordnung ist aus rechtlichen Gründen nicht möglich. In diesem Fall müßte die Patientin dies in der Apotheke klären oder dem Amtsarzt glaubhaft machen.

Zusammenfassung und Beantwortung der im dem konkreten Fall gestellten Fragen:

Welche Aspekte sind in der Patientinnen-Arzt-Beziehung in dieser Begegnung grob vernachlässigt worden?

Frau F. C. betrachtet den Vertretungsarzt lediglich als einen Rezeptaussteller, der ihre Wünsche nach den benötigten Arzneimitteln zu erfüllen hat. Eine echte ärztliche Konsultation und ein Eingehen auf ihre Schmerzproblematik wird offensichtlich nicht gewünscht. Der Arzt verschreibt zwar das Opiat, aber aus nicht näher bekannten Gründen nicht das für eine adjuvante Therapie sinnvolle Antidepressivum Saroten. Die Krise in der Patientin-Arzt- Beziehung beginnt bereits bei der Nichterfüllung der Forderung nach einem Rezept für Tramal gegen Kopfschmerzen. Die Patientin merkt, daß ihre Wünsche nicht vorbehaltslos erfüllt werden. Der Arzt läßt sich auf keine Diskussion darüber ein, warum Tramal bei Kopfschmerzen nicht indiziert ist.

Die zweite Krise und die Beendigung der Patientin-Arzt-Beziehung durch den Arzt selbst, indem er sie aus der Ordination hinauskomplimentiert, ist der Versuch der Patientin, eine zweite Packung des Opiats zu erhalten. Er hätte ihr die rechtliche Lage anhand seines korrekten Rezeptes (Rezeptdurchschlag!) erklären, und den Weg zum Amtsarzt anbieten können, anstatt der Patientin Vorhaltungen zu machen. Dieses Vorgehen war sicher beabsichtigt, um aus der Sicht des Arztes weitere sinnlose und zeitraubende Konsultationen zu vermeiden.

Wer hat in dieser rechtlich gut abgesicherten Verschreibungsfolge Versäumnisse gesetzt?

Starke Opiate, die wegen chronischer Schmerzzustände regelmäßig einzunehmen sind, sollten als Dauerverschreibung verordnet werden. Das erfordert zwar in regelmäßigen Abständen den Weg zum Amtsarzt, die Probleme des Aufsuchens eines Vertretungsarztes für eine Einzelverschreibung wären damit aber umgangen. Daher ist dieses Versäumnis eigentlich dem Hausarzt der Patientin anzulasten.

Das Saroten, als wirkungsvolle adjuvante antidepressive Therapie bei chronischen Schmerzzuständen, welches vor allem die brennende Schmerzqualität bei neurogenen Schmerzen beeinflußt, hätte er rezeptieren sollen.

Wie sehr führt maximales (staatliches) Recht zu maximalem ethischen Unrecht?

Eine Patientin mit Schmerzen, unabhängig davon ob es sich um einen Tumorschmerz oder um Schmerzen anderer Genese handelt, hat das Recht auf eine adäquate Therapie. Die ethische Verpflichtung des Arztes ist es, dieser Patientin zu helfen und nicht aus Angst vor dem SMG eine wirkungsvolle Behandlung zu unterlassen. Diese Therapie ist im Rahmen der Gesetze durchaus möglich, wenn die Spielregeln – manche mögen es auch als Schikanen bezeichnen – eingehalten werden.

Ein Arzt aber, der sich nur um des ethischen Handelns willens über Gesetze hinwegsetzt, weil er, nur um keinen Patienten eine Therapie vorzuenthalten, mit der Verordnung von Suchtmitteln zu großzügig ist, ist kein guter Arzt. Gesetze sind Gegebenheiten, die zu respektieren sind. Man kann versuchen, Gesetze zu ändern und kann auch über diese diskutieren, aber man kann sie nicht wegdiskutieren.

Ein zu gutgläubiger Arzt nützt seinen Patienten nicht, wenn er wegen Drogenhandels verurteilt wird und ihm die Berufsberechtigung entzogen wird.

Dann kann er leider überhaupt keinem Patienten mehr helfen.

Anschrift des Autors:

Prim. Dr. Wilhelm Streinzer, HNO-Facharzt, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, Krankenhaus St. Elisabeth, Landstraßer Hauptstr. 4a, 1030 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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