Tagungsbericht: Kindesmißbrauch - Kindesmißhandlung

Imago Hominis (1999); 6(3): 238-240
Rupert Klötzl

Dieser Thematik war am 12. Juni 1999 in der Gesellschaft der Ärzte eine Veranstaltung der Reihe Collegium publicum gewidmet. Erschreckend die Zahlen, die der Gynäkologe Prof. Werner Grünberger vom Krankenhaus Rudolfstiftung brachte. 5-8% aller Kinder haben in irgend einer Form mit Mißbrauch zu tun, davon 80% Mädchen. Zwei Drittel der Kinder sind bis zum dritten Lebensjahr betroffen mit einer Häufung bei Adoptiv-, Pflege- und Stiefkindern. „Täter sind vor allem Männer in mittleren Lebensjahren, Menschen mit Kontaktschwierigkeiten, insbesondere gegenüber dem anderen Geschlecht. Innerhalb von Familien ist der Vater-Tochter-Inzest am häufigsten"(Grünberger).

Prof. Karin Gutierrez-Lobos, Leiterin der Psychotherapie in der Strafanstalt Mittersteig, brachte weitere Zahlen. Bei sexuellem Mißbrauch sind 95% der Täter Männer. Die Gesamtzahl der Verurteilungen ist seit 1975 etwa konstant. Die Rückfallsquote ist mit 13,4% (von 23.400 dokumentierten Fällen) nicht sehr hoch. Das Rückfallsrisiko bleibt aber Jahrzehnte bestehen, und es ist umso höher, je jünger der Täter bei der Ersttat war. 40-50% der Täter wurden selbst mißbraucht. Von den Verurteilten gelangen nur ca 3% in den Maßnahmenvollzug und erhalten damit psychotherapeutische Hilfe. 50% werden zu Freiheitsstrafen verurteilt, wo sie während der Haft keinen Anspruch auf Therapie haben.

Sicher ist also, daß in Familie und Schule, von behördlicher wie von therapeutischer Seite alles Menschenmögliche in guter Kooperation getan werden muß, um vorzubeugen und die Kinder zu schützen. Den Betroffenen muß geholfen, und so weit wie möglich muß das Wiederholungsrisiko minimiert werden.

Dazu ist zunächst wichtig, bei begründetem Verdacht richtig zu reagieren. Vermutet man eine Mißbrauchssituation, besteht vor allem die Gefahr, aus Abscheu und Wut zu rasch eingreifen zu wollen, noch bevor man sachkundigen Rat eingeholt und Sicherheit und Überblick gewonnen hat.

Mit Nachdruck wies der Psychotherapeut Bernhard Sommergruber darauf hin: „Wollen wir dem Kind helfen, bedarf es einer für uns ungewohnten Langsamkeit." Er formulierte Grundsätze der Intervention bei Verdacht:

  • Vorerst nicht mit der Mutter oder dem Vater reden. Das könnte den Druck auf das Kind erhöhen.
  • Detaillierte Aufzeichnungen über alle Auffälligkeiten des Kindes körperlicher oder geistig-seelischer Art, über auffällige Aussagen aller Beteiligten.
  • Polizeiliche Anzeige zunächst nur bei akuter Gefährdung. Die Prozeduren der Einvernahme sind zu bedenken, und daß das Kind weiterhin mit dem Täter zusammenleben muß, da Anzeigen in den meisten Fällen zu keiner Verurteilung führen.
  • Mit einer einschlägigen Institution zusammenarbeiten und
  • große Vorsicht, bevor man andere Personen ins Vertrauen zieht.
  • Die ersten Interventionsschritte sind am wichtigsten und müssen stimmen. Die Hilfe muß langfristig angelegt sein und nicht unbedingt von einem persönlich geleistet werden.

Das direkte Ansprechen eines Patienten bei Verdacht muß grundsätzlich sehr gut überlegt sein. Es kann dabei vieles aufbrechen. Hat der Arzt dann nicht die Zeit und fachliche Kompetenz, die Problematik richtig zu bearbeiten, kann das die Situation eher verschlechtern als verbessern.

Prof. Max Friedrich, Neuropsychiater des Kindes- und Jugendalters, erläuterte die psychopathologische Problematik. Diese besteht vor allem darin, daß es im Zusammenhang von Kindesmißbrauch und sexueller Kindesmißhandlung „kein einheitliches Syndrom gibt, das aufgrund einer bestimmten wiederkehrenden Symptomenkonstellation Gewißheit für Ereignisse und Erlebnisse des Kindes erlaubt." Die Symptome sind je nach Alter verschieden und immer unter entwicklungs-, verhaltens-, und tiefenpsychologischen Aspekten zu sehen. Nur die genaue Beobachtung der Veränderung von einem bestimmten Ausgangspunkt hinsichtlich des Verhaltens, des Sprachgebrauchs, symbolischer Versuche, etwas auszudrücken, hilft weiter. Es kann auch das Bewußtsein verändert, eigentümlich somnolent und die Orientierung beeinträchtigt sein. Besondere Schwierigkeiten birgt auch der von den Erwachsenen völlig unterschiedliche kindliche Zeitbegriff. Prof. Friedrich wies auch darauf hin, daß nicht nur körperliche Übergriffe das Kind traumatisieren. Intellektueller Terror durch Abverlangen von Leistungen unter Drohung verursacht seelische Qualen, ebenso emotionaler Mißbrauch und soziale Gewalt durch lieblose Behandlung, fehlende Liebe, Wärme und Herzlichkeit und Androhung der Ausstoßung aus dem gemeinsamen Verband. Nur Fakten, so Friedrich, helfen weiter. Die Interpretation soll man den Sachverständigen überlassen. Täter müssen verfolgt und letztlich gerichtlich überführt werden. Bedenklich sei aber das Ergebnis einer neuen Studie, wonach 50% der Mütter nach einem Verfahren erklärten, sie würden nicht noch einmal eine Anzeige machen. „Da läuft etwas schief."

In der Therapie der Täter geht es laut Prof. Gutierrez-Lobos vor allem um eine Stärkung des sozialen Netzwerkes, die Aufnahme von Beziehungen und auch um die Berücksichtigung des Alkoholmißbrauches. Dieser spielt eine große Rolle, wird aber oft nicht in der Therapie mitbehandelt. Bei der Rückfallsprophylaxe kommt es auf ein rechtzeitiges Erkennen gefährlicher Situationen und auf ein Durchbrechen der Delikt- und Rückfallkette an. Nichtbehandelte werden deutlich häufiger rückfällig. Neuerdings werden auch die neuen Antidepressiva bei Impulskontrollstörungen mit Erfolg eingesetzt. Eine antiandrogene Behandlung oder gar eine Kastration (in Österreich verboten) bringen wissenschaftlich nachgewiesenermaßen nichts. Die Sexualität ist zu komplex und kanalisiert oft nur Störungen in einem anderen Bereich.

Es ist evident, daß alle Beteiligten jede nur mögliche Anstrengung zur Verhinderung von Mißbrauch und Gewalt unternehmen müssen. Im Strafrecht wurden in den letzten Jahren die Altersgrenze für sittliche Gefährdung herabgesetzt, pornografische Darstellungen mit Unmündigen strafbar gemacht, und die Verjährungsfrist für bestimmte Delikte an Kindern und Jugendlichen wird erst mit der Erreichung der Volljährigkeit des Opfers zu laufen beginnen. Neu ist auch das bedingte Zeugnisentschlagungsrecht für mutmaßliche Opfer, die zum Zeitpunkt der Vernehmung das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und daher besonders gefährdet sind. Sie werden durch das Verfahren neuerlich belastet.

Wichtig zu beachten ist auch, daß das neue Ärztegesetz 1998 nicht mehr die sofortige Meldepflicht an die Sicherheitsbehörde bei Verdacht auf Kindesmißbrauch vorsieht. Nunmehr heißt es, daß der Arzt bei entsprechendem Verdacht „ermächtigt ist, hierüber persönlich Betroffenen oder Behörden oder öffentlichen Dienststellen Mitteilung zu machen, wenn das Interesse an dieser Mitteilung das Geheimhaltungsinteresse überwiegt." Der Arzt muß die Meldung, sofern diese „zur Verhinderung einer weiteren erheblichen Gefährdung des Wohls der betroffenen Person erforderlich ist", bei Minderjährigen an den zuständigen Jugendwohlfahrtsträger erstatten. Damit soll nach den erläuternden Bemerkungen des Ministeriums sichergestellt werden, daß die Anzeige im Einzelfall anhand fachlich therapeutischer und weniger anhand juristischer Kriterien gemessen wird.

„Aufklärung über die Umstände, die zur Entstehung von Gewalt führen, Angebot und Ausbau von Behandlungseinrichtungen, Vernetzung und Kooperation aller mit Opfern und Tätern befaßten Behandlungsstellen sind zur effizienten Prävention unerläßlich" (Gutierrez-Lobos)

Bei aller Unsicherheit der Statistik – in diesem Bereich gibt es ja hohe Dunkelziffern – ist doch auch klar zutagegetreten, wie zentral eine nicht nur nach außen, sondern wirklich gute und harmonische Familie ist. Auch die Politik ist also ganz wesentlich aufgerufen, die Familie zu stärken. Hier ist gesellschaftspolitisch derzeit viel zu vermissen. Wenn auch die Zahlen der Mißbrauchsfälle in den letzten Jahrzehnten etwa gleich geblieben sind, so hat doch laut Prof. Friedrich „der ‘Zeitgeist’ an der Form des ‘Prädisponierten’ sicher mitbeigetragen."

Es sind Abgründe der menschlichen Natur, die sich hier auftun. Umso entschlossener müssen alle Lager zusammenhelfen und umso weniger dürfen Ideologien maßgeblich sein.

Anschrift des Autors:

Dr. Rupert Klötzl, Arzt für Allgemeinmedizin
Premreinergasse 26/4, A-1130 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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