Über das sittliche Verbot der Selbsttötung

Imago Hominis (1999); 6(3): 215-229
Ludwig Juza

Zusammenfassung

Im Rahmen der Euthanasiedebatte wird vielfach die Zulässigkeit der Selbsttötung behauptet oder als selbstverständlich akzeptiert. In den folgenden Überlegungen soll gezeigt werden, daß dieser Auffassung unbedachte und unhaltbare theoretische und anthropologische Voraussetzungen zugrundeliegen. Diese bringen eine Sinnentleerung des Selbstbestimmungs- und Autonomiebegriffs mit sich; sie machen auch eine sittliche Beurteilung der Selbsttötung und damit deren Rechtfertigung unmöglich. Es läßt sich auch zeigen, daß aus denselben Gründen eine utilitaristische Kritik am sittlichen Verbot der Selbsttötung ins Leere geht. Eine kurze Darstellung der traditionellen Begründung des sittlichen Selbsttötungsverbotes rundet die Überlegungen ab.

Schlüsselwörter: Selbsttötung, Selbstbestimmung, Autonomie

Abstract

In the Euthanasia debate one very often hears the argument that suicide is permissible or that it is acceptable as taken for granted. The following reflections will show that these assertions rest upon unreflected and unacceptable theoretical and anthropological suppositions. These bring about a loss of meaning in the terms ‘self-determination’ and ‘autonomy’, and they also make the moral judgement of suicide and thus its justification impossible. It will also be shown that for the same reasons a utilitarian critique of the moral prohibition of suicide becomes meaningless. A short statement on the reasoning behind a moral prohibition of suicide completes the reflections.

Keywords: suicide, self-determination, autonomy


1. Die Aktualität des Problems

Die Euthanasiedebatte hat der Frage nach der sittlichen Zulässigkeit der Selbsttötung eine neue Aktualität verschafft. So wird Selbsttötung von manchen als letztes Mittel der Schmerzbekämpfung oder zur Beendigung von schwerem bzw. unheilbarem Leiden für zulässig erachtet.1 Als Begründung für die Zulässigkeit wird vor allem auf „Selbstbestimmung" bzw. „Autonomie"2 verwiesen und deren Ausübung als ein „Recht" dargestellt, das aus der „Würde" des Menschen folge. Gleichzeitig wird die traditionelle Ablehnung der Selbsttötung als unhaltbar und unzureichend kritisiert, weil sie nur religiös oder irrational begründet sei.

Angesichts der allgemeinen Wertschätzung individueller Freiheit, der Sensibilität für Leid und Schmerz wie auch der Hilfsbereitschaft gegenüber Leidenden scheint es daher heute schwer zu sein, eine vernünftige Ablehnung der Zulässigkeit der Selbsttötung zu vertreten und zu verteidigen.

Die folgenden Überlegungen wollen dazu beitragen, diese Schwierigkeiten zu begrenzen. Sie wollen und können zwar das Verbot der Selbsttötung nicht „beweisen", versuchen aber zu zeigen, daß und warum die Argumente und die Kritik der Gegenposition nicht tragfähig sind, und worin die eigentlichen Gründe der sittlichen Unerlaubtheit der Selbsttötung bestehen.

2. Der unkritische Umgang mit den Grundlagen

In Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Zulässigkeit der Selbsttötung redet man zumeist einfach aneinander vorbei: Der Grund liegt hauptsächlich in der mangelhaften Beachtung der unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen beider Auffassungen.

Die scheinbare Selbstverständlichkeit und Plausibilität der Zulässigkeit einer Selbsttötung beruht in erster Linie darauf, daß man sie – schlagworthaft – als Moment der Selbstbestimmung ausgibt, ohne aber zu bedenken und zu begründen, worin denn Selbstbestimmung überhaupt bestehen kann. Es wird ein Urteil über Selbsttötung gefällt, ohne den zugrundeliegenden Maßstab anzugeben. Ja, Urteil und Maßstab werden gleichgesetzt bzw. miteinander verwechselt.

Analysiert man jedoch die theoretischen Grundlagen der Befürwortung und Ablehnung, so wird sich im folgenden zeigen, daß von gegensätzlichen Voraussetzungen und Fragestellungen und von einer unterschiedlichen Bedeutung der Worte ausgegangen wird, daß Begriffe umgedeutet und Einwände sinnwidrig entstellt werden: Die Berücksichtigung der Grundlagen und des jeweils spezifischen Bedeutungshorizonts der Begriffe erweist sich daher als unverzichtbare Voraussetzung zur Vermeidung einer unkritischen und unsachlichen Argumentation.

Befürworter wie Gegner der Zulässigkeit der Selbsttötung berufen sich in ihrer Begründung wesentlich auf die Begriffe „Selbstbestimmung", „Autonomie", „Würde" und „Recht". Die dadurch entstehenden gegensätzlichen Bedeutungsgehalte dieser Begriffe lassen sich auf zwei grundsätzlich verschiedene Theorien in der Ethik zurückführen. Sie illustrieren eine Bruchlinie innerhalb der ethischen Problemstellung, welche meist als Gegensatz zwischen „deontologischen" und „utilitaristischen" Ansätzen benannt wird, wobei Deontologie im Rahmen unbedingter sittlicher Forderungen auch die Ablehnung von Selbsttötung zu begründen vermag, während utilitaristische Theorien unbedingte sittliche Forderungen ablehnen und daher auch Selbsttötung grundsätzlich für zulässig halten.

Deontologische Konzepte der Ethik wissen sich nicht nur auf anthropologische Voraussetzungen bezogen und bedenken sie, sondern bestimmen den begrenzenden Maßstab menschlich guten Handelns im eigentümlichen Selbstsein des Menschen: Dieses Selbstsein stellt einen Anspruch dar, der um seiner selbst willen anerkannt sein möchte und der unabhängig von seiner faktischen Anerkennung es schon ist. Sittlich-gutes Handeln erscheint somit als gebührende Antwort auf diesen voraus- und zugrundeliegenden Anspruch.

Als Kriterium des sittlichen Guten wird traditionell ein Minimalbegriff der Menschenwürde herangezogen. Er bezeichnet das, was den Menschen zum Menschen macht: seine Fähigkeit zum freien Handeln und zur eigenverantwortlichen sittlichen Selbstbestimmung. Dieses unhintergehbare „Residuum des Selbstseins" (Spaemann) begründet, warum der Mensch nicht nur ökonomischen Wert und gesellschaftlichen Nutzen, sondern auch eine Würde hat, die ihm als „Zweck an sich selbst" zukommt.3 Weil der Mensch Würde4 oder einen unbedingten, inneren absoluten Wert5 hat, ist er Selbstzweck; deshalb gebührt ihm als ganzer Person unbedingte Achtung. Seine Würde relativiert alle eigenen wie fremden Zwecke wie auch alle Vorstellungen vom menschlich guten Leben und seiner Verwirklichung. Der normative Gehalt von Menschenwürde bedeutet daher, den Menschen nicht als Mittel zu gebrauchen, sondern als unbedingten Wert oder Selbstzweck zu achten.6

Es handelt sich hier um ein Kriterium, das für alle Handlungen gilt, mögen sie sich auf den Handelnden selbst oder auf andere beziehen. Es macht „in sich schlechte" Handlungen benennbar. Zu diesen in sich schlechten Handlungen zählt auch Selbsttötung. Sie ist eine (a) schlechthin „frustrierte" und widersinnige Tat, da dem Handelnden das Erreichen des erstrebten Handlungszieles wegen der Vernichtung des Handlungssubjektes prinzipiell unmöglich ist.7 Als Mittel gegen Schmerz, Überdruß und Lebensmüdigkeit macht (b) diese Tat den Menschen als ganzen zum Mittel für einen seiner gewählten Zwecke und verstößt darin (c) gegen die seiner aufgabenhaften Selbstzweckhaftigkeit geschuldete unbedingte Selbstachtung. In dieser Tat wird mit der Beseitigung des Subjekts (d) einerseits das vernünftige Ordnen des Handelns als eigentümliche Aufgabe des Menschseins abgelehnt und (e) andererseits gegen die Vernünftigkeit der Ordnung in der Beziehung zwischen Teil und Ganzem in den Handlungen verstoßen, weil die Beziehung der Teilhabe der Einzelhandlung am Ganzen des Lebens und der Repräsentation des Ganzen in der Einzelhandlung mißachtet wird.8 Selbsttötung läßt sich nicht rechtfertigen, denn sie ist nicht widerspruchsfrei zu denken und daher auch nicht sinnvoll zu wollen; sie wird zurecht eine irrationale Tat genannt.9

Utilitaristische Konzepte der Ethik – sie können hier nur kurz skizziert und kritisiert werden – versuchen im Gegensatz dazu, gegenüber anthropologischen Voraussetzungen „neutral" zu bleiben und sich von ihnen freizuhalten. Sie verfügen daher über keinen allgemein-inhaltlichen Maßstab des Sittlich-Guten und messen dem menschlich guten Handeln nur subjektive Gültigkeit zu. Sie kennen bzw. behandeln weder die Frage nach dem Sinn und der Berechtigung von Zwecken noch die Beurteilung von Handlungen als solchen. Sie beschränken sich auf Handlungsfolgen und ihre Auswahl für gewünschte Zwecke; das wird besorgt durch die Erarbeitung von entsprechenden Regeln und wirksamen Methoden für die Abwägung von Folgen oder von betroffenen Gütern, wobei auch der Nutzen und Schaden für andere miteinbezogen wird.

Schon in diesen wenigen Hinweisen zeigt sich, daß utilitaristische Konzepte nicht bloß eine „andere", von der deontologischen abweichende Auffassung vom Sittlich-Guten vertreten, sondern vielmehr diese Theorie trotz derselben Bezeichnung als „Ethik" einen ganz anderen Gegenstand behandelt: Kritiker und Vertreter bezeichnen daher auch zurecht den utilitaristischen Ansatz als eine „Alternative zur Moral".10 In dieser „Alternative" werden weder die anthropologischen Voraussetzungen bedacht, die sie de facto impliziert, noch wird die Rechtfertigung dafür geliefert, daß die bloße Abwägung von Handlungsfolgen oder –gütern etwas mit menschlich gutem Handeln zu tun hat.

Aus diesen prinzipiellen Mängeln der theoretischen Grundlagen ergeben sich natürlich auch für die Frage der Zulässigkeit der Selbsttötung wesentliche Konsequenzen: (a) Mangels eines inhaltlichen Kriteriums des Sittlich-Guten und der Betrachtung von Handlungen als solchen gibt es (b) weder einen inhaltlich benennbaren und verbindlichen Maßstab, noch einen spezifischen Gegenstand für ein sittliches Urteil, sondern bloß unreflektierte und unbegründete Behauptungen. In diesem Konzept können daher (c) Handlungen als solche weder als zulässig noch als unzulässig beurteilt werden bzw. es kann nicht widerspruchsfrei von moralischen Forderungen, Geboten oder Verboten gesprochen werden: die Hilflosigkeit des Utilitarismus bei der Begründung des Tötungsverbots ist bekannt.11 Daher (d) ist ein Urteil über Selbsttötung auf dieser Basis gar nicht möglich. Der Versuch, eine Zulässigkeit doch „moralisch" zu begründen, endet in einem Widerspruch, da diese Theorie in ihren Vorentscheidungen jeder spezifisch moralischen Forderung oder Rechtfertigung den Boden entzogen hat: Denn diese Konzepte anerkennen weder den unbedingten oder kategorischen Charakter als die eigentümliche, konstitutive „Form" des Sittlich-Guten noch dessen unhinterschreitbare Verwiesenheit auf ein Verständnis des Menschen als die dem Sittlich-Guten konstitutive „Materie".12

3. Die vermeintliche Rechtfertigung der Zulässigkeit der Selbsttötung

Eine gewisse vordergründige Plausibilität und Selbstverständlichkeit gewinnt die behauptete Zulässigkeit der Selbsttötung aufgrund der Verwendung von einigen Begriffen des üblichen Sprachgebrauchs. Man spricht von „Selbstbestimmung", „Autonomie", „Würde" und „Recht". Allerdings erfahren diese Begriffe im Rahmen der „alternativen Theorien zur Moral" eine systematische Umdeutung. Im folgenden wird zu zeigen versucht, worin der neue Bedeutungsgehalt von „Selbstbestimmung" und „Autonomie" besteht.

3.1. Rechtfertigende Begriffe?

3.1.1. „Selbstbestimmung"? – Verkürzung auf Verfügung

Selbstbestimmung ist heute ein geläufiger Begriff: Wir erfahren uns als freie Gestalter des eigenen Lebens, wissen selber am besten, was zu unserem Wohlergehen gut ist, und sehen einen gewissen Eigenwert darin, diese Einsichten auch selber umzusetzen. Allgemein steht das Moment der Ungehindertheit und Eigenständigkeit im Handlungsvollzug in Abgrenzung zu fremdem Einfluß im Vordergrund.

Diese allgemein verbreitete Wertschätzung von Selbstbestimmung beruht aber auf einer Grundlage, die zumeist nicht bedacht wird. Sie setzt eine – besonders von Kant geprägte13 – philosophische Ethik voraus, die ein Selbstverständnis des Menschen einschließt, demzufolge der Mensch dadurch ausgezeichnet ist, Urheber von Vollzügen zu sein und in ihnen das als gut Erkannte vollbringen zu können.14 Auf dieser Grundlage mutet unsere Tradition dem mündigen Menschen als Aufgabe zu, das Gute nach eigenem Dafürhalten zu wählen und zu verwirklichen. Dazu eröffnet sie ihm den erforderlichen Raum und sichert ihn durch entsprechende gesetzliche Rechte.

Recht und Grenze von Selbstbestimmung bleiben als selbstverständlich vorausgesetzt. Das „Recht" auf Selbstbestimmung wird oft in seiner Eigenart als „moralisches Recht" nicht bedacht: d.h. als ein spezifischer Anspruch, dessen Begründung darin besteht, der vorfindlichen Wirklichkeit des Menschen und seines eigentümlichen Tätigseins zu genügen, und welcher nicht weiter begründbare Grundüberzeugungen über den Menschen beinhaltet. Als „Grenzen" der Selbstbestimmung werden zumeist übersehen: einerseits die inhaltliche Grenze des als gut Erkannten (Selbstbestimmung hat sich an der Wirklichkeit des Menschen und an Moral zu orientieren) und andererseits die formale Grenze (der Respekt vor der Selbstbestimmung anderer Menschen sowie jene Rechte, die sie garantieren15).

Für die Befürworter der Zulässigkeit der Selbsttötung ist Selbstbestimmung zwar der zentrale Begriff16, er wird aber unkritisch verkürzt und unreflektiert verwendet.17 Man versteht Selbstbestimmung nicht mehr als ein inhaltliches Bestimmen des Selbst zum guten Mensch-Sein, sondern nur mehr als ein bloß äußerliches Verfahren, das auf ein unabhängiges Bestimmen über das Selbst abzielt, d.h. über alles, was mich betrifft. Selbstbestimmung wird reduziert auf ein formal-äußerliches Moment des Handlungsvollzuges, auf einen Verfahrensaspekt, der dem Handeln und seinem Inhalt äußerlich bleibt: d.h. ungehindert und unabhängig, das jeweils Gewünschte tun zu können. Dieser verkürzte Selbstbestimmungsbegriff anerkennt weder – die oben genannten – Grenzen, noch kann er den moralischen Charakter seines Anspruchs oder seinen anthropologischen Sinn berücksichtigen. Diesem Verständnis liegt nicht ein sittlich-unbedingter Anspruch, sondern ein unbedingter Freiheitsanspruch zugrunde, der umfassende und unbegrenzte Unabhängigkeit und Ungehindertheit im Vollzug verlangt.

Auf dieser Basis ist es durchaus konsequent, „Selbstbestimmung" auch über den eigenen Tod ausüben zu wollen, d.h. über das Wie und Wann des Todes zu verfügen: Das Schicksalhafte wird begrenzt und der Tod als Verfügungsgegenstand unter anderen eingeordnet, d.h. banalisiert. Die Bedingungen des Menschen als leibliches und endliches Wesen stellen damit selbst eine Beschränkung der Freiheit dar, die man aufzuheben versucht. Fremdbestimmung besteht hier in der Einschränkung des faktischen Verfügens, sei es durch gesetzliche Bestimmungen oder durch Handlungen anderer – nicht aber in einer Verfehlung des menschlich Guten im Handeln.

Die Hauptkritik an dieser Auffassung von Selbstbestimmung weist darauf hin, daß hier ein inhaltsleerer und somit zielloser Prozeß vorliegt, der darüber hinaus nur blind verfolgt werden kann: Denn der Sinn und der Anspruch des Prozesses sind dem Subjekt vernünftig nicht zugänglich. Es handelt sich also um einen Prozeß, bei dem das Subjekt sich im Handeln nicht kennt und wiedererkennt, so daß der Handelnde seine fundamentale Selbstentfremdung fördert. Nicht nur die Struktur und Aufgabe personaler Selbstbestimmung werden verkannt, sondern auch die sittliche Dimension menschlichen Handelns: Der Mensch selbst wird in seinem eigentümlichen Tätigsein und in seiner Freiheit nicht wahrgenommen.

Ein solches verkürztes Verständnis von Selbstbestimmung verkennt auch die Besonderheit menschlichen Schmerzes18: Er besteht nicht bloß im Faktum eines „unerwünschten Zustands", sondern in einer personalen Zuständlichkeit. Zum Schmerz gehört wesentlich „jemand", der sich als Leidender erfährt, der sich zu seinem Leiden verhält und dem aufgegeben ist, in rechter Weise dazu Stellung zu nehmen. Ohne Bedachtnahme auf den Unterschied zwischen dem Gegenstand der Erfahrung und einem erfahrenden und stellungnehmenden Subjekt wird das spezifisch Menschliche am Schmerz verfehlt, seine Beurteilung verunmöglicht und das Beurteilungskriterium verschleiert. Denn etwas als „unerwünscht" zu qualifizieren, setzt zunächst voraus, daß eben dieses Etwas als es selbst einem Subjekt vorliegt und ihm auch bekannt ist, und zwar vor und unabhängig von seinen Wünschen, um erst dann unter dem Kriterium des Wünschenswerten qualifiziert zu werden.

Diesen Kurzschluß begeht, wer Zulässigkeit der Selbsttötung durch den Hinweis auf „sinnloses Leiden bzw. auf „sinnlosen Schmerz" zu begründen versucht: Leiden und Schmerz „sind" weder sinnvoll noch sinnlos, sondern bloß das Handeln in bezug auf diese Gegebenheiten: Der Grund für die Zuschreibung von Sinn liegt nicht in sachhaften Gegebenheiten, sondern im handelnden Subjekt. Denn ein Handeln erweist sich als sinn-haft, insofern es teilhat an dem und durch das im Handeln erstrebte menschlich gute Leben. Wo aber das Handeln – nach diesem Verständnis von Selbstbestimmung – ein inhalts- und daher sinn-leerer Prozeß ist, ist eine Sinnzuschreibung – auch als „sinn-los" – ein Unding.

3.1.2. „Autonomie"? – Verkürzung auf Unabhängigkeit im Handeln

Auch der Begriff der Autonomie ist uns vertraut und wird im politischen wie rechtlichen Zusammenhang verwendet. Allerdings wird oft seine politische oder rechtliche Bedeutung unbedacht auf die Ethik übertragen. Zwar wurde der Begriff mit Kant für das Selbstverständnis des Menschen relevant und für philosophische Ethik zentral19, aber dies geschah nicht durch eine Vermischung verschiedener Bereiche.

Autonomie wird von Kant als „Selbstgesetzgebung der Vernunft" bezeichnet: Aber diese besteht eben nicht hauptsächlich oder ausschließlich in einer „äußeren" Autonomie des Menschen im Handeln. Freiheit wäre somit auf bloße Wahlfreiheit beschränkt und bestünde nur in einer Unabhängigkeit bei der Entscheidung über Handlungsfolgen und -güter und bei ihrer ungehinderten Verwirklichung. Kants Autonomieverständnis setzt an der Grundfreiheit des Menschen und seiner Möglichkeit an, etwas als Gutes zu bestimmen und zum Motiv des Willens zu machen. Es geht wesentlich um jene „innere" Autonomie des Menschen, die, positiv gefaßt, in der Fähigkeit besteht, das Wollen an das Sittengesetz bzw. das Sittlich-Gute zu binden; negativ bestimmt besteht sie in der Fähigkeit, die Vernunft von den ihr „fremden" Motiven (des Nutzens, des Vorteils, der Neigung, des Wohlbefindens usw.) unabhängig zu halten.

„Autonomie durch Vernunft"20 bedeutet nach Kant daher, kurz gesagt, die Fähigkeit und Aufgabe, eigenständig, durch eigene und dank eigener Vernunft das Sittengesetz zum Motiv des Handelns zu machen, damit dieses ein menschlich gutes Handeln genannt werden kann. Autonomie stellt somit ein Prinzip für die Sittlichkeit von Handlungen dar und sichert auf diese Weise das eigentümlich menschliche Handeln.

Auf dieser Basis kann auch der Unterschied zwischen Selbstbestimmung und Autonomie geklärt werden: Selbstbestimmung als Bestimmen des menschlichen Handelns unter der Rücksicht des Sittlich-Guten beschreibt das menschliche Tätigsein und seinen vollen Sinn. Autonomie dagegen benennt die notwendige Bedingung sittlicher Selbstbestimmung, und zwar sowohl für die Bestimmung des Sittlich-Guten wie auch für das Praktischwerden des Sittlich-Guten für das Handeln.

Moralische Selbstgesetzgebung bedeutet also nicht, das sittliche Gute als Gegenstand des Verfügens nach Gutdünken alleine oder durch Konsens mit anderen festzusetzen und damit dessen Geltung und Inhalt vom Willen und von der Zustimmung der Betroffenen abhängig zu machen: genau das würde nämlich die Besonderheit des Sittlichen als einer Verbindlichkeit, die schon vor allem Wünschen und Wollen ist und Anerkennung verlangt, aufheben.

Die Befürworter der Zulässigkeit der Selbsttötung folgen allerdings einer solchen Auffassung von Autonomie, die eine dem Wünschen und Wollen vorgegebene Verbindlichkeit bestreitet; sie beschränkt sich auf äußere Autonomie im Handeln und besteht in der Unabhängigkeit bei der Verwirklichung dieses Handelns. Dieses Verständnis hat, wie Leist richtig bemerkt, nur mehr vordergündig etwas mit Kant zu tun;21 vor allem aber ist es in sich widersprüchlich, weil diese „Gesetzgebung" einerseits verpflichten will, andererseits aber doch dem eigenen Willen entspringt.22

Ein Autonomiebegriff, der sich auf äußere Unabhängigkeit beschränkt und zugleich als „moralische" Forderung erhoben wird, leidet unter denselben Schwierigkeiten wie der oben beschriebene formal-äußerliche Selbstbestimmungsbegriff: Er vermag (a) weder seinen anthropologischen Sinn und die Begründung seines Anspruchs zu bedenken und darzustellen noch (b) die in der Forderung selbst liegenden Grenzen (Moral und Rechte) zu vernehmen und anzuerkennen. So übersieht er seine relative Dimension nicht nur in der Wirklichkeit des Menschen als seiner Bedingung, sondern auch in seiner Gebundenheit an Vernunft und das ihr innewohnende Sittengesetz. Fälschlicherweise gibt er sich als (möglichst) absolut: Alle Handlungsfolgen bzw. -güter zeigen sich nur als Mittel, sind verfügbar und also gleich-gültig. Er hält sich unabhängig von Vernunft und inhaltlich bestimmbarer Sittlichkeit23 und beansprucht, selbst nach subjektivem Dafürhalten über die Kriterien der Beurteilung von Handlungen zu verfügen (sei es nach nüchternem Kosten-Nutzen-Kalkül oder sei es in der subjektiven Bestimmung des „ethischen" Kriteriums im Rahmen einer Abwägung von Gütern und der Klärung ihrer Verhältnismäßigkeit). Doch damit wird nicht geleistet, was man vorgibt: Die Rechtfertigung der Verfügung über diese Kriterien bleibt offen. Auch der Versuch, sie durch Konsens zu ersetzen, führt ins Dilemma: Denn verbindliche Maßstäbe und Kriterien müssen schon für den und im Prozeß der Verständigung gelten und ihn leiten. D.h. ehe der faktische Konsens stattfindet, gilt schon, was gerade durch ihn erst begründet werden sollte.24

Autonomie als bloße äußere Unabhängigkeit verstanden, erlaubt kein Urteil über die sittliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Handlung. Daher ist auch eine Begründung der Zulässigkeit der Selbsttötung auf dieser Basis nicht möglich.25

Mangels eines inhaltlichen Kriteriums des menschlich guten Handelns ist dieses Konzept auch nicht imstande, ein gemeinsames Leben zu ordnen. Weil es noch dazu an bloß subjektiver Geltung und privater „Moral" festhält, unterläuft der Versuch, eine gesetzliche Umsetzung zu erreichen, seinen eigenen Anspruch: Denn eine gesetzliche Festlegung würde die Fremdbestimmung jener mit sich bringen, die diese Auffassung nicht teilen und am unbedingten Wert menschlichen Lebens festhalten.26

3.2. Rechtfertigende Einwände?

Befürworter von Euthanasie versuchen, ihre Forderung damit zu stützen, daß die Verbote der Beihilfe zur Selbsttötung sowie der verlangten direkten Herbeiführung des Todes durch andere eigentlich auf einer unbegründeten und unzulässigen Ablehnung der Selbsttötung beruhen. Dafür werden normalerweise drei Argumente angeführt27: die Ablehnung der Selbsttötung ruhe eigentlich nur auf (a) religiösen Gründen, werde durch die 2000-jährige (b) christliche Tradition getragen und stehe im Gegensatz zur (c) ganzen klassischen Philosophie und ihrem hohen Respekt vor Selbsttötung.

3.2.1. Religiöse Begründung? – Die Verwechslung von Begründung und Auslegung

Die Kritik lautet, daß sich die Ablehnung von Selbsttötung nur auf Gründe stützt, die religiöse Voraussetzungen haben, wie sich in der Rede von der „Heiligkeit des Lebens" und der „Souveränität Gottes" über das Leben zeige. Richtig ist daran wohl, daß christliche Sittenlehre eine unbedingte Achtung des Lebensrechtes fordert, von der „Heiligkeit des Lebens" spricht und die „Souveränität über das Leben" Gott vorbehält. Verfehlt ist allerdings die Kritik, weil sie die „doppelte" Begründung dieser Lehre übersieht.

Die Forderung der unbedingten Achtung des Lebensrechtes jedes Menschen gehört zwar seit jeher zum kirchlichen Lehrgut und wird für den Gläubigen durch die Annahme der Offenbarung verbindlich. Es handelt sich dabei aber auch um eine Forderung der Sittlichkeit, die in der Vernunft als Quelle gründet und von dorther ihren allgemeinen Anspruch nimmt. Weil das so ist, ermöglichen allgemein-verbindliche sittliche Forderungen einen spezifischen Ansatz für natürlich-vernünftige Religion und eröffnen einen Gottesbezug, wenn sie als Äußerung eines göttlichen Gesetzgebers gesehen werden; christliche Religion bezieht sich ausdrücklich darauf, indem sie darin denselben offenbarenden Gott – allerdings in seinem Wirken als Schöpfer – versteht. Die „Gebote Gottes" sprechen das dem Menschen innewohnende Sittengesetz bloß aus und verweisen auf Gott als Urheber und Ausleger des Gesetzes; die sittlichen Forderungen werden in ihrer Eigenständigkeit anerkannt und zusätzlich als Inhalt der Offenbarung durch den Glauben begründet.28  Daraus folgt, daß die sittliche Forderung nicht deshalb gilt, weil sie in den „Geboten" ausgesprochen wird. Sie wird vielmehr in den Geboten ausgesprochen, weil es sich um eine allgemein-verbindliche und unbedingte sittliche Forderung handelt.29

Das „Souveränitätsargument" begründet natürlich keine sittliche Forderung, sondern erläutert und interpretiert sie30; insofern ist der kritische Hinweis richtig. Falsch sind aber die Schlüsse, die zumeist daraus gezogen werden. Aus der erläuternden Funktion des Souveränitätsarguments folgt nämlich keineswegs (1) auf der Ebene natürlicher Vernunft die Aufhebung von allgemein verbindlichen sittlichen Forderungen. Es zeigt sich bloß, daß das Souveränitätsargument die Geltung der interpretierten Forderungen voraussetzt. Der Fehlschluß entsteht, wenn zuvor (wie schon bei Hume) die Eigenständigkeit des Sittlichen – und damit auch sein natürlicher Gottesbezug – ausgeklammert wurde.

Es folgt auch nicht (2) auf der Ebene des Offenbarungsglaubens, daß damit allgemein- verbindliche sittliche Forderungen im Rahmen des Glaubens nicht mehr erhoben werden können. Denn die christliche Version des Souveränitäts-Arguments anerkennt, daß sittliche Forderungen im Menschsein selbst gründen und allgemeine Geltung haben. Deshalb kann sie dann diese Forderungen als Forderungen des göttlichen Schöpfers an alle Menschen verstehen und sie mit der Offenbarung durch ihn selbst bestätigt sehen. Der Fehlschluß passiert nur, wenn ohnehin – wie bei „autonomer" theologischer Ethik – die Eigenständigkeit und Verbindlichkeit von Sittlichkeit schon ausgeklammert und daher die Morallehre auf subjektive Geltung reduziert ist (was unbeabsichtigt allerdings die Preisgabe der Vernünftigkeit und Vernunftgemäßheit christlicher Religion und Moral mit sich bringt). Wenn daher Selbsttötung mit Augustinus als Ablehnung des Schöpfergottes interpretiert wird, dann gründet das darauf, daß diese Tat eine Absage an vernünftige – durch den Glauben vertiefte – Sittlichkeit darstellt, welche im Horizont des Gesetzgebers des Sittengesetzes sinnvollerweise nur als faktische, mittelbare Absage an ihn selbst verstanden werden kann.

3.2.2. Die christliche Tradition als Hindernis? – Eine Verwechslung von Genese und Geltung

Ein anderes Argument verweist darauf, daß die Ablehnung der Selbsttötung auf der 2000-jährigen christlichen Tradition beruhe und ihre Überwindung ein Bruch mit dieser Tradition darstellen würde – eine solche Veränderung stoße naturgemäß auf Widerstand.

Dieser Hinweis übergeht den wesentlichen Unterschied zwischen „Entstehungsgeschichte" (Genese) und „Begründung". Das auf dem Gedanken der Menschenwürde ruhende sittliche Selbsttötungsverbot „verdankt zwar dem Christentum entscheidende Impulse, aber diese historische Beeinflussung begründet keine dauernde Abhängigkeit".31 Der sachliche Gehalt der Menschenwürde und die in ihr gründende Sittlichkeit findet daher im Christentum eine „sachliche Entsprechung", nicht aber eine „exklusive Begründung".32

Das bedeutet, daß auch der Widerstand gegen eine Überwindung der Ablehnung der Selbsttötung verschiedene Quellen hat und wesentlich mehr ist als ein bloßer Bruch mit christlicher Tradition und Religion. Gemäß der hier vorgetragenen Überlegungen handelt es sich bei der Gutheißung der Zulässigkeit der Selbsttötung um eine Absage an natürliche Sittlichkeit überhaupt. Das bedeutet, daß der genannte Bruch dann eigentlich einen Bruch mit jeder vernunftgemäßen Religion darstellt, insofern für sie Sittlichkeit grundlegend ist; die Absage an natürliche Sittlichkeit ist auch eine Absage an die Grundlage aller Grund- oder Menschenrechte und aller auf sie gründenden Verbote (sei es das Tötungsverbot im allgemeinen, sei es Folter, Sklaverei, Betrug, das Einhalten vertraglicher Verpflichtungen usw.).

3.2.3. Befürwortet durch die ganze klassische Philosophie? – Unzutreffend, unkritisch und anachronistisch

Ein drittes Argument verweist darauf, daß eine Ablehnung von Selbsttötung im Gegensatz zur ganzen klassischen Philosophie stehe. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Philosophie bzw. in einschlägige Darstellungen33 entlarvt allerdings diese Aussage als unzutreffend und einseitig.

Sie ist darüber hinaus unkritisch, insofern der Hinweis z.B. auf Stoa oder Hume die jeweiligen anthropologischen Voraussetzungen und Konsequenzen übergeht und verschweigt; die oben vorgetragene Kritik gegenüber „alternativen Theorien zur Moral" trifft auch hier zu.

In der Berufung auf die Antike, vor allem auf die Stoa, findet sich auch ein unübersehbar anachronistischer Zug: Denn damit wird versucht, auf der Basis unseres heutigen demokratischen Rechtsstaats und dank seines Pluralismus eine gewisse Wertschätzung der Selbsttötung in der Vor-Moderne für die Gestaltung unseres modernen Gemeinwesens zum Maßstab zu machen. D.h. es wird also ein Konzept des Zusammenlebens befürwortet, das gerade nicht von den „Errungenschaften der Moderne" ausgeht (dem Bewußtsein der Einmaligkeit der Person, der Anerkennung ihrer Würde, das sich in unveräußerlichen Grund- und Menschenrechten und ihrem allgemeingültigen inhaltlichen Kriterium der Sittlichkeit entfaltet). Der diesbezüglich undifferenzierte Rückgriff auf die antike Wertschätzung von Selbsttötung bedeutet daher eigentlich eine Ablehnung der Grundlagen des modernen Staates (und darin auch eine implizite Ablehnung von Sittlichkeit). Es scheint sich hierin ein Moment der „Dialektik der Aufklärung" zu zeigen, das seine eigenen Wurzeln nicht kennt und unbedacht die Selbstaufhebung der Moderne betreibt.

4. Die Argumente für das sittliche Verbot der Selbsttötung

Ebensowenig wie die versuchte Begründung der Zulässigkeit der Selbsttötung sind die Einwände gegen das Verbot der Selbsttötung tragfähig. Sie blenden jene Dimensionen methodisch aus, auf die sich das sittliche Verbot gründet (vgl. Kap. 2). Daher bleibt der Gehalt der traditionellen Argumente ungemindert gültig. Sie sollen hier kurz angeführt und angesichts der geäußerten Kritik verdeutlicht werden.

Allgemein wird Mord für verwerflicher als Selbsttötung gehalten; das hat natürlich damit zu tun, daß Mord strafrechtlich verfolgt wird, Selbsttötung aber nicht. Das legt den Gedanken nahe, daß für die Gesellschaft nur jenes Unrecht bedeutsam ist, das die äußerliche Beziehung zwischen verschiedenen Menschen betrifft. Daraus scheint zu folgen, daß Selbsttötung zwar eine äußere Tat darstellt, aber auf den einzelnen beschränkt und somit für die Gesellschaft bedeutungslos ist.

Wenn man die traditionellen Argumente bedenkt, wird man dagegen zur Auffassung kommen, daß in sittlicher Dimension die prämeditierte und arrangierte Selbsttötung – ebenso wie die Bereitschaft dazu – schwerer als Mord wiegt und für die Gesellschaft bedeutsamer ist. Das ist kein Ruf nach dem Strafrecht – er wäre nicht ratsam, weil kontraproduktiv – , sondern nur ein Hinweis auf die notwendige Unterscheidung zwischen der Kriminalisierung einer äußeren Tat und ihrer sittlichen Bedeutsamkeit für das Gemeinwesen.

In beiden Fällen ist das Faktum des Todes eines Menschen das unwiderrufliche Ergebnis der Tat; aber die Ebene des Faktischen ist hier nicht ausschlaggebend. Bei Mord handelt es sich um die Übertretung eines Verbots, das selbst aber nicht abgelehnt wird; jedenfalls ist die Tat vom Gemeinwesen verfolgbar und in beschränkter Weise für eine Wiedergutmachung durch den Täter nach außen wie nach innen (Einsicht, Reue, Abkehr) offen. Dagegen entzieht sich die prämeditierte Selbsttötung nicht nur definitiv einer möglichen Wiedergutmachung, sondern beinhaltet auch die faktische Ablehnung einer sittlichen Beurteilung dieser Handlung bzw. hebt im Falle einer subjektiv-willkürlichen Bestimmung des Sittlichen sogar dessen Eigenart auf. Jedenfalls wird so durch die Tat Sittlichkeit selbst und damit das Prinzip der Menschenwürde als Grundlage einer Rechtsordnung, von Gerechtigkeit und Frieden abgelehnt; es wird durch den unbedingten Anspruch individueller Freiheitsausübung ersetzt und die Person als Ganze zum Mittel für einen Einzelzweck gemacht. Dadurch betrifft und beschädigt Selbsttötung den Maßstab aller Beziehungen und die Grundlage der Gesellschaft, weshalb man sie keineswegs als belanglos betrachten kann.

Diese sittliche Bedeutsamkeit der prämeditierten Selbsttötung sollte sich daher in ihrer sozialen Bewertung niederschlagen und auch die Grundlage für die Beurteilung des Verlangens nach Tötung und für die Beihilfe zur Selbsttötung abgeben.

4.1. Die positive Bewertung der Selbsttötung – unvereinbar mit der Unbedingtheit sittlicher Forderungen

Die sittliche Bedeutsamkeit der Selbsttötung hatte offensichtlich Wittgenstein im Blick, als er schrieb: „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt. Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist es der Selbstmord. Das wirft ein Licht auf das Wesen der Ethik. Denn der Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde." (Tagebuch 10.1.1917). Damit ist nicht die rechtliche Zulässigkeit gemeint, auch nicht bloß die Möglichkeit, sich einer Strafe zu entziehen, sondern: Der Selbstmörder entzieht sich jeder weiteren moralischen Forderung, so daß ihm jedenfalls nichts weiter verboten ist. Die Bereitschaft zur Selbsttötung entspringt äußerster Verantwortungslosigkeit (R. Schneider).

Das Argument bedeutet genauer: Wenn Selbsttötung erlaubt ist (also nicht „wenn man sich umbringt, dann"), dann ist es mir erlaubt, mich jeder moralischen Forderung und jeder Verantwortlichkeit zu entziehen. Diese Forderungen verlieren faktisch ihren unverfügbaren und absoluten – d.h. von meiner Zustimmung unabhängigen – Charakter. „Diese Unabhängigkeit oder Absolutheit ist der Moral aber wesentlich. Daher läßt sie für die Erlaubtheit der Selbsttötung keinen Platz".34

Das Argument baut auf der Unbedingtheit des moralischen Anspruchs auf. „Denn zur Verfassung des Menschen gehört es, grundsätzlich jederzeit und ungefragt unter Forderungen zu stehen, die in keiner Weise dem Belieben unterworfen sind: Wäre Selbsttötung erlaubt, dann wäre dies nicht der Fall. Denn dann wäre auch erlaubt, sich jederzeit einer gerade relevanten Forderung nicht zu unterwerfen: Und das kann jede sein. Daher – gleich welcher Grund sich zu töten – wer hierzu bereit ist, verleugnet die Unbedingtheit moralischer Forderungen."35

4.2. Die positive Bewertung der Selbsttötung – unvereinbar mit Selbstzweckhaftigkeit als dem eigentümlich Menschlichen

Bekanntlich hat Kant in unübertroffener Deutlichkeit und Gründlichkeit daran erinnert, daß die moralische Ordnung eine von sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen verschiedene und eigentümliche Wirklichkeit ist, welche durch die Tätigkeit der Vernunft als Sollens-Urteile oder Forderungen konstituiert und nur von ihr erfaßt werden kann. Die Fähigkeit zum freien Handeln und die Aufgegebenheit eigenverantwortlicher und sittlicher Selbstbestimmung benennen das eigentümlich Menschliche und sind im Gedanken des Selbstzwecks zusammengefaßt. Diese Wirklichkeit begründet die Besonderheit des Menschen gegenüber allem anderen, seine Würde oder seinen unbedingten Wert.

Bei Kant findet sich die philosophisch relevanteste und damit provozierendste uneingeschränkte Abweisung der Selbsttötung36, weil sie nicht nur als Tat zu sittlicher Selbstbestimmung im Widerspruch steht und nicht rechtfertigbar ist, sondern auch weil sie sich gegen die Aufgegebenheit sittlicher Selbstbestimmung selbst richtet: Der Akt der Selbsttötung negiert nicht bloß die Unbedingtheit von Forderungen und darin Verantwortlichkeit als solche, sondern „vertilgt" Sittlichkeit als Zweck an sich selbst37 und damit die eigentümliche Aufgegebenheit menschlichen Handelns.38

Im Anschluß an Thomas kann man daher Selbsttötung auch eine naturwidrige Tat nennen, wird bei ihr doch das naturhafte Streben des Lebendigen nach Selbsterhaltung39 gerade nicht durch praktische Vernunft sittlich eingeordnet – wie es der menschlichen Natur gemäß wäre; vielmehr wird gegen diese Einordnung verstoßen, und zwar durch den Gebrauch bloß instrumenteller Vernunft.40

4.3. Die positive Bewertung der Selbsttötung – unvereinbar mit der Gleichheit in der Achtung der Menschenwürde

Die Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit hat als Prinzip das Handeln – gegen sich selbst wie gegen jeden anderen – zu leiten. Diesen Respekt gegenüber dem Selbstsein des Menschen nennt man Achtung bzw. Selbstachtung sowie Liebe und Selbstliebe. Es geht darum, im Handeln den Menschen um seiner selbst willen – also unter Beachtung seines Selbstseins – zu wollen. Das gilt für mich und für den anderen. Wer sich selbst nicht achtet/liebt, achtet/liebt auch die anderen nicht. Damit sind Mord wie Selbstmord gleichermaßen ausgeschlossen: „Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen."41

Auf die Gleichheit der Forderung hat erstmals Augustinus im Bemühen um die Klärung des Sinns menschlicher Freiheit und des rechten Wollens und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Strömungen besonders der Praxis der Selbsttötung und ihres zugrundeliegenden stoischen Ideals hingewiesen.42

4.4. Die positive Bewertung der Selbsttötung – unvereinbar mit dem rechten Gemeinschaftsbezug des Menschen

Ein letztes klassisches Argument findet sich bei Thomas von Aquin: Selbsttötung stellt auch ein Unrecht an der Gemeinschaft dar, weil jeder ihr als Teil angehört. Damit ist nicht das bloß faktische Vorhandensein von Beziehungen zu anderen und zu einem konkreten Gemeinwesen gemeint oder das Vorhandensein konkreter Verpflichtungen anderen gegenüber; damit ist auch nicht gemeint – wie Hume irrtümlich interpretiert43 -, daß eine soziale Verpflichtung zum Leben bestehe.

Es geht hier vielmehr um die Beachtung der grundlegenden gemeinschaftlichen Dimension des menschlichen Daseins in der Verwirklichung menschlich guten Handelns: Die Bezogenheit auf andere bzw. das Gemeinwesen ist dem Handeln wesentlich. Die diesbezüglich rechte Entsprechung entfaltet sich als Tugend der Gerechtigkeit.

Die Aufgegebenheit des menschlich guten Lebens ist nicht nur allen gemeinsam; sie verbindet die Menschen auch insofern miteinander, als die Verwirklichung des menschlich guten Lebens die rechte Gestaltung der Beziehung der einzelnen zueinander sowie der einzelnen zum Ganzen unverzichtbar fordert. Denn die sittliche Dimension dient nicht nur der Verwirklichung des einzelnen Menschen als Menschen, sondern auch – wegen seines Gemeinschaftsbezuges – der Verwirklichung eines menschlich rechten Zusammenlebens. In seinem sittlichen Handeln ist der Mensch als Mensch grundsätzlich immer schon auf das Gemeinwohl und seine Verwirklichung aufgabenhaft bezogen: Es vollendet und erfüllt sich seine Selbstverwirklichung als Mensch nicht unabhängig vom Gemeinschaftsbezug, sondern erst in ihm und durch ihn.

Selbsttötung verstößt daher gegen den der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen impliziten Gemeinschaftsbezug. Sie negiert nicht bloß die mit dem Menschsein gegebene Bezogenheit auf andere, sondern vor allem die spezifische Verantwortung, als Aspekt der Selbstverwirklichung für die Förderung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl zu sorgen.

Die Negation des rechten Gemeinschaftsbezuges wird bei Liebe und Freundschaft an der impliziten Änderung des Willens in besonderer Weise sichtbar: Selbsttötung beendet mit der Vernichtung des Subjekts nicht bloß faktisch die Verwirklichung von Liebe und Freundschaft, sondern hebt sie auf und weist sie zurück, indem nämlich mit der Tat die besondere Weise des Wollens, in der Liebe und Freundschaft bestehen, verlassen wird. Solange der andere um seiner selbst willen behandelt wird, geschieht darin Gutheißung, Daseinsbejahung, wie sie die Beziehung der Liebe und – sofern sie wechselseitig ist – der Freundschaft44 auszeichnet und ein Einssein bedeutet: Wer daher Hand an sich legt, „tötet" auch den Freund. Denn er negiert die Gutheißung des anderen, indem er sein sittliches Wollen aufkündigt (er hört auf, den anderen um seiner selbst willen zu wollen), und beendet damit die Freundschaft.45

Die angestellten Überlegungen zeigen, daß eine sittliche Zulässigkeit von Selbsttötung (a) in „alternativen Theorien zur Moral" weder begründet noch aus dem spezifisch eigenen Verständnis von Selbstbestimmung und Autonomie nachgewiesen werden kann. Wenn aus dieser Position dennoch die Zulässigkeit der Selbsttötung behauptet wird und diese als plausibel erscheint, liegt das am unkritischen Umgang (b) sowohl mit den eigenen Voraussetzungen als auch mit dem Sinn der eigenen Begriffe. Wird (c) trotz dieser Defizite eine sittliche Zulässigkeit weiter vertreten, verbleibt ein Widerspruch, der einer Verweigerung des Denkens gleichkommt.

Die der positiven Bewertung der Selbsttötung zugrundeliegende Theorie widerspricht nicht nur der ursprünglichen menschlichen Erfahrung, sondern klammert das sittliche Gute methodisch aus. Was bleibt, ist eine Strategie instrumenteller Rationalität, die sich eine unbegrenzte Abwägungs- und Entscheidungskompetenz anmaßt. Diese Universalisierung der technischen Absicht führt nur dazu, daß der Mensch sich selbst fremd und unverständlich wird. Und das können wir sinnvoll nicht wollen.

Referenzen

  1. vgl. Hoerster N., Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt, 1998: 53ff.; Dworkin R., Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek, 1994: 249ff.; Birnbacher D., Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe, in: Illhardt F. J./ Heiss H. W. / Dornberg M. (Hrsg.), Sterbehilfe – Handeln oder Unterlassen?, Stuttgart, New York, 1998: 125-135; Birnbacher D., Ethische Aspekte der aktiven und passiven Sterbehilfe, in: Hepp H. (Hrsg), Hilfe zum Sterben? Hilfe beim Sterben!, Düsseldorf, 1992, 50-74: 72; Birnbacher D., Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht, in: Leist A. (Hrsg.), Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Frankfurt, 1990: 395-420; Leist A., Leben, Interesse, Selbstbestimmung – drei rivalisierende Weisen des moralischen Argumentierens zur Sterbehilfe, in: Illhardt, Sterbehilfe ..., S. 35-56.
  2. Leist stellt eine „Autonomie-orientierte Lehre" sogar als einen eigenen Ansatz dar: vgl. Leist, Leben, Interesse..., S. 49ff.
  3. vgl. Schockenhoff E., Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz, 1993: 178; Schockenhoff E., Sterbehilfe und Menschenwürde, Begleitung zu einem „eigenen Tod", Regensburg, 1991; vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. Bd. 4, Berlin, 1911: 428f.
  4. Kant, Grundlegung..., S. 434f.: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist .... das hat eine Würde."
  5. D.h. es handelt sich um keinen „Gebrauchswert", „Tauschwert", noch um einen „aspektbedingten Wert"; auch nicht um einen Maßstab unter anderen (Meßwert). Was unter einem „unbedingten Wert" zu verstehen ist, zeigt sich darin, was Anerkennung dieses Wertes heißt: „Unbedingtheit" schließt Relativierung durch Zwecke aus, d.h. eine theoretische oder praktische Orientierung, die den Wert eines menschlichen Lebens danach bemißt, wozu es dienen kann und welchen Absichten es im Wege steht: vgl. Müller A. W., Tötung auf Verlangen – Wohltat oder Untat, Stuttgart (u.a.), 1997: 78ff.
  6. vgl. Kant, Grundlegung..., S. 428f: die Person als Zweck in sich selbst zu behandeln und nicht als Mittel zu gebrauchen und darin zu instrumentalisieren.
  7. vgl. Augustinus, De lib arb., III., 22: „Nichtsein aber ist nicht etwas, sondern ist einfach nichts, und das kann man keine Entscheidung nennen, wenn ihr Gegenstand nicht existiert .... Wer sich für das Nichtsein entscheidet, ist überführt, daß er tatsächlich nichts wählt, auch wenn er es nicht zugeben will."; vgl. ibid. 23: Das ganze tatsächliche Verlangen des Todeswillens zielt also nicht dahin, daß der Gestorbene nicht ist, sondern daß er ruht, also nach einem höheren Sein; darin besteht sein Widersinn.
  8. vgl. Spaemann R., Es gibt kein gutes Töten, in: Spaemann R. / Fuchs Th., Töten oder Sterbenlassen?, Freiburg i.Br., 1997, 12-30: 19; Spaemann R., Personen. Versuch über den Unterschied zwischen „etwas" und „jemand", Stuttgart, 1996: 125ff.
  9. vgl. Spaemann, Es gibt kein..., S. 23.
  10. vgl. Müller, Tötung auf Verlangen ..., S. 98. – Eine Bestätigung kommt von Kuitert (d.h. jenem Autor, auf den sich vorrangig Hans Küng stützt: Kuitert H. M., Das falsche Urteil über den Suizid, Stuttgart, 1986: 58f.): Als Abgrenzung zu Kants Kritik des Selbstmords hält er bloß fest, daß es sich bei Sittlichkeit um eine „andere Auffassung" vom Menschen handle, die man nicht teile; vgl. den Sinn der Kritik an den Aussagen von Küng (in: Jens W./ Küng H., Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München, 1995) und bei Splett J., Recht auf den Tod?, Ethik Med. 1996, 42: 57-61.
  11. vgl. Müller, Tötung auf Verlangen ..., S. 193 f. – Ein immer wieder geäußerte Einwand verweist darauf, daß Selbsttötung ebensowenig wie „Selbstberaubung" unzulässig sein kann. Dieser Einwand geht allerdings ins Leere: denn einerseits setzt er die Beziehung zu Leib und Leben als dinghaftes Eigentumsverhältnis an; andererseits vermag er aufgrund seiner einschränkenden Voraussetzungen die Pointe des Gedankens – nämlich einer „Pflicht gegen sich selbst"- nicht zu fassen, da er aufgrund seiner Vorentscheidungen den Gedanken der Pflicht gar nicht kennt: so meint etwa Tugendhat (Tugendhat E., Vorlesungen über Ethik, Frankfurt, 1993: 152ff.), aus Kants kategorischem Imperativ ließe sich keine Pflicht der Selbsterhaltung angesichts des Lebensüberdrusses ableiten. Mit Kaulbach (Kaulbach F., Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", Darmstadt, 1988: 67ff.) kann man dagegen zurecht einwenden, daß es bei der Anwendung des kategorischen Imperativs auf den Fall der Selbsttötung um die Strukturgleichheit der Pflichten geht: die Pflicht gegen den anderen schließt die Ungleichbehandlung und Sonderbehandlung von bestimmten Personen und Gruppen und daher auch gegen sich selbst aus, ja selbst die Privilegierung eines bestimmten Lebensabschnitts innerhalb der Lebens-Biographie zugunsten eines früheren (vgl. auch Holderegger A., Grundlagen der Moral und der Anspruch des Lebens. Themen der Lebensethik, (Studien zur theologischen Ethik 55) Freiburg, 1995: S. 231).
  12. Zur Unterscheidung von „Form" und „Materie" in Bezug auf die sittliche Pflicht – vor allem im Anschluß an: Kant, Grundlegung..., – vgl.: Millán-Puelles A., Ética y realismo, Madrid, 1996: 42 ff.
  13. Gerhardt V.: „Selbstbestimmung", in: Historisches Wörterbuch der Philopsophie (HWPh), Basel, 1995, 9:. 335-342.
  14. Im Begriff des Vermögens ist (a) das prinzipielle, ontologisch begründete Können vom (b) faktischen bzw. aktuellen Können zu unterscheiden (vgl. der Verf.: Aufklärung, Vertrauen und Wohlwollen in einer Medizin der Person, Imago Hominis 1998, 4: 261-273; 264f.). Selbstbestimmung bloß als „Fähigkeit" zu bestimmen ist daher ungenau, da sie diesen wesentlichen Unterschied außer acht läßt: so z.B. in der Darstellung von Leist A., in: Illhardt, Sterbehilfe..., S. 53.
  15. vgl. Müller, Tötung auf Verlangen ..., S. 147.
  16. vgl. z.B. Kuitert, Der gewünschte Tod („Ein Standpunkt zur Selbstbestimmung"), Stuttgart, 1986: 67-74; Hoerster, Sterbehilfe..., S. 164 („Recht auf selbstbestimmtes Sterben"), Dworkin, Die Grenzen des Lebens..., bes. S. 30-318; Sporken P., Menschlich sterben, Düsseldorf, 1973: 41ff.; vgl. auch die zentrale Bedeutung des Begriffs für die speziellen Sterbehilfevereinigungen: Holderegger, Grundlagen der Moral..., S. 291-294).
  17. vgl. Leist A., in: Illhardt, Sterbehilfe ..., S. 49ff.
  18. Splett J., Schmerz und Leid als Konturen von Freiheit. Gedanken christlicher Anthropologie, in: Ethik Med. 1996, 42: 217-232.
  19. vgl. Pohlmann R., „Autonomie", in: HWPh, Basel 1971, 1: 701-719.
  20. Kant, Reflexionen zur Met, Nr. 6076, Akad. Ausg. Bd. 18, 443.
  21. Leist verweist ausdrücklich darauf, daß die Position, die Selbstbestimmung/Autonomie als Basis für ein „moralisches Recht auf Selbstmord" verwendet, mit den vor allem durch Kant geprägten Begriffen nicht mehr als den Namen gemeinsam hat: Leist A., in: Illhardt, Sterbehilfe ..., S. 38 und 50.
  22. vgl. Müller A. W., Das „Recht auf Euthanasie". Autonomie mit Nachhilfe, Ethica 1999,7/1: 47-67; 49.
  23. vgl. Rohrmoser G., „Autonomie", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München, 1973, 1: 155-170; ders.: Emanzipation oder Freiheit?, Berlin, 2. Aufl., 1995; Autonomie ohne Gesetz führt zur Aufhebung ihrer selbst: das ist die „Dialektik der Aufklärung": vgl. Spaemann R., Ende der Modernität?, in: Philosophische Essays, a.a.O., 232-260, bes. S 233.
  24. Die Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf „äußere", inhaltsleere, „negative" Freiheit und ein darauf ruhender Autonomiebegriff bestimmt wesentlich die Konzepte neuzeitlicher Ethik; auch die Lösungsversuche der dadurch entstehenden Schwierigkeiten, wie sie bei Tugendhat oder Habermas zu finden sind, erscheinen nicht als ausreichend (vgl. z.B. SIEP L., Zwei Formen der Ethik, Vorträge/NW-Akad.d.Wiss. Opladen, 1997).
  25. Aus der Sicht bloßer „Handlungsfreiheit" läßt sich die Frage eines totales Verfügungsrechtes nicht entscheiden oder begründen: vgl. Holderegger A., „Suizid", in: A. Eser et al. (Hrsg.), Lexikon Medizin-Ethik-Recht,. Freiburg i.Br., 1992: 1126-1148, bes. 1132.
  26. Safranek J. P., Autonomy and Assisted Suicid: The Execution of Freedom, Hastings Center Report 1998, 28/4: 32-36.
  27. vgl. z.B. Hoerster, Sterbehilfe...: „I. Unantastbarkeit des menschlichen Lebens?", S. 12ff.; „9. Religion als Maßstab des Rechts?", S. 154ff.
  28. vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 100, a.1.- Als Bezugspunkt der Hl. Schrift dient vor allem: Röm. 2, 14-15: das Naturgesetz, „das ins Herz geschrieben" ist. Die sittliche Verurteilung des katholischen Lehramtes von Mord, Abtreibung, Euthanasie und Selbstmord nennt immer als eigenständigen Grund an erster Stelle das natürliche Sittengesetz: vgl. zuletzt Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 1995, Nr. 57: 62 und 65.
  29. Darauf hatte auch schon Kant verwiesen: „Der Selbstmord ist aber unerlaubt und abscheulich, nicht deswegen, weil ihn Gott verboten hat, sondern Gott hat ihn verboten, weil er abscheulich ist wegen der Herabsetzung seiner inneren Würde unter die Tierheit.", in: Menzer Paul (Hrsg.), Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin, 1924: 193.
  30. Diese Kritik an den Argumenten von Thomas und Augustinus wurde schon von Hume geäußert; vgl. auch Holderegger, Grundlagen der Moral..., S. 223; H. Küng „bestätigt" die Bedeutung der Anerkennung oder Ausklammerung von Sittlichkeit: Denn er versucht zu zeigen, daß sich – auf der Basis einer „alternativen Theorie zur Moral" – auch der Anspruch auf Selbsttötung bzw. grundsätzlich unbeschränkter Herrschafts-ausübung über das Leben „theologisch" interpretieren und explizieren läßt (Küng a.a.O., S. 72).
  31. Schockenhoff, Ethik des Lebens..., S. 174.
  32. ibid.
  33. Hammer F.,Selbsttötung philosophisch gesehen, Düsseldorf, 1975; Ebeling H., „Selbstmord", in: HWPh, Basel, 1995, 9: 493-499.
  34. vgl. Müller, Tötung auf Verlangen..., S. 198.
  35. ibid.
  36. vgl. Ebeling, „Selbstmord"..., S. 497.
  37. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. (II. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Ethische Elementarlehre § 6), Bd. 6, 423: „Das Subject der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst, ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch ein Zweck an sich selbst ist."
  38. Kant deutet mit der eben zitierten Stelle zwar an, daß die Ablehnung von Sittlichkeit im Grunde die Ablehnung des eigentümlich Menschlichen mit einschließt, führt diesen Schritt aber nicht mehr aus. Er scheint mir aber nicht nur impliziert zu sein, sondern erst die volle Bedeutung des Arguments zu zeigen.
  39. vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q.64, a.5; anders bei Kant mit Verweis auf die innere Widerspruchsfreiheit der Natur: „Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde..." (Grundlegung..., S. 421f.).
  40. Thomas führt unter seinen Argumenten gegen die Selbsttötung den Verstoß gegen das Selbsterhaltungsstreben und die sich selbst geschuldete Liebe an. Die Bezeichnung der Selbsttötung als einer naturwidrigen, d.h. mit der vernünftigen Natur des Menschen unvereinbaren Tat, wird von ihm nicht verwendet. Mir scheint diese Benennung sowohl bei ihm impliziert wie auch der Sache nach zutreffend zu sein. Außerdem schützt das auch dieses Argument vor seiner empiristisch-naturalistischen Umdeutung und erhält ihm seine Bedeutung.
  41. Augustinus, De civitate Dei, I, 20. Das hier vorgetragene Argument bewegt sich im Rahmen der Klärung der Forderungen des Dekalogs und seines fünften Gebotes. Es scheint mir uneingeschränkt gültig zu sein, da es in ihm nicht um die Begründung des sittlichen Tötungsverbotes geht, sondern angesichts seiner Geltung nur um den Umfang dieser Geltung. Außerdem gilt es das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Augustinus richtig zu berücksichtigen (vgl. Gombocz Wolfgang L., Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters (=Geschichte der Philosophie in 12 Bd. hrsg.v. W. Röd, Bd. 4) München, 1997: 311f.): Seine Betrachtung der Forderung als Gebot schließt – gegen die moderner Denkweise – die natürlich-vernünftige Begründung der Forderung bzw. philosophische Argumentation nicht aus. – Deshalb halte ich es für legitim, an den hier enthaltenen philosophischen Hinweis anzuknüpfen und auf diese Weise seinen Beitrag in der Begründung des Verbots für die heutige Diskussion aktuell zu halten. – Vgl. auch den Hinweis auf die Strukturgleichheit der Pflichten in: Anm. 11. – Vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 64, a.5 ; II-II q. 44, a.3, a.7-8 (Selbstliebe als Urbild und Ursache der Nächstenliebe).
  42. vgl. auch die ausführliche Behandlung im Gottesstaat und im Buch Über den freien Willen (Augustinus, De civitate Dei, I, 17-27; De lib. arb. III, 17ff., 64ff.); vgl. Spaemann Robert, Freiheit, in: HWPh, Basel, 1972, 2: 1064-1098, bes. 1081.
  43. Ebeling, „Selbstmord"...: Hume: Die soziale Verpflichtung erreicht spätestens dann ihre Grenze, wenn das eigene Leben unerträglich wird.
  44. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII. Buch: Das Gute wünschen um der Person des Freundes willen; vgl. die Andeutung ibid., 4. Kap., IX. Buch.
  45. vgl. Hammer, Selbsttötung..., S. 52.

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