Die Selbstbestimmungsfähigkeit des Suchtkranken

Imago Hominis (2002); 9(3): 179-190
Peter Amann

Zusammenfassung

Das Phänomen Sucht geht uns alle an; vor allem wenn Sucht das Leben blockiert. Sucht bedeutet Verlust der freien Stellungnahme und Selbstbestimmung. Suchtkrank ist, wer feststellt, „nicht ich habe die Dinge unter Kontrolle, sondern das (Sucht-)Mittel hat mich“.
Sucht hat nie eine einzige Ursache, sondern entsteht prozesshaft aus einem komplexen Gefüge von Wirkfaktoren. Wer nicht gelernt hat, schwierige Situationen zu bewältigen, oder im besonderen das soziale Umfeld beschleunigen bei ihrem Zusammentreffen den Einstieg in die Suchtabhängigkeit.
Aufhören ist durch Aufsuchen gezielter fachlichen Hilfen möglich. Logotherapie und Existenzanalyse ist im Gesamtgefüge der bestehenden Hilfen als personaler und  ganzheitlicher Ansatz ein ergänzender Beitrag der Hilfestellung. Selbstbestimmung des Suchtkranken ist auf Grund der Freiheit der Stellungnahme zu den Bedingungen der Suchabhängigkeit und das Ausschau halten nach neuen zukunftsorientierten Perspektiven möglich. Werte sind die notwendigen Mittel zur Sinnbestimmung und Sinn wird zum tragenden durchgängigen Leitmotiv für ein Leben ohne Abhängigkeit.

Schlüsselwörter: Sucht, Selbstbestimmung, Logotherapie, Existenzanalyse

Abstract

The phenomenon of addiction must interest all of us especially if the addiction blocks up life itself. Addiction means loss of freedom in positioning oneself and in self determination. A person is addicted when they discover that they do not have control of things but that their drug has control of them. Addiction never has one cause only, but comes about by way of a process of complex structures and effects. One who has never learned to master difficult situations, especially those in his social environment is very likely to become addicted.
It is possible to end one’s addiction by special professional aid. Logotherapy and Existential Analysis as part of the professional aid can often be of great help in reaching the goal aimed at. Self determination of the addicted person is possible when the regulations for freedom from addiction are kept and future perspectives without addiction are looked forward to. Values are the necessary means for determination of sense and meaningfulness and must become the main motive for a life without addiction.

Keywords: Addiction, self determination, logotherapy, existential analysis


1. Das Phänomen Sucht

„Sucht geht uns alle an. Sucht betrifft uns alle. Sucht macht uns alle betroffen. Sucht erwischt uns alle. Sucht schädigt uns alle. Sucht kompromittiert uns alle. Sucht hat uns alle gesucht – und gefunden. Sucht lässt uns alle nach einem Ausweg suchen – und auf den Ausweg hoffen. Da sind sie alle, die Nikotinsüchtigen, die Alkoholsüchtigen, die Medikamentensüchtigen, die Haschisch-, Kokain- und Heroinsüchtigen, die Ecstasy-Süchtigen, die Geltungssüchtigen, die Spielsüchtigen, die Eifer- und selbst die Sehnsüchtigen.“1

Fragen wir mutig weiter: Wo sind wir? Sind wir nicht eine/r von diesen? Haben wir nicht selbst fast von jedem etwas? Sind wir nicht zumindest streitsüchtig oder gewinnsüchtig? Ist es nichts von alledem? Bleibt zumindest die Gefahr der Selbstsucht oder doch der Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit in der Leugnung jeglicher Suchtgefährdung?

Die Liste weiterer – vor allem nicht substanzgebundener Süchte könnte von jedermann weitergeführt werden. Die persönliche Betroffenheit bei jedem Gespräch über Sucht ist oft nur mit Mühe auszublenden. Die Frage nach dem, was einerseits Sucht „mit jedem von uns macht“ (a.a.O.) verbindet viele, fast alle Menschen (irgendwann) miteinander, andererseits bekommt diese Frage selbstredend eine andere Qualität und Dramatik, „wenn Sucht das Leben blockiert.“2

Das Phänomen Sucht, so konnte gezeigt werden, hat viele Namen und noch mehr verschiedene Gesichter.

2. Was ist Sucht?

Man spricht viel über Drogen. Wer aber über Drogen spricht, muss über Sucht sprechen!

Eine allgemein gültige Definition von Sucht gibt es nicht. Ursprünglich war in der deutschen Sprache das Wort „Siechen“ das Wort für Krankheit (z.B. Wassersucht).

Heute versteht man darunter eine krankhafte, zwanghafte Abhängigkeit von verschiedensten Stoffen; man versteht darunter weiters das sich steigernde Verlangen nach einer ständig erneuten Einnahme einer oder auch mehrerer abhängig machender Stoffe (Mischkulanzen), um ein bestimmtes Lustgefühl immer wieder, möglichst stärker als zuvor zu erreichen oder Unlustgefühle zu vermeiden.

Der Zustand der Abhängigkeit tritt nach einer Phase der Gewöhnung ein, die bei bestimmten Substanzen, z.B. Heroin, sehr kurz sein kann, wenn regelmäßiger oder dauernder Konsum zu einer physischen und/oder psychischen Abhängigkeit geführt hat.

Von physischer Abhängigkeit spricht man, wenn die Substanz in den Stoffwechsel des Körpers eingebaut wird und wenn nach Absetzen der Drogen körperliche Entzugserscheinungen wie Schwitzen, Fieber, Muskelschmerzen, Erbrechen usw. auftreten.

Der Begriff der psychischen Abhängigkeit wurde eingeführt, weil bei einigen Drogen (z.B. Haschisch, Kokain, LSD) keine direkte körperliche Abhängigkeit eintritt.

Dennoch ist das Verlangen sehr stark, den Konsum auch bei diesen Substanzen fortzusetzen. Es ist meist nicht mehr selbstbestimmend steuerbar. Wenn das Mittel abgesetzt wird, treten Unlustgefühle und Depressionen auf.

Sucht bedeutet in beiden Fällen Verlust der freien Stellungnahme und der Selbstbestimmung. Der süchtige Mensch vermag mit dem Suchtmittel nicht mehr frei umzugehen.

Insgesamt gesehen gibt es sehr viele legale und illegale Mittel, aus deren Gebrauch eine zwanghafte und krankhafte Abhängigkeit, nämlich Sucht, entstehen kann.

In der Öffentlichkeit wird als Sucht vor allem die Abhängigkeit von illegalen Drogen, Alkohol und Medikamenten angesehen; unter den Jugendlichen sind in den letzten Jahren Designerdrogen3 und mit Geheimwissen verbundene Pilze zusätzlich stärker in Gebrauch gekommen.

Als Krankheit und als von der Öffentlichkeit zu bezahlende Behandlung sind bisher nur substanzgebundene Süchte anerkannt.

Was ist aber mit Spielsucht? Kaufsucht? Arbeitssucht? Fernsehsucht? Internetsucht etc.?

Nicht substanzgebundene Abhängigkeiten sind auf den ersten Blick oft nicht als süchtige Verhaltensweisen zu erkennen. Sie können wie stoffliche Suchtmittel zur „Krücke“ für eine schwierige Lebensbewältigung werden und wie diese genauso (selbst-)zerstörerisch sein.

Die scheinbare Entlastung, die das Suchtmittel momentan bringt, erscheint vorerst als Erleichterung in einer schwierigen Situation. Wenn nach einiger Zeit einer feststellt: „Nicht ich habe die Dinge unter Kontrolle, sondern das (Sucht-)Mittel hat mich“, ist es meist schon zu spät für ein eigenes, freigewähltes selbstbestimmtes Aufhören: Man ist suchtkrank.

3. Wie entsteht Sucht?

Es geht um die entscheidenden Wirkfaktoren, welche „stark“ genug sind, dass der eine Mensch in ein und derselben Kultur, in derselben gesellschaftlichen Lage, mit ähnlichen Anlagen (vgl. Zwillingsforschung), fast einer identischen sozialpsychologischen Entwicklung, ähnlichen ideologischen, zeitgeschichtlichen Einflüssen etc. süchtig wird, ein anderer Mensch in der ähnlichen Situation jedoch nicht.

Wo ist das entscheidende Quäntchen, das gewisse „Etwas“, was das Leben des einen Menschen in die eine Richtung, das Leben des anderen Menschen in eine geradezu umgekehrte Richtung sich entwickeln lässt?

Warum wird ein junger Mensch drogenabhängig? Warum wird ein Familienvater Alkoholiker? Warum ist eine Nachbarin tablettenabhängig? Warum raucht die Freundin, obwohl sie sich der Gefahren bewusst ist?

Sind es determinierende milieubedingte, biologische und genetische oder psychologische, entwicklungsbedingte Faktoren, die der freien Stellungnahme der einzelnen gefährdeten Person jeden Spielraum zur eigenen Entscheidung auf ein Leben ohne Sucht rauben?

Es stellt sich die Frage, ob es angesichts der zahlreichen Ursachen und Faktoren, die eine Suchtabhängigkeit bewirkt, letztlich noch möglich ist, eine Selbstbestimmungsfähigkeit des Suchtgefährdeten und gar schon Suchtkranken zu begründen.

Die Antwort auf diese Fragen sehen immer wieder anders aus. Sucht hat nie eine einzige Ursache, sondern entsteht aus einem komplexen Ursachengefüge, in einem Prozess und nicht von heute auf morgen.

Wurzeln können in der Persönlichkeit des Betroffenen liegen, wenn er nicht gelernt hat, schwierige Situationen zu bewältigen, wenn er sich nicht dagegen wehren kann, von Gefühlen wie Angst, Wut, Scham, Langeweile, Einsamkeit erdrückt zu werden.

Wurzeln können aber auch im sozialen Umfeld liegen, in Kindheitserfahrungen oder Ereignissen, die bedrohlich und ausweglos erscheinen, wie Trennung von einer geliebten Person, Verlust des Arbeitsplatzes, überbordende Geldnot, Schulprobleme, Schwierigkeiten in der Familie.

Das gleichzeitige Zusammentreffen mehrerer belastender Faktoren kann den Einstieg in den Drogenkonsum beschleunigen. Neben diesen mehr subjektiven Faktoren spielt selbstverständlich auch die objektive Verfügbarkeit der Droge eine Rolle.

Hat jemand in einer schwierigen Situation einmal die Erfahrung gemacht, dass durch ein Suchtmittel im engeren oder weiteren Sinne schlechte Gefühle abgestellt und gute Gefühle hervorgerufen werden, ist die Gefahr sehr groß, immer wieder zu diesen Mitteln zu greifen (greifen zu müssen), sich „per Knopfdruck“ Erleichterung zu verschaffen, bis ein Wohlbefinden ohne diese Hilfe nicht mehr möglich ist.

Aber auch Leichtfertigkeit im Umgang mit Suchtstoffen, manchmal sogar ein metaphysischer Leichtsinn, die Welt aus den Angeln heben zu können/wollen; Selbstüberschätzung („... ich kann schon damit umgehen, ich werde schon nicht abhängig ...“) sind oft der Einstieg in eine Suchtkarriere.

Ein Teufelskreis beginnt! Der Mensch gerät in das vitale Spannungsfeld von

  1. den Suchtmitteln,
  2. der Abhängigkeit mit einer Vermehrung von Leid, Schmerzen, Unglück und Angst;
  3. der verstärkten Anspannung mit Defiziterlebnissen, wie Schmerz, innerer Leere, existentieller Frustration, ... , neurotischer Konflikte, Psychosen. Daraus folgt
  4. Aggression und Depression, was erneute Flucht in den erneuten Missbrauch der Droge provoziert.

Der Kreis hat sich prozesshaft geschlossen. Je mehr sich dieser Kreisprozess zum Teufelskreis schließt, desto stärker wird der Wunsch nach Hochgefühl, Entlastung, Erleichterung durch erneute Flucht mit Hilfe der Droge; das Verlangen danach lässt zunehmend alle Hemmungen und Barrieren fallen. Solange es geht wird die Dosis gesteigert. Auch mit Hilfe der permanenten Lüge. Der so abhängig gewordene Süchtige beginnt an den Sinn, ja an die Notwendigkeit der Lüge zu glauben, sein Leben wird zu einer nicht mehr beseitigbaren Lebenslüge. Der Weg zur kriminellen Handlung ist nicht mehr weit. Schuldgefühle entstehen, der Süchtige fühlt sich zunehmend eingeengt und versucht sich zu rechtfertigen, was in der unmittelbaren Umgebung nur noch mehr Ablehnung hervorruft. Es bleibt noch, sich selbst und andere zu täuschen, zu vertuschen, was andere schon wahrzunehmen beginnen; Vorsätze und Versprechungen werden nicht eingehalten; im Besonderen werden die Nächsten, die Familie und Freunde belogen und bestohlen; das Suchtmittel wird Dreh- und Angelpunkt des Lebens – nicht nur für den Abhängigen, sondern auch für das Leben seiner sozialen Gruppe – „es wird zur Hölle“.

Die Sucht hat alle gefunden, sie hat die ursprünglichen Probleme überlagert und neue geschaffen, die dem Betroffenen unüberwindlich scheinen.

Aufhören ist möglich. Dazu zwei Beispiele: Es handelt sich im folgenden um eine Zusammenfassung (im ersten Fall) und ein Original (im zweiten Fall) von einem ärztlichen Erstgespräch mit Anamnese nach der Aufnahme in die Drogenlangzeittherapie. Die Gespräche wurden durch eine Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und eine Psychotherapeutin für Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl geführt. Die Klientin befindet sich nun ca. 10 Monate in der Therapieeinrichtung.

Fallbeispiel 1

Die 22jährige Klientin berichtet einleitend, sie habe bisher schon 4 Therapeuten gehabt und ca. 60 psychotherapeutische Sitzungen, die aber alle nichts bewirkten.

Sie stamme aus einem gut bürgerlichen Elternhaus (der Vater Prokurist einer Bank, in der Stadtpolitik aktiv, öffentliches Ansehen sei ihm wichtig, Geldmensch; die Mutter Bürokauffrau, mütterlich, hausfraulich, sensibel, hilfsbereit), habe eine glückliche Kindheit gehabt. Als sie 10 war, ließen sich die Eltern scheiden, Vater hatte bald eine neue Freundin. Die K. besuchte die Volksschule und 6 Klassen des Gymnasiums, bis sie sitzen blieb; sie absolvierte anschließend einen Massagekurs. Ihre Drogenkarriere begann mit 14 J.: Alkohol und Nikotin, dann Cannabis, Speed, LSD; mit 18 J. probierte sie Heroin und Morphium, mit 20 J. Kokain. Nach der Aufnahme befand sie sich ca. 7 Monate im Methadon-Programm. Bis zum Therapieantritt haben sich 1 Mill. Schilling Schulden angehäuft.

Mit 18 J. lernte sie „ihre große Liebe“ kennen. Dieser Freund, ein Baggerfahrer, hatte viele Schulden und erstach einen Taxifahrer (wurde dann wegen Mordes verurteilt), er hatte auch einen Bankraub geplant. Sie war zum Zeitpunkt der Tat im 3. Monat schwanger von ihm und ließ dann eine Abtreibung vornehmen. Ca. 6 Monate lang besuchte sie Ihren Freund noch im Gefängnis, war überzeugt von seiner Unschuld, bis er ihr gegenüber den Mord tatsächlich zugegeben habe. Der Vater unterstützte sie in dieser schweren Zeit kaum, die Mutter schon. Seit dieser Zeit konsumierte sie massiv Heroin.

Zur Zeit des Therapiebeginns ist sie sehr depressiv, weint viel. Ihre Zukunftsperspektiven: gesund werden, Karriere machen.

Ca. ½ Jahr später wird sie bei einem Ausgang in der Schweiz von Dealern überfallen und ausgeraubt; nach diesem schockierenden Erlebnis entschließt sie sich zu einem Entzug auch von der ärztlichen Substitution, was ihr auch gelingt.

Seit einiger Zeit geht sie ins Fitnessstudio, geht regelmäßig schifahren und besucht Abendkurse, um die Matura zu machen; sie möchte anschließend studieren. Nach der stationären Therapie hat sie einen längeren Erholungsurlaub in den USA bei einer Tante in New York geplant.

Die Aufgabe der psychotherapeutischen Begleitung war bisher: 1) Raum geben und Zeit lassen und die durch die Sucht verdrängten „gesunden Anteile“ der noch unversehrt gebliebenen geistigen Person wahrzunehmen durch „Begegnung“ im Beieinander-Sein, Förderung des Person-Seins der Klientin. Durch die Selbsterfahrung des eigenen Person-Seins und der Erfahrung, dem eigenen Leben wieder selbstbestimmend eine positive, d.h. auf Sinn und Werte aufgebaute neue Richtung geben zu können, entsteht bei der Klientin spontan wieder Mut, und auf Medikamente und Zusatzstoffe verzichten zu können und zu wollen, auch Leiden und (Entzugs-) Schmerzen auf sich zu nehmen. Im offenen therapeutischen Dialog kann die K. auch ihre verdrängten und deshalb ihr auch verborgen gebliebenen Sinn-Möglichkeiten (wieder) erspüren. Die Stimme ihres Gewissens beginnt ihr wieder (leise) zu flüstern, was am besten wäre für ihr noch junges Leben. Die K. beginnt ihre eigenen Pläne zu schmieden für ein neues Leben – jenseits von Drogen. Dadurch entfernt sie sich auf selbstverständliche Art und Weise von den fremdbestimmenden Kreisen, die einst ihr Leben in eine verzweifelte Richtung lenkten. In der Folge wird der Grundwert ihrer Person und ihre Würde gestärkt und der Selbstwert durch Werteverwirklichung herausgebildet. Aus innerer Freiheit wird aus Anlass von negativ Vergangenem im „Hier und Jetzt" eine Fülle von künftigen neuen Möglichkeiten mehr und mehr verwirklicht. Indem der Psychotherapeut der Klientin neuen Raum für einen Neuanfang zu geben vermag und Zeit lässt in einer dialogischen Begegnung, beginnt er die Einmaligkeit der Situation und Einzigartigkeit der Person der Klientin zu verstehen, besser als sie sich selbst zu verstehen vermag. Daraus wächst das Vertrauen, dass neue Werte (Sport, Gesundheit, Kurse, Reisen, etc.) erlebbar werden, die in der Folge selbstgestaltend in ein eigenes Lebenskonzept eingehen werden.

Fallbeispiel 2

Es handelt sich um einen 22jährigen Klienten. Das Protokoll wird wörtlich wiedergegeben: 

Frühere Krankheiten: Trug Korsett mit 12 J. (M. Scheuermann), immer Rückenschmerzen, mit 15-16 J. kurzzeitige Besserung, dann wieder schubhafte Verschlechterung, 1999 Hammerzehen-OP links; Mit 2 J. durch herabhängende Schlinge am Sofa beinahe erhängt (Eltern fanden ihn schon cyanotisch).

Medikamente derzeit: Codidol, Tranxilium

Drogenanamnese:
Mit 14 J. Nikotin und Alkohol
15 J. tägliches „Kiffen“
16 J. Benzodiazepin-Abusus (Praxiten, Rohypnol, Valium)
19/20 J. öffentliches Arbeitsprojekt, Cannabis wurde toleriert, nahm auch heftig Ekstasy, da es dort keine Harnkontrollen gegeben habe. Habe auch Opium konsumiert, was ihm eilweise gegen seine Schmerzen geholfen habe.
¾ Jahr im Methadonprogramm, war dann im Krankenhaus auf Entzug, habe sich dann wieder Substitoltabletten, Compensan (sind Morphintabletten), Benzos etc. am Schwarzmarkt besorgt.
Mikt den Drogen funktioniere es bei ihm nach dem Belohnungsmechanismus. 

Schulanamnese und Berufsanamnese:
4 J. VS; 5 J. Realgymnasium, 4. Klasse wiederholt, 2x negativ beendet.
Der K. formuliert es in der Rückschau als Trotzhaltung gegen die Eltern, die damals unbedingt wollten, dass er das Gymnasium erfolgreich abschließt.
Er hat dann selbst eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begonnen, die er mit Auszeichnung abgeschlossen habe, obwohl er auch in der Berufsschule wenig Motivation gezeigt habe. Er sei viel in den Krankenstand gegangen (ca. 3 Monate pro Jahr, wegen seiner Rückenerkrankung). Er habe dann in der Folge auch Komplexe gehabt wegen seiner eingeschränkten Körperhaltung. Wollte nicht mehr ins Schwimmbad oder in die Sauna gehen. 

Psychische und Sozialanamnese:
In den ersten Lebensmonaten habe er nur geschrieen (sog. Schreikind). In Kindergarten und Schule sei er dann hyperaktiv gewesen. Zwischen 10. – 12. LJ extrem ruhiges, introvertiertes Kind.
Er erkenne kognitiv viele Dinge, die falsch laufen in seinem Leben – es gelinge ihm aber nicht, diese umzusetzen. Wenn ihn etwas störe, schlucke er das immer und spreche nicht davon. Er könne sich nichts einteilen, weder einen Monatslohn noch die Medikamentenration. Daher sei er froh, wenn das jemand für ihn übernehme.
Er fühle sich traurig, energielos, antriebsgemindert, hat Fantasien, dieser Qual auf Erden durch den Tod entrinnen zu können (Überdosis), meint aber dann gleichzeitig, dass er wahrscheinlich nicht den Mut hätte, es wirklich zu tun.
Er ist das einzige Kind aus der Ehe seiner Eltern; der Vater hat noch einen Sohn aus erster Ehe.
Die Mutter, geb. 1943, hat einen Halbtagsjob in der Warenübernahme einer Firma; der Vater, geb. 1942, ist Gendarm und arbeitet im Bereich der EDV. Die Ehe der Eltern beschreibt er eher als Wohn- und Wirtschaftgemeinschaft, wobei die Mutter eher der dominantere Teil sei, der Vater eher der stillere, welcher auch viel schlucke, so wie er. Zweimal wöchentlich gehe der Vater kegeln und trinke Alkohol zur Problembewältigung. Die Mutter wird als offen geschildert, mit der man gut kommunizieren könne, sie habe eine Brustkrebs-OP li hinter sich. Der Kontakt zu den Verwandten sei teilweise wegen seiner Drogensucht von diesen abgebrochen worden. Mama sei eine gute Hausfrau und habe ihn zu sehr verwöhnt, sodass er dadurch wohl unselbstständig geworden sei. Er sei von ihr überbehütet worden, so dass der Ausdruck „Mamabübl“ nicht übertrieben sei.
Obwohl er sich sehnlichst ein Geschwisterchen gewünscht habe, habe er zu seinem neun Jahre älteren Halbbruder nie Kontakt gehabt – er könne aber nicht sagen warum.
Zur Mutter habe er uneingeschränktes Vertrauen, würde alles mit ihr besprechen, obwohl sie sich in letzter Zeit mehr abgrenze, auf Anraten von Ärzten und Therapeuten. So würde sie es z.B. nicht mehr zulassen, dass er im Elternhaus wohnen könnte.
Vater sei teilweise auch egoistisch, mache was ihm Spaß macht und meine, dass sein Problem oder überhaupt das Familienproblem so einfach zu lösen wäre, wenn nämlich Martin aufhören würde, Drogen zu nehmen oder seine Psyche ändern würde.

Partnerschaften:
Hielten meist nur ein paar Monate; ein 17 jähriges Mädchen, in welches er sich zuletzt verliebt hatte, stürzte unter Drogen von der Jenbacher Burg in den Tod. 

Zukunftsperspektive:
Könnte sich einen Halbtagsjob vorstellen (Computerbranche), aber nur unter Substitutionsbehandlung („so wie ein Diabetiker unter Insulin arbeiten geht“). Möchte mit seinem Leben zufrieden sein.

Wie kann bei einer solchen Problemlage ein Ausstieg aus der Sucht vorbereitet werden? Ist angesichts einer vielschichtigen und sich überlagernden Problematik ein selbstbestimmendes Leben jemals denkbar?

In einem Vorbereitungsschritt ging/geht es in einer ersten Phase (der K. ist seit ca. 3 ½ Monaten in der Einrichtung) primär um eine Stabilisierung und Orientierung auf der Ebene seiner Leiblichkeit. Diese erste Phase ist in der Regel auf ca. 6 Monate konzipiert.

Seine zahlreichen gesundheitlichen Ängste auf Grund von bereits amputierten Zehen und Fingern, die wie bei vier Onkeln mütterlicherseits sich abnorm zu entwickeln beginnen, sowie andere Gebrechen provozieren Existenzängste, die ihrerseits Impulse „sich mit Drogen zuzumachen“ hervorrufen.

In dieser ersten Therapiephase werden alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft, um (zum ersten Mal in seinem Leben) eine optimale ganzheitlich (fach-)ärztliche Versorgung zu erreichen, die ihm bisher – so seine Aussage – nicht zuteil wurden. Deshalb holte er sich selbst bisher von ca. 5 verschiedenen Ärzten jene vor allem schmerzstillenden Medikamente, vor allem Morphium und Valium, um eine optimale Versorgung selbst sicherzustellen.

Kraft seiner hochentwickelten erlernten Freundlichkeit und Redefähigkeit konnte er – ohne gegenseitiges Wissen der Ärzte untereinander – einen hohen Grad von Versorgung mit Medikamenten für kurze Zeit erreichen – bis dieser Zustand lebensbedrohlich wurde. Zuletzt schluckte K. ganze Packungen von schmerzstillenden Medikamenten auf einmal, einschließlich morphinhaltiger Tabletten.

Der Therapieansatz

1.) Die Medikation muss in eine ärztliche Hand. Derzeit substituiert und verschreibt ein Facharzt die Medikamente und eine Fachärztin macht mit ihm ärztlich-psychotherapeutische Gespräche.

2.) Die Verabreichung wird vorerst genauestens kontrolliert und in verbindlichen Vereinbarungen reduziert.

3.) Eine sinnvolle Tagesstruktur wird verbindlich angeboten (ist eine Aufnahmebedingung) und durch konkrete Werte im Alltag umgesetzt. Dadurch kann die übertriebene eigene Wehleidigkeit in Schritten abgebaut werden.

4.) In psychotherapeutischen Einzelgesprächen wird einerseits für die Aufarbeitung von Verdrängtem personaler Lebensraum geschaffen, indem die oft verletzte Würde seiner Person sich zurückbildet und sein Selbstwert sich wieder herauszubilden vermag, andererseits wird das Erspüren von neuen tragfähigen Werten und Sinnstrukturen intendiert.

5.) Die sich sammelnde innere Kraft seiner Persönlichkeit, lässt die Defizite seiner Entwicklung und auch die Abhängigkeit von Drogen und Medikamenten in den Hintergrund treten.

Nach dieser psychotherapeutischen Phase, die von ausdauernder Empathie getragen sein muss, soll dann später die konfrontative Phase der psychotherapeutischen Auseinandersetzung mit seinen falschen Verhaltensmustern und Einstellungen einen zukunftsorientierten Neuanfang vorbereiten.

4. Ausstieg aus der Sucht – der Beitrag der Logotherapie und Existenzanalyse

Der Ausstieg aus der Abhängigkeit beginnt mit der Einsicht: „Ich bin süchtig, so kann ich nicht weitermachen, der Preis ist zu hoch.“

Der Wunsch aufzuhören ist in der Regel begleitet von der Suche nach Hilfen beim Entwickeln von Alternativen, beim Lernen und Ausprobieren neuer Verhaltensweisen und Einstellungen.

Eine Suchtberatungsstelle und in der Folge eine stationäre Therapieeinrichtung kann fachliche Unterstützung anbieten. Die institutionellen Hilfsangebote sind heute breit gefächert. Von nieder- bis hochschwelligen Beratungsstellen, von Kurzzeittherapiestationen bis Langzeittherapiestationen kann sich der Hilfesuchende beraten lassen.

Im Vorfeld sind es oft Laien, Freunde, Eltern, Bekannte, die helfen wollen. Dabei besteht die Gefahr der Co-Abhängigkeit4, besonders bei Alkoholsucht und sozio-kulturell ähnlich orientierten (Jugend-)Gruppen. Eine Co-Abhängigkeit ist gekennzeichnet durch starke Fremdbestimmtheit (der Bezugspunkt für Fühlen, Denken und Erleben liegt außerhalb des Selbst), durch Beziehungssucht, mangelnde Abgrenzungsfähigkeit, übertriebene Fürsorge, extremes Kontrollbedürfnis u.a.m.

In der Regel sind es Frauen, die ihren süchtigen Männern/Partnern helfen wollen. Männer trennen sich in der Regel von ihrer süchtigen Partnerin (hohe Scheidungsrate).

Ein spezifischer Beitrag beim Ausstieg aus der Sucht, den die Logotherapie und Existenzanalyse in das Gesamtgefüge bereits bestehender Hilfe einbringen kann, ist in seiner Grundintention getragen von

1. der Würde der süchtigen Person gegenüber. Dies ist nicht selbstverständlich, denn gerade Drogenabhängige erleben oft Ablehnung und Missachtung ihrer Person gegenüber;

2. der Stärkung des gesunden Selbstwertes. Dieser ist in der Regel entweder zu hoch (Selbstüberschätzung) oder zu gering (Abwertungstendenz des Selbstwertes);

3. der Werteverwirklichung im Alltag (im Hier und Jetzt) und dadurch Aufbau neuer Sinnstrukturen. Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung sind notwendige und unterscheidbare Schritte bei der Suchtkrankenhilfe.

„Selbsterfahrung auf eine andere Weise“5 ist eine Erfahrung der eigenen Personalität, ist eine Seinsweise, die das Selbst mit der Fülle seiner Möglichkeiten verbindet. Eine solche Selbsterfahrung lenkt die Aufmerksamkeit nicht primär auf das Negativ-Vergangene, was ja kaum Hoffnung machende Zukunftsperspektiven ermöglicht, sondern die Erfahrung einer im Vorhinein nicht begrenzten Fülle von verbliebenen Lebensmöglichkeiten macht Mut zu einem zweiten, „notwendenden-Schritt“ in der Drogentherapie: der Selbsterkenntnis.

Drogen- und Suchtkranke weichen normalerweise einer vertieften Selbsterkenntnis aus, wenn diese primär aufs Negative, auf das, was falsch gelaufen ist, gerichtet ist.

Nach der Erfahrung des Selbst auf die verbliebenen Möglichkeiten des Ich, hat es den Mut, „in den Spiegel zu schauen“, in dem auch die Fratze der Sucht erscheint. Im freien Stellungnehmen vermag das gesund gebliebene Ich sich differenziert zu erkennen als eine Persönlichkeit, die so geworden ist, aber eben auch noch anders werden kann. Freiheit und Eigenverantwortung werden zur Möglichkeit der Selbstbestimmung – trotz der Suchtabhängigkeit.

Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung und die therapeutische Unterstützung dazu gründet in der Annahme, dass das Selbst kein faktisches Ich, sondern ein fakultatives Ich ist. Frankl: „Es repräsentiert den Inbegriff der Möglichkeit des Ich“.

Diese Möglichkeiten sind solche der Sinnerfüllung und Wertverwirklichung, und als solche sind sie Möglichkeiten, die nicht zuletzt in der Konfrontation des Menschen mit schicksalhaften Notwendigkeiten aufscheinen.

Was einen Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des Selbst als des Spielraums, in dem das Ich atmet.6

In der Praxis des therapeutischen Alltags geht es nicht darum, mit allen medizinischen Mitteln beim Entzug Schmerzen zu bekämpfen, sondern eine erträgliche konkrete, gesunde Spannung zwischen dem Selbst des Ich und der Fülle seiner verbliebenen Möglichkeiten aufzubauen und aufrecht zu erhalten.

Hierin liegt der spezielle Weg der Logotherapie bei der Suchtbehandlung, indem sinnstiftende Motive konkret angeboten und Argumente dialogisch-prozesshaft eingesetzt werden, die den suchtabhängigen Patienten nach und nach befähigen von seiner Freiheit einen rechten Gebrauch zu machen und somit dem fremdbestimmenden Zwang entkommen zu können.

In der konkreten alltäglichen Praxis ist es allerdings hilfreich in einem ersten Schritt methodisch zu unterscheiden, welche Schritte vorbereitend vor einem sinnzentrierten psychotherapeutischen Gespräch bei auch medizinisch zu behandelnden Symptomen gesetzt werden müssen.

Im Besonderen sind es auch klinisch zu behandelnde Neurosen und psychotische Störungen, die einer medizinischen Vorabklärung und Behandlung bedürfen. Eine vorübergehende – in Einzelfällen auch dauernde – medikamentöse unterstützende Behandlung ist im besonderen bei depressiven Krankheitsbildern nötig, aber auch bei Drogenkranken, die noch einen geringen Selbstwert und an einem beschädigten Grundwert leiden. Der Einsatz einer Substitution (wie z.B. Methadon oder einem Morphinpräparat, wie z.B. Compensan, Substitol, neuerdings auch Subutex) kann eine Voraussetzung schaffen für einen erfolgreichen sinnzentrierten psychotherapeutischen Prozess. Dazu kommt bei manchen drogenkranken Patienten, die schon andere Therapieversuche gemacht haben, dass sie Psychotherapiegespräche vorerst ablehnen, nachdem sie gegenüber allzu analytischen Therapiegesprächen eine Skepsis und manchmal auch Gesprächsblockaden entwickelt haben.

Manche drogenkranken Patienten sind nicht nur erziehungsgeschädigt, sondern auch therapiegeschädigt durch frühere Therapieversuche. Da Drogenberatung nicht gesetzlich geschützt ist, kommen qualitativ sehr unterschiedliche Konzepte zum Einsatz. In meine Einrichtung kommen vor allem gesprächsresistente Patienten, die jede Form einer direkt vorgehenden Therapie (vorerst) ablehnen. Deshalb unterscheide ich, ausgehend von der Ansprechbarkeit der Patienten solche, die – trotz ihrer „Sinnbarrieren“ – durch indirekte Argumente (Motive) ansprechbar sind und solche die direkten Argumenten zugänglich sind.

Zur ersten Gruppe gehören – neben erziehungs- und milieugeschädigten und psychosozialen Störungsbildern – nach einer fachärztlichen Differentialdiagnose und Zuweisung – Patienten, die unter starken Ängsten, Zwängen und an Depressionen leiden.

Dazu eine kurze Fallschilderung: Ein 27 Jahre alter Patient erleidet vor ca. 8 Jahren einen Horrortrip, auf einer Brücke seiner Kleinstadt stehend, nachdem er mit dem Freund LSD, vermutlich mit Strichnin gestreckt, konsumiert hatte. Seither versuchte er mit Hilfe aller anderen verfügbaren Drogen (Heroin, Kokain, Extasy), in mehreren stationären und psychiatrischen Kliniken und bei Psychiatern durch verschiedenste Medikationen seine seither höllischen Ängste und Zwänge, die oft gepaart sind mit starken plötzlich auftretenden Depressionen, los zu werden.

Der junge Mann war früher Sportler, hat Matura und den Führerschein und ist sehr intelligent. Obwohl er sich selbst als nicht gläubig bezeichnet, redet er gelegentlich vom Teufel, der gelegentlich in ihn eindringe. Er möchte nun zu allem greifen, sogar zur Bibel um aus diesem real erlebten Teufelskreis auszubrechen.

Es wäre ein logotherapeutischer Kunstfehler, mit logischen Argumenten diese sehr schweren angst- und zwangshaften Zustände behandeln zu wollen.

Was kann aber getan werden mit Hilfe der Logotherapie, nachdem der Patient in allen bisherigen Therapien gescheitert ist?

Es muss aus einer ganzheitlichen Sicht

1. die Medikation durch eine gute fachärztliche Behandlung immer wieder überprüft und neu eingestellt werden, um eine qualitativ gute medizinische Behandlung sicherzustellen. Der Patient hat einen sehr guten Fachpsychiater gefunden, der auch als Psychotherapeut viel Verständnis aufbringt für die schon lange andauernde Krankheitsgeschichte. Dieses Argument bezieht sich auf die Notwendigkeit, die eigenen körperlichen medizinisch-klinischen Gegebenheiten zu akzeptieren und mit diesen umgehen zu lernen.

2. Dem interessierten Patienten wird aus einer ganzheitlichen Sicht seine Problemlage in den Kernpunkten erklärt, damit er sich selbst in seiner Leidensproblematik besser objektiv verstehen und annehmen kann (Selbstannahme). 

Dieses Argument bezieht sich auf die selbst bestimmte Objektivierung und somit auf die Relativierung seiner Leidenszustände.

Dem für objektive Informationen empfänglichen Patienten wird die Wirkungsweise der psychosomatischen Kreislaufprozesse nach langjähriger schwerer Drogenabhängigkeit erklärt, eingebettet in das anthropologische Gesamtkonzept des Körper-Seele-Geist Problems. Dieses ist aus der Sicht der Logotherapie nicht als Mechanismus zu verstehen, sondern der leidenden Person werden aktive Gestaltungskräfte kraft der Geistigkeit seiner Person zugesprochen.

3. Im sokratischen Dialog wird die Leidensfähigkeit des Patienten gestärkt, indem logotherapeutisch das „Wofür“ und „Wozu“ des Lebens erarbeitet wird. Das Argument, das hier eingesetzt wird, zielt vorerst auf den Satz von Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“.

Dies ist nach Frankl ein Leitmotiv der Logotherapie, das der Patient zögernd, aber doch als Motiv für sich akzeptieren kann.

4. Bei einem längeren Urlaub im Ausland beginnt der Patient seine ihn zwingende Problematik zu relativieren. Zu Hilfe kommt ihm das südliche Klima: er schläft zum ersten Mal nach Jahren wieder einige Tage ohne Alpträume.

Dieser Urlaub stärkt das logotherapeutische Argument persönlicher Selbstdistanzierung durch das Mittel der räumlichen und zeitlichen Distanzierung von seinem ansonsten in sich geschlossenen und zwanghaften Lebensstil und somit monotonen Lebens. Seine personale Selbstdistanzierung von seiner eigenen sinnentleerten Problemlage wird gestärkt. Seine latente Suizidalität geht zurück und eine konkrete Steigerung seines Lebensmutes und Selbstwertes nimmt spürbar zu.

Das hier dem Patienten bewusst gewordene sinnorientierte Argument bezieht sich auf die eigene personale Freiheit der Stellungnahme zur erlebten eigenen aussichtslosen Leidensstruktur.

Schließlich wird nach einer weiteren Motivationsphase von wieder in Gang gekommenen Beziehungen, in Form seines Besuches bei einem Freund in der Großstadt, dann bei den Eltern zuhause und dann wiederum in der Therapeutischen Gemeinschaft eine

5. Konfrontationsphase eingelegt, indem dem Patienten in mehreren Kurzgesprächen direkt die verbliebenen Möglichkeiten „vorgehalten“ werden. Der Patient muss nun dazu von seinem (inneren) „Selbst“, seiner Person Stellung beziehen und von seiner Freiheit im Stellungnehmen positiven Gebrauch machen.

Früher intakt erlebte Beziehungen (Familie, Freunde, Landschaften, etc.) lösen im Patienten zukunftsorientierte Hoffnungen aus, wieder ganz gesund zu werden und die Erfahrung der eigenen personalen Freiheit stärkt und sichert die Hoffnung machenden Gefühle, die durch die (Wieder-) Aufnahme früher intakter Beziehungen (wieder) erlebt wurden, für die gestaltende Person rückwirkend ab. Der Patient beginnt sich als „Täter seiner Taten“, als Subjekt zu erspüren und nicht als willenloses Objekt seines eigenen psychischen Chaos.

Der positive Gebrauch personaler Freiheit bezieht sich nicht nur auf die möglichen besseren objektiven Resultate, sondern vor allem auf das subjektive Erleben der eigenen Personalität. Die Selbsterfahrung personaler Freiheit ermöglicht die Grundlegung eines gesicherten Neuanfangs einer Neuorientierung auf Zukunft.

Der positive Gebrauch seiner Freiheit führt den Patienten im nächsten Schritt ohne direkte Anleitung dazu (probehalber) alle Medikamente (außer die Substitution) vorerst ganz abzusetzen.

Dies befreit und ermutigt den Patienten dazu, sich selbstständig eine Arbeit und Wohnung zu suchen. Zur Sicherung benötigt er noch einige Zeit die direkte Gesprächsunterstützung und andere Hilfe bei der Umsetzung seiner selbstgesetzten Ziele und Schritte. Dieses ist möglich geworden, nachdem eine vertrauensvolle und somit tragfähige personale dialogische Gesprächsstruktur grundgelegt ist. 

In einer ersten Zusammenfassung kann die als indirekte logotherapeutische Vorgehensweise auch als eine wertorientierte Motivationsphase bezeichnet werden, in der – trotz des Krankheitsbildes – die gesundgebliebenen Teile der Persönlichkeit angesprochen und aktiviert werden. Ausgangspunkt bleibt natürlich das fachärztlich begleitete und behandelte Krankheitsbild. Im Blickpunkt ist jedoch – mit Hilfe der verbliebenen und neu möglich gewordenen intakten Lebensperspektiven – der gesund gebliebene Aspekt der Persönlichkeit. Dies ist die geistige Person.

Diese ist es – auch im Geschehen der täglich erlebten Krankheit mit allen ihren Leiden und hoffnungslosen Zuständen – die „trotz allem“ (kraft der „Trotzmacht des Geistes“, Frankl) eine Perspektive in Richtung personaler Selbstbestimmung trotz fremdbestimmmender Krankheit ermöglicht.

Die Anerkennung der geistigen Person ermöglicht späterhin einen direkten und sinnzentrierten Zugang zur Problembewältigung.

In der bisher am Beispiel dargelegten Vorphase werden vorerst erlebnisorientiert objektiv wahrnehmbare Sinnstrukturen ins Blickfeld gerückt, d.h. Möglichkeiten phänomenologisch aufgezeigt. Das phänomenologische Aufzeigen orientiert sich an den konkreten Möglichkeiten des leidenden Menschen seinem Gesichtskreis des eigenen Wahr-Nehmens, vor allem der verbliebenen Möglichkeiten. Somit wird der leidende Mensch, sein „Angelegt-Sein“ auf die Wahrnehmbarkeit der eigenen Person – aus Anlass seiner Leidenszustände – voraussetzend, wiederhergestellt, um selbst Bewertungen fürs eigene Leben zu erlernen.

Werten lernen ermöglicht späterhin selbstbestimmend entscheiden zu lernen, zwischen den verschiedenen wertvollen Möglichkeiten. Richtige und stimmige Entscheidungen kann nur eine Person treffen, die sich des eigenen Grundwertes (Würde) bewusst wird und objektive Werte im Blick hat. Aus diesem Spannungsfeld von dem was „Ich einerseits bin“ als Mensch und eigentlich immer schon war in seiner Möglichkeit, und andrerseits durch die objektiv verbliebenen Möglichkeiten noch zu werden vermag, entwickelt sich von selbst von dem Grundmuster dieses Beziehungsgefüges her eine gesundheitsfördernde Spannung zwischen dem gesundheitlichen (Ist-)Zustand und dem was der leidende Mensch sein kann (Freiheit) und sein soll (Verantwortung).

Die konstruktive und konkrete Umsetzung dieser not-(ab)wendenden Spannung ermöglicht das eigene persönliche Gewissen, dem Viktor E. Frankl als Sinn-„Organ“ eine zentrale Stellung für eine neu medizinische Ethik zuspricht.

Das personale Gewissen ist jene (innere) Instanz, die die Person erst frei und unabhängig macht und einen direkten Dialog auf allen menschlichen – somit auch allen fachlichen Ebenen des Helfens – erst ermöglicht.

Das personale Gewissen unterscheidet sich diametral vom Gewissen der Psychoanalyse Freuds, der das Gewissen mit dem „Überich“ identifiziert, aber auch von den soziokulturellen Denkmustern. In dieser Sichtweise verfängt sich das personale Ich in den Netzwerken aktiver Fremdbestimmung.

Das Gewissen ist im Gegensatz dazu jene personale (Gegen-)Instanz, die den Einflüsterungen des Lustprinzips und (Drogen-) Konsums aus der Freiheit der eigenen Personalität, des inneren Selbst, wahrnehmungsorientiert und wertend entgegenzutreten vermag. Es ist auch die entscheidende Umsetzungsinstanz, die realitätsbezogen zu handeln vermag. „Ich handle“ aus meinem eigenen Gewissen, also „bin ich“ ganz Mensch.

Für Suchtkranke ist dieser Weg (vorerst) nicht direkt selbstbestimmend alleine zu gehen. Er braucht Hilfen von außen, die seine Selbstbestimmung wieder ermöglichen und dann aber wieder los-lassen können, um die Würde selbstbestimmenden Handelns nicht wieder einzuschränken.

Als konkrete Therapieelemente werden in der Therapieeinrichtung neben der (fach-) ärztlichen Behandlung eingesetzt:

  • Arbeit als Therapie; im besonderen Landwirtschaft/Gartenbau; Ausbauen und Renovieren; Hausmeisterei, Kochen, ...
  • Kreativität als Therapie: Malkurse, Keramik, Fotokurse,Theateraufführungen, Musikgruppe, ...
  • Sport als Therapie, insgesamt übers Jahr verteilt bis zu 15 Sportarten
  • Soziales Lernen in den verschiedenen Gruppen (Wohnen, Arbeiten, Freizeitgruppen, Gesprächsgruppen)
  • Spezielle psychotherapeutische Gesprächsgruppen auch aus konkreten Anlässen
  • Daneben werden Berufsorientierung, Weiterbildung, Persönlichkeitsbildung, familiäres Lernen in der Therapieeinrichtung unterstützt.

Weiterführende Literatur

  • Amann Peter, Enthält die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor E. Frankls eine Pädagogik? Diss. Universität Wien (1993)
  • Mader Johann Karl, Der Philosoph 1, Überreiter.
  • Mika Bernhard, Evaluation der stationären Langzeitbehandlung in der Drogentherapieeinrichtung SENOBIO in Schnifis/Vorarlberg. 1997 und 2000. (erhältlich unter: Senobio, A-6822 Schnifis, 12c)
  • Waibel Eva Maria, Erziehung zum Selbstwert, Auer-Verlag (1994)

Referenzen

  1. Fleisch, Haller, Heckmann (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe. Ein Lehrbuch, (1997), S.9
  2. Koppi Stefan, Wenn Sucht das Leben blockiert. (Seminarmitschrift v. 24.04.01, Feldkirch/Vorarlberg)
  3. Sahihi Anna, Designer-Drogen: Die neue Gefahr, Beltz-Verlag (1989) 
  4. Schaef Anne Wilson, Co-Abhängigkeit, Heyne-Sachbuch (1986)
  5. Lukas Elisabeth, Spannendes Leben, dtv (1996), S.166 ff.
  6. Frankl Viktor E., Der leidende Mensch, Huber Verlag (1984), S.169

Anschrift des Autors:

Dr. Peter Amann
Psychotherapeut und Lehrtherapeut
Sozialpädagogische Wohnstation
A-6822 Schnifis 12c

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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