Zu den Grenzen der Eigenverantwortung im Präventionszeitalter

Imago Hominis (2011); 18(3): 171-178
Giovanni Maio

Zusammenfassung

In einem Zeitalter, das geradezu ausschließlich auf Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie setzt, wird allzu leicht vergessen, dass Krankheiten nach wie vor nicht einfach logische Resultate von Fehlverhalten sind, sondern dass sie vielfältige Wurzeln haben, die nicht einfach kausalanalytisch berechenbar gemacht werden können. Sich so zu verhalten, dass man Gesundheitsschädigungen vermeidet, gehört zu den unbestreitbaren Pflichten eines jeden Menschen gegenüber anderen und vor allen Dingen gegenüber sich selbst. Der moderne Mensch verfällt aber zuweilen der Illusion, mit der Technik hätte er alle Krankheiten fest im Griff. Vergessen wird dabei, dass Krankheit jeden Menschen ganz gleich wie er gelebt hat, jederzeit ereilen kann. Politisch ist es sicher wünschenswert, wenn positive Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten geschaffen werden. Eine Bestrafung von Krankgewordenen, und sei dies nur in moralischer Form, würde das Ende einer humanen Medizin einläuten. Eine neue Moralisierung von Krankheit zu verhindern müsste Bestandteil einer Prävention mit humanem Antlitz sein.

Schlüsselwörter: Ethik der Prävention; Tugend der Barmherzigkeit; Entsolidarisierung; Ökonomisierung; Pflichten gegen sich selbst

Abstract

The ideology of modern medicine is driven by a belief in the countability and predictability of illness. Illness is understood as a logical result of a certain way of life or of a genetic constitution. Modern man has lost the insight that every man is always in danger of falling ill. There is no guarantee to stay in health. Everybody has a duty towards the others but above all towards himself to live in a healthy way, but it would be a fallback if people who fall ill will be sanctioned for their illness. Therefore it is argued that from an ethical point of view it is important to give political incentives to live in a healthy way. However, even in an era of prevention the idea of solidarity and charity has to be kept alive in modern medicine.

Keywords: ethics of prevention; virtue of charity; solidarity; commercialism; duty towards oneself


Prävention, Eigenverantwortung und Ethik

Der moderne Arzt macht heute ambivalente Erfahrungen. Auf der einen Seite erlebt er immer mehr Patienten mit einer Versorgungsmentalität, Patienten, die sich nicht als Leidende begreifen, sondern als Konsumenten, die von der Medizin verlangen, dass sie ihnen ihre Gesundheit wieder herstellt, ohne dass sie selbst etwas dafür tun wollen. Sie bringen oft ihren malträtierten Körper zur Reparatur und sehen Gesundheit als etwas an, was die Medizin ihnen schuldet.1 Auf der anderen Seite erlebt der moderne Arzt Patienten, von denen er weiß, dass sie einfach mit ihrem Leben überfordert sind und gerade deswegen so mit ihrem Alltag kämpfen müssen, dass ihnen kein Raum bleibt für die Wahrnehmung gesundheitsfördernder Optionen. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die moderne Medizin, und es ist Teil der ärztlichen Kunst, hier ein jeweils auf das Individuum angepasstes Verhalten zu finden. Weil hier eben keine Pauschalurteile weiterhelfen, muss das Verhältnis von Prävention, Eigenverantwortung und Ethik näher ausgeleuchtet werden.

Selbstachtung oder die Pflicht, sich nicht selbst zu schädigen

Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass es kein angemessener Umgang mit dem eigenen Körper sein kann, ihn wie eine fremde Substanz zu behandeln, die man nach Belieben verbrauchen und verschleißen kann, um ihn bei „Nichtfunktionieren“ dem Arzt zur Reparatur zu bringen. Der Körper ist Bestandteil der eigenen leibseelischen Identität, so dass ein nicht achtsamer Umgang mit dem eigenen Körper eine Missachtung der leibseelischen Einheit bedeutet und insofern von einem vernünftigen Menschen eigentlich nicht gewollt werden kann. Mehr noch: Wenn der Medizin die Aufgabe zugedacht wird, das zu reparieren, was man selbst mutwillig zerstört, stellt sich die Frage, ob denn die Medizin ihren Auftrag nur in der nachträglichen Reparatur des mutwillig Zerschlissenen beschränkt sehen darf. Versteht man Medizin als Dienst am Menschen, so wird sie es zu einer ihrer Kernaufgaben machen müssen, Menschen dazu zu verhelfen, sich frühzeitig um ihre Gesundheit zu kümmern, anstatt sich auf die „Reparatur“ zu beschränken.

Der Mensch ist es sich selbst schuldig, ja seine Selbstachtung erfordert es, dass er den eigenen Körper nicht total instrumentalisiert, sondern ihn als Grundlage seines eigenen Selbst betrachtet. Wir sehen heute die gesundheitsbewusste Lebensweise als Pflicht gegenüber dem Staat, als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft, als Pflicht gegenüber der Sozialversicherung. Immanuel Kant hat das Gebot, sich nicht selbst zu schädigen, als eine Pflicht gegen sich selbst bezeichnet. Kant sprach davon, dass der Mensch Pflichten gegen sich selbst hat, wenn er sich als Selbstzweck, als Mensch mit einer Würde betrachtet. So hat der Mensch die Pflicht gegen sich selbst, so Kant, seine Talente nicht rosten zu lassen, und er hat auch eine Pflicht gegen sich selbst, sich „nicht zu mutilieren“, sich nicht selbst zu verstümmeln, sich nicht selbst zu schädigen; ja ganz ausdrücklich sagt Kant, die letzte Pflicht gegen uns selbst besteht darin, uns nicht selbst zu töten. Kant ist hier in vollem Umfang zuzustimmen. Diese Pflichten gegen sich selbst, die zum Ausdruck bringen, dass der Mensch auch gegenüber sich selbst letzten Endes unverfügbar ist, diese Pflichten müssen heute neu in Erinnerung gerufen werden. So ist es eben eine Form der Selbstachtung, wenn der Mensch Acht gibt auf seine Gesundheit.

Rahmenbedingungen und Ausgrenzung

Auf der anderen Seite muss bedacht werden, dass nur derjenige tatsächlich gesundheitsbewusst leben kann, der auch die sozialen und emotionalen Ressourcen dazu hat. Viele Menschen müssen erst befähigt werden, gesundheitsbewusst zu leben und sie brauchen erst einmal die Freiräume und die Möglichkeiten, sich entsprechend zu verhalten. Menschen, die so eingezwängt sind in ihren Alltag und keine Ressourcen haben, über die vitalen Bedürfnisse hinaus zu denken, diese Menschen brauchen nicht einen moralischen Appell oder gar eine Drohung von Sanktionen, wenn sie nicht mehr Gemüse essen und mehr Dauerlauf betreiben, sondern sie brauchen Rahmenbedingungen, die ihnen ein solches Verhalten erst ermöglichen.

Das ist die zweischneidige Seite des Appells zu gesundheitsbewusstem Verhalten: Je mehr appelliert und zugleich sanktioniert wird, desto mehr werden gerade die Schichten unserer Gesellschaft weiter privilegiert, die ohnehin privilegiert sind.2 Es sind eben die Mittelschichten, die eher befähigt sind, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, weil diese Schichten es schon in ihrer Kindheit gelernt haben, aber auch weil es sich diese Schichten leisten können, gesundheitsbewusst zu leben; sie können ihr Leben selbstbestimmter führen als zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die als Kassiererin versucht, ihre zwei Kinder durchzubringen. Dieser Mutter anzudrohen, dass sie höhere Krankenkassenbeiträge zahlen müsste, wenn sie nicht nachweise, dass sie sich gesundheitsbewusst verhalte, wäre nicht nur inhuman, sondern ungerecht, weil die Sanktionierung nicht die richtige Reaktion auf die stille Not dieser Mutter wäre. Hier müsste man erst realisieren, dass es systemische Gründe sind, die der Frau es erschweren, an ihre Gesundheit zu denken, weil sie radikal überfordert ist und eben hier erst einmal eine soziale Entlastung erfahren müsste, um selbstbestimmt leben zu können. Man müsste erst erkennen, dass diese Frau nicht nur Gefahr läuft, ihre Gesundheit zu verlieren, sondern dass sie Gefahr läuft, in einer Gesellschaft, die immer mehr zur Ausgrenzung neigt, komplett unter die Räder zu kommen.

Hilfe zur Verantwortungsfähigkeit

Was bedeutet das für die Frage nach der Prävention? Gesundheitsfördendes Verhalten ist wichtig und muss unterstützt werden, aber es bedarf eines differenzierten Umgangs mit dem Präventionsappell, weil es starke Menschen gibt, die Verantwortung von sich aus übernehmen können, und es auf der anderen Seite auch viele Menschen gibt, denen man erst helfen muss, damit sie befähigt werden, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Daher würde ich als erstes Desiderat die Hilfe zur Verantwortungsfähigkeit, Hilfe zur Befähigung formulieren. Das heißt eben, dass die Politik die Verantwortung für die Gesundheit nicht einfach schematisch und undifferenziert an den Einzelnen abgeben kann. Die Gesellschaft bzw. die sozialen Systeme tragen selbst Verantwortung dafür, Menschen zu helfen, verantwortungsfähig zu werden.

Vermeidung von Diskriminierung

Mein zweites Desiderat lautet: Vermeidung einer Diskriminierung. Diese Diskriminierung stellt sich ein durch eine einseitige Sichtweise auf gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen. Es ist ein weit verbreiteter Topos, zum Beispiel Fast Food oder das Freizeitverhalten im Sinne des exzessiven Fernsehkonsums oder die Fettleibigkeit als bedrohliche krankheitsfördernde Ursachen zu kritisieren.3 Dabei wird oft der Stab gebrochen über die Menschen, die sich so verhalten. Vergessen wird hierbei, dass alle drei genannten Merkmale in den unterprivilegierten Gruppen unserer Gesellschaft viel häufiger anzutreffen sind als in den Mittelschichten.4 Es ist weit bekannt, dass es eine Korrelation gibt zwischen sozialer Privilegiertheit und Gesundheitsstatus eines Menschen. Aber ist das wirklich so einfach? So stellt sich die drängende Frage: Warum kritisieren wir nicht genauso das gesundheitsgefährdende Verhalten von Workaholics? Warum kritisieren wir nicht das Verhalten der privilegierten Schichten, die zum Beispiel durch die Wahl eines hektischen stressreichen Lebens ihre Gesundheit wohl in ähnlicher Weise gefährden wie der Fast-Food-Konsument? Diese aufgeworfene Frage soll nicht als eine Bagatellisierung oder gar Entschuldigung des gesundheitsgefährdenden Verhaltens unterprivilegierter Schichten gedeutet werden. Aber es ist doch offenkundig, dass hinter den öffentlichen Kritiken nicht nur Statistiken stecken, sondern dahinter verbergen sich vielmehr verdeckte Werturteile. Dahinter verbergen sich verdeckte Idealvorstellungen von Menschsein. Heute leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der sich Menschen über ihre Leistungsfähigkeit definieren, und alle, die nicht in dieses Raster passen, fallen heraus. Daher fördert unsere Gesellschaft diejenigen, die leisten können und schließt diejenigen aus, die nicht derart leistungsfähig sind. Damit aber versperrt die Gesellschaft denjenigen, die diese Leistungsfähigkeit nicht von alleine erreichen können, den Zugang zu Privilegien und sie belohnt diejenigen, die Leistung erbringen, selbst dann, wenn diese Leistung auf Kosten ihrer Gesundheit geht. Wir messen hier also mit zweierlei Maß.

Motivation statt Bestrafung

Dies zeigt die Schwierigkeit auf, die wir vorfinden, wenn wir Krankheiten als Resultate menschlicher Handlungen deuten wollen. Dann müssen wir nicht nur die ohnehin negativ besetzten Handlungen in die Waagschale werfen, sondern wir müssten dann auch die Handlungen negativ bewerten, die ansonsten hoch im Kurs stehen, aber dennoch gesundheitsgefährdend sind. Dazu sind aber viele Menschen nicht bereit. Daher plädiere ich dafür, die Suche nach den Schuldigen nicht weiter in den Mittelpunkt zu rücken. Versteht man Medizin als eine Urform einer sozialen Praxis,5 sollte es nicht primär um die Frage gehen, wer Schuld trägt an einer Krankheit, weil das der falsche Zugang ist zum Thema Krankheit. Es ist zu begrüßen, wenn die Politik positive Anreize gibt, damit Bürger wissen, dass es sich für sie lohnt, gesundheitsbewusst zu leben, aber Menschen dürfen nicht in der Annahme leben, dass man sie nach ihrer Schuld fragen wird, wenn sie einmal krank geworden sein sollten. Es ist wichtig danach zu fragen, wie man es schaffen kann, dass möglichst wenig Menschen krank werden, und hierfür muss man an den sozialen Verhältnissen genauso ansetzen wie an der Motivation der Einzelnen zum gesunden Lebensstil. Die sozialen Verhältnisse darf man nicht einfach wegleugnen, und die Motivation zum individuellen gesunden Lebensstil muss nicht die Köpfe, sondern vielmehr die Herzen der Menschen erreichen. Mit einer moralisierenden Grundeinstellung im Sinne des „Du sollst bitte schön gesünder leben!“ wird man nicht viel erreichen. Es bedarf vielmehr kluger Strategien, die die Menschen in ihrer jeweils spezifischen Lebenswelt abholt; es bedarf Strategien, die bei diesen Menschen das Gefühl der Freude am Gesundsein und an der gesunden Lebensweise hervorbringen. Das ist vielleicht ein hoher Anspruch, aber ohne die positive Besetzung des Gesundseins und des gesundheitsfördernden Verhaltens wird man nicht erfolgreich sein können.

Vermeidung einer neuen Moralisierung von Krankheit

Und so komme ich zu meinem dritten Desiderat: Vermeidung einer neuen Moralisierung von Krankheit.
Gesundheit und Krankheit erscheinen uns immer weniger als Geschicke, als Fügungen, sondern immer mehr als Resultate, als Produkte unserer eigenen Handlungen, ja als Erzeugnisse unseres eigenen Willens. Nicht nur medizinische Ratgeber, sondern zunehmend auch Praxen und Kliniken lassen Gesundheit als das erscheinen, was man mit genügend Mühe und Investition auch garantiert erreichen kann. Gesundheit wird immer mehr zur machbaren und planbaren Leistung. Gesundheit als das, was einen auszeichnet, denn wenn man gesund ist, hat man sicher viel dafür getan. Gesundheit ist im modernen Denken somit nicht einfach ein „datum“, sondern nur noch ein „factum“, nichts, was einem gegeben ist, sondern nur das, was gemacht werden kann. Der gesunde Körper wird damit nicht als glückliches Schicksal gesehen, sondern als Qualifikationsmerkmal, als Zeichen dafür, dass man hart genug an sich gearbeitet hat.6 Im Gegenzug – und das ist noch tragischer – wird der Krankgewordene sich zumindest unterschwellig der Frage ausgesetzt sehen, warum er denn krank geworden sei und ob er sich denn nicht gesund ernährt hätte oder etwa die Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch genommen hätte usw.

All dies ist Zeichen dafür, dass die Eigenverantwortung und die Selbstsorge zu den entscheidenden Werten im Umgang mit dem Krankheitsrisiko geworden sind. So schleicht sich ein Denken ein, wonach der eigene Körper wie ein Kapital behandelt wird, für dessen „Wertenwicklung“ man selbst verantwortlich ist und damit eben auch zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn sein Marktwert rapide fällt. So lässt sich sagen, dass wir gegenwärtig in einer Selbstverantwortungsgesellschaft leben, ohne dass darüber nachgedacht worden wäre, ob denn diese Leitkategorie der Selbstverantwortung tatsächlich als Schema für die gesamte Gesellschaft überhaupt taugen kann. Unstrittig ist es, die Befähigung zur Selbstverantwortung zu stärken, aber es erscheint problematisch, die Selbstverantwortung derart zum Leitgedanken zu erheben, dass uns am Ende der Krankgewordene als Schuldiger erscheint. Denn mit einer solchen Haltung des Richtens wird man der Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit des kranken Menschen nicht gerecht.

Zu begrüßen ist in jedem Fall die Einstellung, die das Krankwerden nicht einfachhin als Schicksal betrachtet, sondern den Handlungsradius des Menschen ernst nimmt und eine Chance darin sieht, durch das eigene Verhalten etwas zur Verhinderung der Krankheit beitragen zu können. Zu kritisieren ist jedoch die Totalisierung dieses Gedankens, die Vorstellung also, dass Gesundheit und Krankheit nunmehr nur noch als Resultat der eigenen Versäumnisse oder Anstrengungen zu betrachten seien. Problematisch ist hier die Grundhaltung, dass alles, auch die eigene Gesundheit komplett machbar ist und dass das Krankwerden überhaupt kein Schicksal, sondern ausschließlich Resultat, Ergebnis, Produkt ist.

Deterministisches Verständnis der modernen Medizin

Die Medizin suggeriert, dass der Ausbruch einer Krankheit im Grunde nicht nur vorhersagbar, sondern auch vorherbestimmbar, weil grundsätzlich durch eigenes Handeln verhinderbar wäre, wenn man nur alle Fakten präsent hätte und alle krankheitsauslösenden Faktoren vermeiden würde. Auf diese Weise folgt die moderne Medizin einem deterministischen Verständnis, weil sie alle Erscheinungen der Natur lediglich als Resultat einer Zweckmittelreaktion betrachtet, die grundsätzlich messbar und berechenbar sind. Das ist die Wissenschaftsgläubigkeit der modernen Medizin - wie des modernen Menschen. Diese Tendenz der modernen Medizin hat nicht nur mit ihrem mechanistischen Welt- und Menschverständnis zu tun, sondern sie ist letzten Endes der verzweifelte Versuch, das zu verdrängen, was aber im Grunde jeder ahnt: Man kann zwar vorbeugend viel tun, aber der Ausbruch einer Krankheit kann jeden Menschen jederzeit ereilen, und davor ist kein Mensch zu keiner Zeit wirklich gefeit. Michael Hampe spricht in diesem Zusammenhang überzeugend von einem verzweifelten Versuch einer „Machtlosigkeitsvertuschung“,7 die sich hinter dieser Betonung der Berechenbarkeit und Machbarkeit verbirgt. Die Betonung des Machbaren und die Plädoyers für das Kontrollierbare, die Suche nach Wirkzusammenhängen sind zuweilen Ausdruck einer Flucht in das Rechnen, einer Flucht in die Kausalitäten, in die Zahlen, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man gegen den Zufall, gegen die Spontaneität, gegen das Schicksal und letztlich gegen die Kontingenz des Lebens trotz alledem immer ein Stück machtlos bleiben wird.

Bedingungen einer Prävention mit humanem Antlitz

Ich betone dies deswegen, weil es offenkundig wird, wie wirkmächtig der Machbarkeitsglaube unserer Zeit ist.8 Der moderne Mensch erwartet, dass alles glatt geht, wenn er sich nur richtig verhält. Und insgeheim glauben viele Menschen, dass die Krankheit immer nur die anderen trifft. Statt dieser exzessiven Erwartungshaltung an das eigene Leben, an das eigene Glück, erscheint es notwendiger denn je, den Menschen neu beizubringen, etwas wiederzuentdecken, was heute vollkommen verlustig gegangen ist, nämlich die Grundhaltung der Dankbarkeit. Und genau hier könnte eine neue Form von Gesundheitserziehung und Prävention mit humanem Antlitz starten. Der moderne Mensch müsste sich vor Augen führen, dass es eben nicht selbstverständlich ist, wenn er gesund sein darf. Wenn er es aber ist, wäre dies eben Grund zur Dankbarkeit. Aus diesem Grundgefühl der Dankbarkeit heraus wird der Mensch die Gesundheit viel mehr zu schätzen lernen, und wenn er sie zu schätzen gelernt hat, wird er sie automatisch wie einen Schatz zu hüten versuchen. Von ganz entscheidender Bedeutung ist in diesem Kontext die absolute Ablehnung einer Moralisierung. Gesundheit ist nicht nur Leistung, sondern am Ende auch Gnade, und Krankheit sollte nicht wieder mit dem Begriff der Schuld und Strafe neu in Verbindung gebracht werden. Gesundheit und Leistung, Krankheit und Schuld, das sind sehr vertraute Assoziationen, die durch eine unreflektierte und undifferenzierte Präventionsdebatte fatalerweise wiederbelebt und neu verstärkt werden. Beide Assoziationen stellen aber ein problematisches Denken dar, weil sie beide in Richtung einer grundlegenden Entsolidarisierung weisen. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, Gegenkonzeptionen zu entfalten, um dem Trend der Entsolidarisierung entgegenzuwirken.

Krankheit ist auch Schicksal

Eine Gegenkonzeption besteht darin, die Krankheit nicht als bloßes Resultat eigenen Verhaltens zu deuten, sondern anzuerkennen, dass Krankwerden in gewissem Sinn auch Schicksal ist. Schicksal, weil die Krankheit den Menschen komplett erschüttert, Schicksal aber auch, weil die Krankheit sich nicht in der Weise vorhersagen und berechnen lässt, wie es das naturwissenschaftlich-ökonomische Credo der Gegenwart glaubhaft machen möchte.

Wenn ich hier von Schicksal spreche, meine ich nicht, dass man die Krankheit eben hinzunehmen hätte oder dass wir uns nicht vorsorgend gegen sie schützen sollten. Im Gegenteil: Die Anerkennung des Schicksals ist vielmehr verbunden mit dem Sich-zur-Wehr-Setzen; man kann das Schicksal anerkennen und gerade deswegen den Radius, den der Mensch innerhalb seiner Schicksalhaftigkeit noch hat, so weit wie möglich zu erweitern suchen. Die Vergegenwärtigung des Schicksals impliziert nicht das Sich-Fügen-Müssen, sondern impliziert das Bekämpfen, allerdings mit einer anderen Grundhaltung. Das Bekämpfen nicht in der Gewissheit und der Erwartung, dass, wenn man nur genug kämpft, man am Ende als Sieger über die Krankheit hervorgeht. Darin liegt die Gefahr einer solchen Kausalvorstellung. Wenn man davon ausgeht, dass es allein im eigenen Handeln liegt, ob man krank wird oder nicht, dann ist die Krankheit, wenn sie auftritt, ein Makel, ein Zeichen dafür, dass man nicht genügend getan hat. Auf diese Weise würde man einer (neuen) Moralisierung der Krankheit Vorschub leisten.

An diesem Punkt kann die Implementierung des Gedankens des Schicksals von Bedeutung sein. Das Kämpfen gegen die Krankheit im Bewusstsein dessen, dass das Gesundbleiben und das Gesundwerden nicht bloß Resultat, sondern immer zugleich auch ein Geschick ist, diese Vorstellung bedeutet eine Entlastung für den Menschen.

Im Gegenzug wird die gedankliche Verbannung des Schicksals als das, was alle Menschen in gleicher Weise verbindet, ein Schritt sein in das Aufrechnen von Verantwortung für den eigenen Zustand, der eben dann kein Los oder Geschick, sondern nur noch selbst gemacht wäre.

Wenn Krankheit kein Schicksal mehr ist, dann ist Krankheit auch nicht mehr das, was jeden Menschen jederzeit ereilen kann. Im Gegenzug dazu wäre die Betrachtung der Krankheit als Schicksal das, was als allgemeines Lebensrisiko alle Menschen tragen. Schicksal hat also nicht nur etwas Bedrohliches, sondern es hat zugleich auch etwas Entlastendes und sogar etwas Verbindendes. Romano Guardini hat das treffend in folgende Worte gegossen: „Schicksal ist das Persönlichste, worin ich ganz allein, unvertretbar und unveränderbar stehe und doch wieder das, was mich mit Allen zusammenbindet“.9 Das Wissen um ein Schicksal, das alle Menschen gemeinsam tragen, ist zugleich auch Trost und Beruhigung.

Eine moderne Gesellschaft, die das Schicksal als Denkkategorie aus seinem Bewusstsein verdrängen möchte, verdrängt zugleich das Gefühl des Verbundenseins aller Menschen untereinander und entlässt den Menschen in die Vereinzelung, in eine Welt des Aufrechnens.

Die Balance zu finden zwischen ausreichender Eigenverantwortlichkeit und drohender Entsolidarisierung ist schwierig, aber der Trend der modernen Medizin ist gefährlich, weil er mit großer Entschiedenheit nur in die eine Richtung steuert und alles andere vollkommen ausblendet. Eine Gesellschaft ohne Schicksal ist eine Gesellschaft ohne Gnade. Eine Gesellschaft, die kein Schicksal duldet, ist eine unbarmherzige Gesellschaft, gerade weil sie der irrigen Annahme folgte, dass sie über alles Wissen verfügte und alle Entstehungsbedingungen vorhersehen und planen könne.

Es geht also nicht um eine Großzügigkeit im Umgang mit den eigenen Unterlassungen, sondern um den Gestus der Sicherheit, mit der der moderne Mensch glaubt zu wissen, wie man – auf jeden Fall – gesund bleiben und wie man Krankheiten – auf jeden Fall – vermeiden könne. Es geht letzten Endes um die Zurückweisung eines Glaubens an die absolute Machbarkeit von Gesundheit und Krankheit.

Gesundheit lässt sich nicht fordern

Zusammengefasst lässt sich sagen: Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Präventionskampagne startet, um Gesundheit zu fördern, oder ob man sie startet, um Gesundheit zu fordern.10 Der Grat zwischen fördern und fordern ist nicht nur semantisch sehr schmal. Eine Gesundheit fordernde Gesellschaft wird die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft weiter vertiefen. Die Privilegierten haben entsprechende Ressourcen, um sich so zu verhalten, wie es dem Ideal einer auf Leistung ausgerichteten Gesundheitsgesellschaft entspricht. Aber die ohnehin benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft werden aufgrund ihrer viel geringeren Ressourcen noch weiter benachteiligt, ja gar abgehängt. Die Politik kann sich aus diesen Gründen nicht einfach darauf zurückziehen, die Verantwortung für die Gesundheit einfachhin dem Individuum ganz zu übertragen. Das Individuum trägt zwar unter bestimmen Voraussetzungen und bis zu einem bestimmten Grad Verantwortung für seine Gesundheit, aber es trägt sie eben nicht allein. Wenn die Politik die Verantwortung nun gerne an den Einzelnen abgeben würde, wäre das eine Individualisierung der Risiken, die den Einzelnen letztlich überfordert und ihn mit der schwer wiegenden Schuldfrage belastet.

Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass auch die Medizin selbst in reflektierter Weise mit dem ubiquitären Ruf nach Prävention umgeht. Gerade die gegenwärtige Ära der Ökonomisierung, Individualisierung und Entsolidarisierung ist für den sozialen Charakter der Medizin eine große Herausforderung, weil zu befürchten ist, dass die Medizin sich dadurch grundlegend ändert und sich von ihrem genuin sozialen Auftrag entfernt. Umso notwendiger erscheint es, dass die Medizin sich gerade heute auf ihre Kernaufgabe rückbesinnt. Sie kann nicht als Medizin alle Aufgaben der Gesundheitsförderung übernehmen, weil die Gesundheitsförderung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Und vor allem muss die Medizin sich darauf besinnen, dass, selbst wenn der selbstverschuldete Kranke von Politik und Versicherungen sanktioniert wird, der Arzt immer noch Helfer bleiben sollte.

Der Arzt wird sich dem Kranken in bedingungsloser Weise zuwenden, gerade weil er das Helfen als Kernauftrag hat. Ab dem Moment, da der Arzt das Helfen ersetzt durch das Richten, ab diesem Moment verstößt der Arzt gegen eine seiner grundlegendsten Tugenden, und das ist die Tugend der Barmherzigkeit.11

Daher bleibt es zwar eine zentrale Aufgabe der Medizin, Patienten dabei zu helfen, zu einer gesundheitsfördernden Lebensweise zu gelangen, aber gleichzeitig das Bewusstsein zu bewahren, dass der Arzt zu allererst und zentral Helfer zu sein hat und nicht zum Richter umdefiniert werden darf.

Referenzen

  1. Maio G., Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin, Schattauer, Stuttgart (2011)
  2. Schmidt B., Der kleine Unterschied: Gesundheit fördern – und fordern, in: Paul B. & Schmidt-Semisch H. (Hrsg.), Risiko Gesundheit, VS-Verlag für Gesundheit, Wiesbaden (2010), S. 23-38
  3. Schmidt B., siehe Ref. 2
  4. hierzu näher Schmidt B., siehe Ref. 2
  5. Maio G., siehe Ref. 1
  6. Böhme G., Leibsein als Aufgabe: Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht von Gernot Böhme, Die Graue Edition, Zell-Unterentersbach (2003)
  7. Hampe M., Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, wjs-Verlag, Berlin (2006), S. 91
  8. Maio G. (Hrsg.), Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens und medizintechnischer Gestaltbarkeit, Freiburg, Herder, (2011)
  9. Guardini R., Freiheit, Gnade, Schicksal, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz (1994), S. 155
  10. Schmidt B., siehe Ref. 2
  11. Maio G., siehe Ref 1

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M. A.
 Lehrstuhl für Medizinethik
 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
 Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
 Stefan-Meier-Straße 26, D-79104 Freiburg
 maio(at)ethik.uni-freiburg.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: