Kommentar zum Fall

Imago Hominis (1997); 4(4): 285-288
Walter Rella

Der geschilderte Fall greift ein Problem auf, welches in einer Zeit, da die Öffentlichkeit und Medienwelt scheinbar die Norm des Menschlichen bestimmt, auch in zunehmendem Maße die Persönlichkeit des Arztes und das Verhältnis zu seinem Patienten in ihr Urteil hineinnimmt.

Um den Fall aufzuschlüsseln, halte ich es für zweckmäßig, die Geschichte in mehrere Aspekte zu gliedern. Zuerst wird die Haltung des Patienten und der Standpunkt der Angehörigen getrennt behandelt. Sodann möchte ich die Beziehungspaare Arzt-Patient, Patient-Ehepartner sowie Ehepartner-Arzt analysieren. Zuletzt soll eine Gesamtschau allfällige Konsequenzen und Lösungswege vorstellen.

Die Haltung des Patienten

Die 79-jährige Frau, welche offenbar schon eine längere Leidensgeschichte hinter sich hat und einen ausgezehrten Allgemeinzustand aufweist, wird mit einer zusätzlichen bedrohlichen Krankheit konfrontiert: Seit etwa 1 Jahr spürt sie in ihrer linken Brust einen größer werdenden Knoten. Möglicherweise hat sie vor dem neuen Leiden bewußt die Augen verschlossen. Denn der Tumor wies bei der Aufnahme ins Krankenhaus ein bereits fortgeschrittenes Stadium auf und hatte zu schmerzen begonnen.

Es läßt sich vermuten, daß die Patientin schon mit einem pessimistischen Gefühl das Krankenhaus aufsuchte. Dort mußte sie wegen ihrer Vorerkrankungen und wegen ihres schlechten AZ über 2 Wochen auf die Operation warten, was die Psyche der Frau zweifellos nochmals belastete und ihre Vorahnungen bestärkte. Nach dem Eingriff erholte sie sich nur langsam. Ihre schmerzende Wunde wollte nicht heilen und zudem wurde sie in der Nacht von Atemnot gequält. Es waren nahezu 4 Wochen seit der Brustamputation vergangen, als die noch immer geschwächte Frau im Badezimmer zu Sturz kommt und einen Oberschenkelbruch erleidet. Dieses Ereignis muß ihr erneut ihre Hilflosigkeit und ihr Ausgeliefertsein an die Mächte eines unbarmherzigen Geschicks vor Augen geführt haben. Sie wird in ein anderes Krankenhaus überführt und unter neuerlicher Narkose operiert. Trotz kräftigender Bluttransfusionen kann sie sich nun nicht mehr aus ihrem Bett erheben. Einen weiteren Transfer auf eine interne Abteilung mochte sie eher als Abschiebung empfunden haben. Sie sinkt in einen Zustand zunehmender Apathie und ist nicht bereit, die intensiven Bemühungen des Pflegepersonals zu unterstützen. Sie äußert mehrmals den Wunsch, man möge die Behandlungen abbrechen und sie sterben lassen. Das Schicksal nimmt indes weiter seinen tragischen Verlauf. Sie erfährt von einer lebensbedrohlichen Darmblutung. Sie fühlt ihr Bewußtsein schwinden und bittet die Ärzte, sie doch in Frieden sterben zu lassen. Ein letztes Mal läßt sie die Behandlungen der Ärzte über sich ergehen. Diese prolongieren ihr Leiden noch für einige Tage, bis sie die Lebenskräfte schließlich ganz verlassen.

Die Haltung der Angehörigen

Der Ehemann, welcher vermutlich die Hauptbezugsperson für die Patientin darstellt, tritt in der Geschichte erst auf, nachdem der Zustand seiner Frau kaum noch hoffen läßt. Offenbar waren seine ursprünglichen Erwartungen sehr viel optimistischer gewesen als es den Tatsachen entsprach. Genährt von Berichten in der Laienpresse und gestützt auf allgemeine Statistiken war er wohl von Anfang an der Meinung gewesen, die Ärzte müßten bei kompetenter Anwendung ihrer Kunst in der Lage sein, den Brustkrebs seiner Frau zu heilen. Umso größer wird seine Enttäuschung, als er zusehen muß, wie seine Gattin von Tag zu Tag schwächer wird und außerdem den Eindruck gewinnt, daß diese Verschlechterung die Ärzte nicht zu mehr Aktivität anspornt, sondern sie im Gegenteil zögern, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen. In einer Art Torschlußpanik bewirft er das Behandlungsteam mit Vorhaltungen über ihre Passivität und Unfähigkeit. Ja er droht sogar, ihr Verhalten öffentlich zu brandmarken. In dieser Stimmung vermag ihn selbst ein eingehendes Aufklärungsgespräch nicht mehr zu überzeugen.

Die Beziehung Arzt-Patient

Das Verhältnis zwischen den behandelnden Ärzten im Krankenhaus und ihrer Patientin entwickelte sich grundsätzlich vertrauensvoll, wenngleich zweifellos von Anfang an die Patientin ihrem „Leiden“ und das Behandlungsteam seinem „Fall“ mit unterschiedlichen Erwartungen gegenüberstanden. Solche Differenzen gehören indes zur alltäglichen Erfahrung eines Arzt-Patienten-Verhältnisses. Man kann davon ausgehen, daß von seiten der Ärzte die pessimistischen Erwartungen und Signale mangelnden Lebenswillens mit Zusprüchen wie „Wir versuchen alles“ und „Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“ beantwortet wurden. Erst als sich die befürchteten Komplikationen einstellen und die Patientin spürt, daß ihre Ärzte immer weniger Herr der Lage sind, driftet das Verhältnis wieder auseinander. Während sich die Kranke zum Sterben bereitmacht, um Abbruch der Behandlung bittet und die Nahrungsaufnahme verweigert, wollen die Ärzte in dem Wissen, daß ein solcher Zustand nicht irreversibel sein muß, den Funken Lebenshoffnung weiter schüren und verlegen die Patientin auf eine interne Abteilung, um eine interkurrente Bronchitis und eine manifeste cardiale Dekompensation zu behandeln. Schließlich müssen sie aber einsehen, daß all ihre Bemühungen nicht zuletzt am erloschenen Lebenswillen ihrer Patientin scheitern. In dieser sensiblen Phase trifft sie die verständnislose Kritik des Ehepartners umso härter. Auf ein derartiges Ereignis reagieren viele Ärzte mit einer noch stärkeren Empathie für ihren Patienten. Mehr als die medizinischen Maßnahmen selbst bestimmen von nun an die Präsenz und die Worte des Arztes bzw. der Schwestern die Qualität der Behandlung. Unter diesem Aspekt sind auch die letzten Handlungen des medizinischen Personals zu sehen.

Die Beziehung Patient-Ehepartner

Obwohl diese Beziehung im geschilderten Fall nicht explizit zur Sprache kommt, ist sie doch für dessen Entwicklung von Bedeutung. Es gibt mehrere Anzeichen, daß dieses Partnerverhältnis nicht das beste war. Der schon ca. 1 Jahr vor der Klinikaufnahme bemerkte Knoten in der Brust hätte bei einem vertrauensvollen Umgang der Patientin mit ihrem Gatten und einem fürsorglichen Verhältnis desselben zu seiner Frau schon früher zu einer Behandlungsinitiative führen können. Größere Fürsorglichkeit hätte den Gatten wohl auch veranlaßt, von Anfang an das Gespräch mit den behandelnden Ärzten seiner Ehefrau zu suchen, um sich ein Bild von ihrem Zustand und ihren Chancen zu machen. Ein solches Gespräch hatte offenbar nicht stattgefunden. Stattdessen begnügte sich der Mann mit oberflächlichen, allgemein kolportierten Meinungen über Methoden und Chancen der Brustkrebsbehandlung. Vielleicht hätte er auch, wie es öfter bei nahegehenden Ereignissen geschieht, die ins Auge springende Gefahr verdrängt und sich unkritischem Optimismus hingegeben. Ein Bruch in der Partnerbeziehung ist jedenfalls auch daraus ersichtlich, daß die Vorwürfe des Gatten gegenüber den Ärzten mit der Patientin zweifellos nicht abgesprochen waren, hatte doch die Frau ihre Ärzte um das Gegenteil dessen gebeten, was der Gemahl von ihnen verlangte. In der Ansicht wird man nicht fehlgehen, daß sich der Ehemann zeitlebens kaum viel Sorgen um seine Frau gemacht hat und nun am Ende des gemeinsamen Weges, aus welchem Grund immer, theatralische Töne anschlug. Die ärztliche Position geriet solcherart zwischen die Fronten und irritierte doch ein wenig den Behandlungsablauf, auch wenn sich die Ärzte in erster Linie ihrer Kunst und ihrem Ethos verpflichtet wußten.

Die Beziehung Arzt-Angehöriger bzw. Medien

Diese Beziehung tritt offenbar erst 2 Monate nach Behandlungsbeginn in ein schildernswertes Stadium. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Entscheidungen bereits gefallen, und es konnte nur noch im nachhinein aufgearbeitet werden, was an Möglichkeiten genutzt oder allenfalls versäumt worden war. Wie schon angedeutet, hatte es der Ehegatte anscheinend nicht der Mühe Wert gefunden, früher mit den behandelnden Ärzten über die Erkrankung seiner Frau zu sprechen. Aber auch an die Klinikärzte richtet sich die Frage, ob sie nicht von sich aus schon früher das Gespräch mit der Bezugsperson ihrer Patientin hätten suchen sollen. Gewiß besteht grundsätzliche Schweigepflicht und der Behandlungsvertrag schließt die Einbindung Angehöriger keinesfalls ein. Es hätte jedoch die Möglichkeit bestanden, die Patientin zu fragen, ob sie die Einweihung ihres Gatten in das Krankheitsgeschehen gestatte. Das wäre besonders dann zweckmäßig gewesen, wenn die Patientin selbst infolge der Schwere ihrer Erkrankung nicht mehr im Vollbesitz ihrer Urteilskraft gestanden wäre oder wenn es angemessen erschienen wäre, dem Kranken selbst nicht die volle Wahrheit kundzutun. Es gilt jedenfalls als geboten, daß die unmittelbar Beteiligten den Behandlungsplan nachvollziehen können.

In der erwähnten Auseinandersetzung drohte der Gatte mit der Veröffentlichung seiner Beschwerden in einer Zeitung und äußerte gleich die Vorurteile, welche er dort deponieren wollte: Man habe entgegen den technischen Möglichkeiten seine Frau nicht ausreichend behandelt, weil sie zu alt sei, bzw. weil die Behandlung zuviel gekostet hätte. Das sind sehr öffentlichkeitswirksame Argumente. Die Frage des Alters und der Behandlungskosten nimmt in der heutigen Diskussion (Vgl. „Was darf Gesundheit kosten?“, Podiumsdiskussion in der Wiener Hofburg, 23.10.1996) durchaus einen wichtigen Platz ein. Selbst wenn im gegenständlichen Fall derlei Argumente nicht wirklich eine Rolle spielten, kann es schwierig werden, eine einmal derart hinausposaunte Meinung wieder zu entkräften. Der Spitalsträger und die Ärzte fürchteten deshalb zurecht, auf solche Weise in die Schlagzeilen zu kommen. So ist es auch zu verstehen, daß die Ärzte anläßlich der kritischen Blutung der Patientin gegen ihren Willen und trotz minimaler Lebenserwartung noch 3 Blutkonserven opferten, um nicht den Anschein zu erwecken, daß nicht alles versucht worden wäre.

Zusammenfassend können wir aus dem erörterten Fall folgende Schlüsse ziehen:

Das Verhältnis der Ärzte zur Patientin kann als korrekt bezeichnet werden. Sie wußten um den Schweregrad ihrer Erkrankung und überschätzten ihn wahrscheinlich sogar. Die Aufklärungspflicht der Ärzte besteht in einem solchen Fall darin, dem Patienten Hoffnung aufzuzeigen und seinen Lebenswillen zu stärken. Diesem Gebot ist das Behandlungsteam gewiß nachgekommen und es wurde aus Rücksicht auf den eingeengten Willen der Patientin das Notwendige getan. Es gibt allerdings auch Stimmen, welche der Meinung sind, daß die Nahrungsverweigerung als Vorbote des ersehnten Todes nicht durch parenterale Flüssigkeitssubstitution hätte durchbrochen werden dürfen (Vgl. Waldhäusl W. , Imago Hominis III/3 (1996)). Der Pferdefuß der Geschichte liegt im Verhältnis Arzt-Angehöriger begründet. Es ist mir keine Rechtsklausel bekannt, welche eine Auskunftspflicht des behandelnden Arztes gegenüber einem Angehörigen begründet. In der täglichen Praxis wird allerdings das Interesse eines nahen Angehörigen am Schicksal des Patienten nicht als Neugierde bewertet. Ja der Arzt wird solche Auskunft, zumal dem Ehepartner gegenüber, bereitwillig erteilen, kann er sich doch dadurch manche Problematik von der Seele reden, welche so mit dem Patienten selbst nicht ausgesprochen werden kann. Im Falle des drohenden Ablebens wird es sogar zur moralischen Pflicht, die nahen Angehörigen zu verständigen, um ihnen die Gelegenheit zu einem letzten Liebesdienst oder zur Besprechung wichtiger Angelegenheiten zu geben.

Im gegebenen Fall äußerte der Ehemann offensichtlich kein aufrichtiges Interesse am Schicksal seiner Frau. Sonst hätte er schon früher den Kontakt mit den behandelnden Ärzten gesucht. Es bleibt zu fragen, ob in einem solchen Fall die Ärzte verpflichtet sein könnten, Ehepartner oder Kinder über den Zustand des Patienten aufzuklären, sie sozusagen ins Spital zu zitieren, selbst dann, wenn keiner von ihnen eine Initiative ergreift. Durch eine rechtzeitige Information hätte jedenfalls die Konfrontation vermieden, bzw. hätten die Argumente von vornherein entkräftet werden können.

Gerade in einer Zeit, in welcher Patientenschicksale freimütig – aus welchem Grund immer – in der Öffentlichkeit diskutiert werden und das Handeln des Arztes bis zu einem gewissen Grad immer ein Handeln vor einer aufmerksamen Öffentlichkeit darstellt, ist es notwendig, die gebotene Schweigepflicht mit den Interessen von Angehörigen in Einklang zu bringen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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