Autonomie des Patienten – Ethik der Fürsorge

Imago Hominis (1998); 5(4): 253-259
Günther Pöltner

Zusammenfassung

Individualisierung der Lebensgestaltung, Gefühl der Bevormundung, Schutz vor medizinischen Machbarkeiten sind u.a. Gründe für den Wandel des Arzt-Patientenverhältnisses vom ‘Paternalismus’ zur ‘Patientenautonomie’. Diese wird jedoch meist individualistisch verstanden: Infolgedessen wird Autonomie-Anspruch zu Heteronomie-Zumutung, zum Druckmittel für erwünschte medizinische Machbarkeiten und führt zu Entsolidarisierung. Voraussetzungen des individualistischen Autonomiebegriffs sind u.a. die Gleichsetzung von Abhängigkeit mit Unfreiheit und die Verdrängung des dem Menschen Unverfüglichen. Der Situation von Not und Hilfe entspricht eine Ethik der Fürsorge, integriert in eine Ethik der umfassenden Daseinsannahme.

Schlüsselwörter: Autonomie, Fürsorgeethik, Paternalismus, Arzt-Patient Beziehung

Abstract

Life style individualization, a feeling of non-emancipation, protection against medical practicabilities and many others are the reasons for the change in the medical doctor/patient relationship from “paternalism” to “patient autonomy”. The latter is, however, mostly individualistically understood and therefore the “autonomy demand” becomes a “heteronomy imputation” and a means of pressure to attain the desired medical practicabilities which leads to non-solidarity. Suppositions for the individualistical autonomy conception are, among others, the equivalency of dependency with lack of freedom and the repression of that which is non-disposable for a human being. The situation of need and helping suits well an ethic of care and alleviation, integrated into an ethic of existential acceptance.

Keywords: Autonomy, ethic of care, paternalism, medical doctor/patient relationship


I. Gründe für den Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses

Der Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses wird als Übergang vom Paternalismus zur Patientenautonomie, vom Ethos der (väterlichen) Fürsorge zum Ethos der Patientenautonomie1 beschrieben. Als paternalistisch gilt ein ärztliches Handeln, „das sich ohne und gegebenenfalls auch gegen die Einwilligung des Kranken an dessen bestem Interesse orientiert.2 Galt traditionellerweise in den Heil- und Pflegeberufen der Grundsatz ‚salus aegroti suprema lex’, so soll jetzt in erster Linie gelten: ‚voluntas aegroti suprema lex’. Der Wandel beinhaltet eine Veränderung der Legitimationsbasis und des Sinnzieles ärztlichen Handelns. Dieses ist nicht primär durch das Wohl, sondern durch die Zustimmung des Patienten legitimiert. Die unmittelbare Folge der Primärstellung der Patientenautonomie ist die hohe Bedeutung der Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Behandlungseinwilligung.

Es lassen sich mehrere Gründe für den Wandel vom Paternalismus zur Patientenautonomie namhaft machen: (1) Die Auflösung patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen hat eine „zunehmende Privatisierung und Individualisierung“ der Lebensgestaltung, vor allem in den Industriegesellschaften westlichen Musters im Gefolge.3 (2) Im Zuge dieser Individualisierung wird Fürsorge als eine Bevormundung und Entscheidung über die Köpfe der Betroffenen hinweg empfunden. Ärztliche Fürsorge sieht sich dem Ideologieverdacht ausgesetzt. Nach A. Pieper hat „die Diskussion der Patientenautonomie deutlich gemacht, daß sich die Attitüde des Paternalismus in einer Gesellschaft überlebt hat, die patrtiarchalische Strukturen nicht mehr als selbstverständliche Normen hinnimmt, sondern als Formen eines Androzentrismus durchschaut, der unter dem Deckmantel wohlwollender Fürsorglichkeit Machtinteressen verbirgt, die in der Verfügungsgewalt über andere befriedigt werden.“4 In dieser extremen Sicht ist Fürsorge gleichbedeutend mit Ignorierung und Verletzung von Autonomieansprüchen: Das Fürsorgeprinzip gerät in Konflikt mit dem Autonomieprinzip. (3) Autonomie wird als Schutz gegen medizinische Machbarkeiten erfahren. Der Einsatz medizinischer Mittel kann als sinnlos empfunden werden (z.B. Lebensverlängerung um jeden Preis). Das Machbare dient nicht automatisch dem Wohl eines Menschen – eine Tatsache, die gerade angesichts des medizinisch noch Möglichen besonders schwer wiegt und die Forderung nach Respektierung anders lautender Patientenentscheidungen verständlich macht.

Das Problem paternalistischen Handelns liegt einerseits in der Schwierigkeit, das für den Patienten Beste wissen zu können, und andererseits in der Gefahr einer Subjektvergessenheit: Man vergißt, es mit einem kranken Mit-Menschen und nicht mit einem ‚Behandlungsobjekt’ zu tun zu haben. Die Grenze zwischen Hilfsbereitschaft, echter Fürsorge einerseits und (unbewußter) Manipulation andererseits ist nicht leicht einzuhalten, und die Spannung zwischen Heilungsauftrag und Forschungsinteresse kann rasch zugunsten des letzteren abgebaut werden. 

II. Individualistisches Autonomieverständnis

1. Der genuine Sinn von Autonomie

Dem genuinen Wortsinn nach bedeutet Autonomie Selbstgesetzgebung, d.h. die Fähigkeit des Menschen, sich selbst dazu zu bestimmen, das sittlich Gesollte und nicht das bloß naturhaft Erstrebte zu tun. Autonom ist, wer das als gut Erkannte tut und in diesem Sinne Urheber seiner Handlungen ist. Versteht man unter Gewissen die Fähigkeit der praktischen Vernunft, unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte und Umstände das hier und jetzt moralisch richtige Handeln zu bestimmen, dann heißt autonom handeln so viel wie nach dem Gewissen handeln. Und das kann gegebenenfalls heißen, in stellvertretender Entscheidung fürsorglich handeln. Fürsorge bedeutet eo ipso nicht schon Einschränkung der Patientenautonomie, so daß sie von vornherein als deren Verletzung rechtfertigungspflichtig wäre. Fürsorge und recht verstandene Autonomie bilden keinen Gegensatz, sondern entsprechen einander.

2. Die individualistische Umdeutung des Autonomiebegriffs und seine Folgen

Die öffentliche Debatte um die Patientenautonomie versteht allerdings unter Autonomie meist etwas anderes.5 Sie steht im Zeichen einer individualistischen Umdeutung dieses Begriffs in Richtung alleiniger Selbstverfügung und Freiheit von sittlicher Selbstverpflichtung. Sie verwechselt sittlich begründete Selbstbestimmung mit Wunscherfüllung. Utilitaristische Positionen sind hier eine Stütze. Für den Präferenzutilitarismus ist nicht die Existenz eines Hilfsbedürftigen, sondern dessen Interessenlage von moralischer Relevanz. Es sind die Interessen der Beteiligten gleich zu werten und nach dem obersten Prinzip der Maximierung von Lust- und Wunschbefriedigung und Minimierung von Unlust zu berücksichtigen. Angesichts der Schwierigkeit der Beurteilung von Fremdwünschen ist nach dieser Position jede Entscheidung zu akzeptieren, die rational, d.h. auf der Basis ausreichender Information getroffen wird.

Eine individualistisch verstandene Autonomie hat schwerwiegende medizin-ethische Folgen: (1) Der Autonomie-Anspruch schlägt um in Heteronomie-Zumutung. Die im Heil- und Pflegeberuf Tätigen werden zu Ausführungsorganen von Patientenwünschen. Wie aber jedes Handeln unterliegt auch die Realisierung von Interessen Dritter sittlichen Maßstäben. Die Forderung nach Respektierung von Patienteninteressen darf nicht auf ein Handeln gegen das Gewissen Dritter verpflichten. Vor der Berücksichtigung von Interessen geht es um deren Beurteilung nach ethischen Gesichtspunkten (Vorrang der ‚Ethisierung’ vor der Befriedigung von Wünschen). (2) Autonomie als Schutzmittel vor ungewünschten medizinischen Machbarkeiten wird zum Druckmittel für erwünschte medizinische Machbarkeiten. ‚Autonome’ Wünsche und Machbarkeitsangebote bilden eine willkommene Ergänzung.6 (3) Der Autonomie-Anspruch führt zu Entsolidarisierung und damit schließlich zu einer Überforderung des Patienten. Er untergräbt die Vertrauensbasis des Arzt-Patient-Verhältnisses. Die Respektierung der Patientenautonomie wird zum Deckmantel der Flucht in Verantwortungslosigkeit – so wie sich Machtinteressen als Paternalismus maskieren können. Geraten Rat und Hilfe unter den Verdacht von Bevormundung und unzulässiger Beeinflussung, muß der Verzicht darauf zur willkommenen Entlastung werden. Das ärztliche Aufklärungsgespräch – Voraussetzung für sinnvolle Patientenentscheidungen – wird – nicht zuletzt wegen befürchteter rechtlicher Konsequenzen – zur Totalaufklärung im Sinne bloßer Sachinformation. Sie läßt den Patienten mit den lebenspraktischen Folgen alleine, statt mit der sachlichen Mitteilung eine existenzielle Entscheidungshilfe zu verbinden, die der Patient mit Recht erwarten darf. Rückhaltlose Offenheit wird zu Rücksichtslosigkeit, die den kranken Mitmenschen als Wesen bloßer Zweckrationalität betrachtet.

III. Arzt-Patienten-Verhältnis und individualistisches Autonomieverständnis

1. Die Situation von Not und Hilfe als Grund der Fürsorge

Beim Arzt-Patienten-Verhältniss handelt es sich um eine ganz bestimmte Form des Miteinanderseins von Menschen: um die Situation von Not und Hilfe. Wie jede Handlungssituation besitzt auch diese von sich aus einen Anrufcharakter, d.h. hier: die Not zu beheben bzw. so gut es geht zu lindern. Quelle des Sollens ist schlicht und einfach die Existenz des in Not geratenen und hilfsbedürftigen Mitmenschen. Das ärztliche und pflegerische Handeln ist die Antwort auf diese Ursituation. Es entspringt ihr und bleibt an sie trotz aller Technisierung der modernen Medizin zurückgebunden. Sein Ethos ist von seinem Ursprung her ein Ethos der Fürsorge. 

Dementsprechend ist das Arzt-Patienten-Verhältnis eine besondere Form eines Vertrauensverhältnisses. Indem der Patient auf eine seiner Notsituation entsprechende Hilfe baut, vertraut er (1) auf die sachliche Kompetenz des Arztes, d.h. auf eine Behandlung lege artis, und (2) auf seine mitmenschliche Kompetenz. Er vertraut, daß ihm als kranken Mitmenschen geholfen wird, d.h. daß der Arzt ein guter Arzt ist. – Nur wenn diesem zweifachen Vertrauen entsprochen wird – wozu umgekehrt der Patient ebenfalls beizutragen hat – besteht die Möglichkeit, das für den Patienten Beste zu finden. Die sachliche und mitmenschliche Kompetenz des Arztes ist zu unterscheiden, nicht aber zu trennen, und muß je nach der Situation verschieden gewichtet werden. (Die Palette kann von der bloßen Serviceleistung im Sinne eines Vertragsmodells bis zu langjähriger Begleitung reichen.)

Das Besondere des Arzt-Patienten-Verhältnisses liegt in einer Verbindung von Gleichrangigkeit und Ungleichheit. Es herrscht Gleichrangigkeit, weil Arzt und Patient einander als Mitmenschen gegenüberstehen. Der Patient ist in erster Linie nicht ein Krankheitsfall, sondern ein – wenn auch kranker – Mitmensch, dem als solchem Anerkenntnis geschuldet wird. Diese Anerkenntnis gebührt demnach unabhängig vom Lebensalter, faktischen Zustand und von augenblicklich verfügbaren Fähigkeiten des Patienten. Gleichzeitig herrscht Ungleichheit, weil es sich um eine Abhängigkeitssituation der Hilfe und Schwäche handelt. Ihr entspricht insbesondere das Mitleid i.S. von fürsorgender Anteilnahme und Mittragen – was nicht mit Bemitleiden, d.i. jener Sentimentalität zu verwechseln ist, die im Augenblick gerührt ist, aber keine Taten setzt und nicht mit-tragen will. Das individualistische Autonomieverständnis mißinterpretiert die Ungleichheit in der Vormeinung, Hilfeleistung sei primär Fremdbestimmung, die das Recht der Selbstverfügung über den eigenen Leib beschneidet.

Die Grundsituation von Not und Hilfe bestimmt das Ziel des ärztlichen Handelns: es ist das für den Patienten Beste (salus aegroti suprema lex). Das Problem, die Selbstbestimmung des Patienten zum obersten Grundsatz zu erheben (voluntas suprema lex), liegt bekanntlich im Begriff der Patientenkompetenz, d.i. in der Frage, wo die Grenzen des Selbstbestimmungsvermögens liegen, wie sie erkannt werden können und in welchem Ausmaß sie zu berück-sichtigen sind. Die situationsgerechte Bestimmung dieser Grenze ist ein je neu zu lösendes Problem medizinischer Praxis. Dazu kommt die Nichtanwendbarkeit des Selbstbestimmungsgrundsatzes im Falle einer notwendigen stellvertretenden Entscheidung (Ungeborene, Unmündige, Zustimmungsunfähige). Das Beharren auf der Selbstverfügung als oberstem Grundsatz wäre gegebenenfalls eine Mißachtung der Schwäche, des Nicht-Entscheiden-könnens oder -wollens des Patienten. Nicht immer ist das Entscheidenmüssen das für den Patienten Beste. Hier bedarf es der gewissenhaften Selbstprüfung im Hinblick auf das dem Patienten Zumutbare.

Inhalt sowie Art und Weise der Ermittlung des Patientenwohls sind naturgemäß jeweils verschieden. Im Normalfall wird es das Gespräch mit dem Betroffenen sein. Beide Partner werden sich – jeder auf seine Weise – auf den gemeinsamen Weg begeben müssen. Der Arzt wird dies tun in echter Anteilnahme unter Einschluß der notwendigen therapeutischen Distanz, der Patient in der Bereitschaft, sich raten und helfen zu lassen, beides in einem Klima gelebten Vertrauens. (Auch der Arzt muß vertrauen dürfen, daß man ihm glaubt).7 Bei alledem dürfen die typischen Schwierigkeiten bei der Findung des Patientenwohls nicht übergangen werden.

Es ist der Einfluß der Krankheit auf die Grundverfassung des Patienten zu berücksichtigen. Auch gibt es so etwas wie Selbsttäuschung und existenzielle Verirrung, einen Unterschied zwischen Gesprochenem und in Wahrheit Gemeintem, also verschwiegene Wünsche. Es kann zu einer Diskrepanz zwischen faktisch geäußertem Eigeninteresse und wahrem Eigeninteresse kommen. Diese Diskrepanz im Sinne eines individualistischen Autonomieverständnisses ignorieren, wäre nicht Hilfe für den Patienten, sondern Beihilfe zu dessen Selbstschädigung. In solchen Situationen muß die Feinfühligkeit und das Gewissen des Arztes entscheiden. Eine selbstschädigende Gewissensentscheidung des Patienten ist zu respektieren, wenn sie nicht Dritte zwingt, gegen ihr Gewissen zu handeln. – Patientenverfügungen sind zu beachten, doch können sie nur relative Bedeutung haben. Eines ist es, sich in gesunden Tagen Entscheidungen in Krankheitssituationen vorzustellen, ein anderes ist es, in der eigenen Krankheitssituation im Ernst Entscheidungen treffen zu müssen. Es gehört zur Achtung der Hilfsbedürftigkeit des Patienten, gegebenenfalls dessen vertrauensvoll geäußerten Wunsch, der Arzt möge das für ihn Beste wählen, nicht vorschnell als Flucht vor Eigenverantwortung zu disqualifizieren. Es bleibt zu fragen, ob es ernsthaft Erkrankten jedesmal um die selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart und um die Selbstverfügung über ihr Leben geht, oder ob sie im Ernst nicht etwas anderes erwarten.

2. Voraussetzungen des individualistischen Autonomieverständnisses

a) Gleichsetzung von Abhängigkeit mit Unfreiheit

Die individualistische Umdeutung von Autonomie samt ihren medizinisch-ethischen Folgen wurzelt in einem primär negativen Autonomiebegriff. Dieser wiederum ist mit dem für die neuzeitliche Wissenschaft bestimmenden Gedanken der Beherrschbarkeit der Natur verbunden. Für die Medizin hat das die viel diskutierte Ausblendung des Menschen als des Subjekts der Krankheit sowie die – inzwischen freilich fragwürdig gewordene – Dominanz eines funktionalistischen Krankheits- und Gesundheitsverständnisses zur Folge gehabt. Die Berufung auf (individualistische) Patientenautonomie ist gekoppelt mit der Überzeugung, das menschliche Leben sei eine Sache der Planung und Verfügung. Sie nivelliert (bewußt oder unbewußt) den Unterschied von Handeln und Herstellen. Handeln gilt als eine besondere Form des Machens. Das Unverfügbare ist verfügbar zu machen – und wo das nicht geht, müssen wenigstens die Umstände seines Eintritts machbar sein.

Wird Autonomie primär negativ konzipiert, d.h. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in ausschließender Disjunktion einander gegenübergestellt, wird die Beherrschbarkeit zum be-stimmenden Erkenntnisinteresse. Der Disjunktion entspricht die Gleichsetzung von Abhängigkeit mit Unfreiheit (Fremdbestimmung) und von Unabhängigkeit mit Freiheit (Selbstbestimmung). Auf diese Weise kommt es aber zu einer inhumanen Dialektik.

Steht nämlich die Selbstbestimmung in einem bloß negativen Verhältnis zur Fremdbestimmung, ist diese eo ipso mit Unfreiheit identisch und wird von vornherein zur Beschränkung von Selbstbestimmung. Jede Form von Andersheit wird konsequenterweise zur Quelle unfreimachender Bedrohung, die ausgeschaltet werden muß. Das andere erscheint primär nicht als das positiv andere, sondern als das Negative, das im Zeichen der zu behauptenden Selbstbestimmung beherrscht werden muß. Beherrscht ist etwas in dem Maße, als es gemacht (rekonstruiert) werden kann. Damit wird nicht nur die Natur zum Gegenstand der Beherrschung, sondern auch das zwischenmenschliche Verhältnis. Steigende Naturbeherrschung wird mit Freiheitszuwachs und Zuwachs an Humanität parallelisiert. Freiheit begreift sich als Selbstbehauptung und damit primär als Kampf gegen Abhängigkeit. 

Dabei wird freilich übersehen, daß Abhängigkeit von vornherein keineswegs mit Unfreiheit identisch ist. Abhängigkeit von der Natur bedeutet in erster Linie nicht Einschränkung, sondern positive Ermöglichung von Freiheit. Die ursprüngliche Form der Abhängigkeit ist denn auch die freigebende Abhängigkeit. Schließlich verdanken wir ihr es, daß wir überhaupt da sein können. Wäre uns nicht ein Mindestmaß an freigebender Abhängigkeit zuteil geworden, hätten wir niemals in unsere Existenz treten können. Dasein ist wesenhaft ein Dasein in ursprünglich positiver Abhängigkeit und Bezogenheit. Nicht die Befreiung aus Abhängigkeiten ist das Primäre, sondern das Freiwerden in ihnen.

b) Verdrängung des Unverfüglichen

Der negative Autonomiebegriff deutet jedes ‚Nicht’ in ein prinzipielles ‚Noch-nicht’ um: Das sich der menschlichen Verfügungsmacht Entgegenstellende, das Unverfügbare wird als etwas prinzipiell Verfügbares angesehen. Das vom Menschen Nicht-Gemachte und das Nicht-Beherrschbare wird von vornherein als das prinzipiell Machbare und das Noch-nicht-Beherrschte verstanden. (Es wird die Hypothek auf den Fortschritt der Wissenschaft aufge-nommen.) Diese Umdeutung nivelliert die für das menschliche Miteinanderleben und insbe-sondere für die Ursituation von Not und Hilfe höchst bedeutsame Differenz zwischen dem, was der Mensch kann und dem, was er prinzipiell nicht kann, was gleichwohl aber ein unauslöschliches Moment seiner Existenz ausmacht. Keiner kann sich selbst sein Dasein geben, vielmehr verdankt er es anderen, keiner entkommt seinem Sterben und seinem Tod. Das negative Autonomieverständnis macht blind für das Geheimnis des Anfangs und des Todes, in das jeder von uns hineingenommen ist.

Wörter wie Schicksal oder Fügung geraten zugunsten der Utopie eines leidfreien Lebens außer Kurs. Sie gehören nicht mehr zum Sprachschatz, und mit dem Wort wird die Sache verdrängt. Schicksalslosigkeit wird umstandslos zum Kriterium von Lebensqualität. Das erlaubt es aber nicht mehr, wesentliche Grunddimensionen menschlichen Lebens ernstzunehmen und auch anzunehmen – das Sterben-Müssen und den Tod, der genauso unverfügbar ist, wie es unser Dasein-Können selbst ist. Das kann Auswirkungen auf das Selbstverständnis ärztlichen Handelns haben und zur Verkehrung seines Sinnzieles führen: statt in Heilung und Linderung wird das Ziel im Kampf gegen die Übermacht des Todes erblickt. Hier ist ethische Wachsamkeit geboten: Wenn der Tod zum Leben gehört (media vita in morte sumus), kann eine Medizin, deren oberstes Gebot der Kampf gegen den Tod ist, leicht zum Kampf gegen das Leben – gegen das ohnmächtige oder vom Tode bedrohte Leben werden.

Die Dialektik des individualistischen Autonomiebegriffs gilt es zu durchschauen, andernfalls verliert eine ärztliche Ethik ihren Boden unter den Füßen. Es ist jeweils zu prüfen, welcher Vorbegriff von Autonomie leitend ist, wenn auf sie rekurriert wird. Der ethischen Verunsicherung, die aus der Individualisierung der Wert- und Lebensanschauung erwächst, kann mit einer ebensolchen Individualisierung der Patientenentscheidung kaum beigekommen werden. Die dadurch gewonnene Entlastung des Arztes vom Entscheidungsdruck ist ethisch gesehen ein Schein – weil dieser seiner Fürsorgepflicht dadurch nicht enthoben wird und um die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit des vom Patienten Gewollten nicht herumkommt.

IV. Ärztliche Ethik als Ethik der umfassenden Daseinsannahme

Zwecks Vermeidung des individualistischen Mißverständnisses von Autonomie wäre es ratsam, die Alternative von Paternalismus – Patientenautonomie aufzuheben und von einer ärztlichen Ethik fürsorgender Anteilnahme zu reden. Individualisierung führt zur Entsolidarisierung. Was geschieht mit denen, die selbst nicht entscheiden können – zeitweise nicht oder auf Dauer nicht? Hier geht es um anteilnehmende Fürsorge. Die ethische Herausforderung der Krankheit liegt letztlich in der Konfrontation mit den Erscheinungsformen des dem Menschen Unverfüglichen. Jede Krankheit ist ein Bote des Todes – nicht erst eine solche mit tödlichem Ausgang. Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß sich niemand eine Erkrankung oder Behinderung wünscht. Allein was tun, wenn etwas Nicht-Gewolltes dennoch eintritt, wenn das Unabwendbare da ist? Wie sich zu dem Unverfügbaren verhalten und dabei als Mensch bestehen können?

Eine Ethik ärztlichen Handelns wäre in eine Ethik umfassender Daseins-Annahme einzubinden. Der Titel, den unsere europäische Tradition hierfür bereit hält, lautet: Gelassenheit. Sie ist die Haltung, die dem Unverfügbaren entgegengebracht wird, und zwar dergestalt, daß das Unabänderlliche, schicksalhaft Betreffende als sinnvolle Grenze des eigenen Handelns bejaht und in dieses aufgenommen wird. Freilich: Was wir nicht ändern können, geschieht – ob wir das wollen oder nicht. Aber eben deshalb sollen wir uns zu ihm in ein lebbares Verhältnis setzen und es annehmen. Denn ohne solche Annahme können wir uns selbst nicht annehmen, ohne Bejahung unserer selbst in allen Dimensionen, die unser Leben bestimmen, gibt es kein gutes Leben.

Gelassenheit ist nicht mit fatalistischer Resignation zu verwechseln, vielmehr gehört zu ihr ein gesunder Realismus. Wenn nämlich das Unabänderliche aktiv hingenommen werden soll, so muß es als Unabänderliches manifest werden. Das aber bedeutet, die Grenzen des sinnvoll Änderbaren zu ermitteln, das Mögliche nicht unversucht lassen. Freilich: Die Ermittlung der Grenzen muß von der Bereitschaft getragen sein, sie dann auch anzunehmen. Gelassenheit ist deshalb weder Fanatismus, der meint, Sinn sei herstellbar, noch Zynismus, der mit Untätigkeit antwortet und grinsend im vermeintlichen Besserwissen zuschaut. Gewiß gibt es Fälle allerschwerster Behinderung, schrecklichen Leidens. Aber aus Extremfällen lassen sich grundsätzlich keine moralischen Regeln ableiten. Was zu tun ist, muß vielmehr immer im Einzelfall beurteilt werden – nach bestem Wissen und Gewissen. Wer meint, Extremfälle ließen Regeln gewinnen, hebt in Wahrheit schrittweise die Ethik auf. 

Das Ja-Sagen zu sich selbst ist eingebunden und getragen vom Ja-Sagen der anderen. Eines bedingt das andere in Wechselseitigkeit. Jeder erwacht an dem zuerst gesprochenen Ja der anderen zu sich selbst. Es ist dies die Urform der Fürsorge. Ihr verdankt er seine Existenz. Deshalb ist die Ethik fürsorgender Anteilnahme die adäquate Antwort in der Situation von Not und Hilfe.

Referenzen

  1. U. Eibach, Vom Paternalismus zur Autonomie des Patienten? Medizinische Ethik im Spannungsfeld zwischen einer Ethik der Fürsorge und einer Ethik der Autonomie, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 43 (1997), 215 - 231. 
  2. H.P. Wolff, Arzt und Patient, in: (H.M. Sass (Hg.). Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 184 - 211, 201.
  3. Eibach a.a.O. 215.
  4. Art. ‘Autonomie’ (Lexikon der Bioethik).
  5. Ähnliches läßt sich zuweilen auch bei der Berufung auf das Gewissen beobachten, wenn etwa die Tötung auf Verlangen mit dem Hinweis auf das Gewissen des Verlangenden gefordert wird.
  6. „Das Autonomieprinzip gerät selten mit den Interessen von Medizinern in Konflikt, solange sich die Bedürfnisse der Patienten mit den Angeboten der Medizin decken. Neue therapeutische Angebote finden immer auch Interessengruppen. Im Zuge der Individualisierung der Lebensauffassungen rechtfertigt man fast alle neuen Angebote mit dem Argument, daß man diese Verfahren ... den interessierten Menschen nicht vorenthalten dürfe, zumal ja niemand genötigt werde, sie in Anspruch zu nehmen.“ (Eibach, a.a.O. 217).
  7. Auf nähere Differenzierungen muß hier verzichtet werden. Siehe Verf., Ethische Probleme ärztlicher Aufklärung, in: Imago Hominis 3/96, 173 - 178.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Günther Pöltner
Institut für Philosophie Wien
Grund- und Integrationswissenschaftliche Fakultät
Universitätsstraße 7
A-1010 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: