Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2000); 7(4): 308-310
Friedrich Kummer

Hier geht es um eine 60-jährige Frau, die an einem metastasierenden Mammakarzinom leidet. Sie weiß um die Natur ihrer Erkrankung im wesentlichen Bescheid, dennoch scheint die Welt für sie nicht aus den Fugen zu geraten: Sie fühlt sich nämlich geborgen, und aus dieser Haltung erwächst die Hoffnung auf Heilung.

Die Gründe dafür sind durchsichtig:

  1. Sie hat den Erfolg der medikamentösen Therapie schon einmal an sich erfahren,
  2. sie rechnet fest mit einem weiteren Erfolg, auch wenn nunmehr die Nebenwirkungen der aggressiveren Therapie belastend sind,
  3. sie erfährt ihre Krankheit als etwas, das ihr anvertraut ist und sie unter allen Umständen bewältigen muss, um „noch etwas vom Leben zu haben“, in welchem ihr vieles vorenthalten worden war (keine Kinder, kein Glück in der Ehe, der Tod der Eltern).

Das alles führt dazu, dass sie im onkologischen Betreuungsteam eine tiefe menschliche Partnerschaft sucht und zu finden scheint. Selbst als sich ihre Situation subjektiv und objektiv verschlechtert, gerät ihr Weltbild nach außen nicht ins Wanken, weil sie sich unbewusst jede Verunsicherung verbietet. Die Auseinandersetzung mit einem nahen Tod scheut sie, weil sie dann mit etwas allein wäre, das vom Therapeutenteam nicht mehr gesteuert werden kann.

Hier tritt das Problem der Aufklärungspflicht zutage:

Muss der Therapeut Klarheit schaffen? Ist er zur Weiterführung einer eingreifenden Therapie überhaupt berechtigt, wenn diese fruchtlos bleiben muss, selbst im palliativen Ansatz? Gibt es Ausnahmen von der Aufklärungspflicht?

Tatsächlich stösst diese an ihre Grenzen, wo die Unaufgeklärtheit, der faktische Irrtum der Betroffenen keinen Schaden mit sich bringt. Es kann sogar eine Situation eintreten, bei der eine Aufklärung ein Oktroy, eine alleinige Handlung zum Selbstschutz des Therapeuten und damit einen Schaden für die Patienten bedeuten kann. Bei unserer Patientin trifft einiges zu: Sie hat eine vertraute Freundin, aber sonst keinen Anhang im Leben (sieht man vom alkoholkranken Mann ab), sie muss keine materiellen Dinge „ordnen“, durch ihren Tod entstehen keine zivilrechtlichen Probleme. Sie selbst hat eine große Neigung/Fähigkeit zur Verdrängung, gespeist durch eine Hoffnung, die ungewöhnlich tragfähig zu sein scheint. Sie wird nämlich gestützt – siehe oben! – durch gute Erfahrungen mit der Therapie und mit dem Behandlungsteam. Bezüglich der Wahrhaftigkeit und dem Respekt vor der Autonomie der Patientin wäre korrekt, sie aus ihrem realitätsfremden „System“ herauszureissen. Es wäre aber barbarisch, dies zu tun, ohne mehr als nur „best supportive care“ anbieten zu können. Dies scheint aber in dem Fall ziemlich aussichtslos. Die Einbeziehung des Gatten ist problematisch, da er wohl voll informiert worden ist, aber zu keiner weiteren, heiklen Involvierung herangezogen werden kann. Vor der Einbeziehung der Freundin scheuen die Ärzte zurecht zurück, da es einer Außenstehenden prinzipiell nicht zugemutet werden kann, hier als Surrogat für die (fehlende) Familie einzuspringen. Unter den gegebenen Umständen könnte wohl nur ein charismatischer Kommunikator das enorme Einfühlungsvermögen aufbringen, welches notwendig wäre, um von der Patientin die Einwilligung zur „best supportive care“ zu erlangen.

Dem allen stehen die glückhafte Vertrauensseligkeit (auch wenn „blind“), die offensichtlich nicht als Einschränkung empfundene Spitalsatmosphäre und die unbeugsame Hoffnung auf Heilung gegenüber.

Das therapeutische Dilemma

Dieses Dilemma bewegt sich zwischen der Überlegung des Behandlungsabbruchs, der Weiterführung der volldosierten Therapie und diversen Kompromissen wie Dosisreduktion, Scheinbehandlung und Behandlungspause.

Ein Behandlungsabbruch liefe auf Änderung des gesamten, notdürftig zurecht gezimmerten Weltbildes der Patientin hinaus. Diesbezügliche Andeutungen der Therapeuten werden missverstanden und als „Aufgaben“ oder Versuch der „Abschiebung“ interpretiert. Die blinde Hoffnung der Patientin gerät in akute Gefahr, sie müsste einer ebenso blinden Verzweiflung weichen. Eine mögliche Dispension von der Behandlung wäre durch die Verlegung in ein Hospiz möglich – die Voraussetzungen wären erfüllt, wenn die Patientin mit der Einstellung der Chemotherapie einverstanden wäre, besteht doch die segensreiche Einrichtung der Hospize darin, den heimatlos gewordenen (ausbehandelten) Krebspatienten eine flexible Zuflucht zu gewähren, nicht aber durch Weiterführung der Tumortherapie. Nun ist im konkreten Fall im Spital selbst eine hospizartige Situation gegeben, die von den Behandlern zunehmend ambivalent betrachtet wird, von der Patientin aber ängstlich eingefordert wird.

Die Weiterbehandlung mit voller Dosis ist sehr problematisch, selbst wenn eine entfernte Möglichkeit des Ansprechens der Knochenmetastasen bestünde. Die Andeutung einer rapiden Verschlechterung lässt auf eine zunehmende Unverträglichkeit der Therapie schließen (Muskelschwund, Kachexie, Inappetenz, Polyneuropathie?). Eine Dosisreduktion unter die Wirksamkeitsgrenze kommt einer Scheinbehandlung gleich, wobei die Nebenwirkungen unter Umständen weniger reduziert werden als wünschenswert wäre. Die ist im gegenständlichen Fall glücklicherweise nicht eingetreten, doch sind sich die Behandler darüber offenbar im Klaren, dass das Spektrum an in Frage kommenden second-line-Therapeutika bereits erwogen und ausgeschieden worden war.

Es bleibt aber darüber hinaus noch eine Alternative zur Scheinbehandlung, und zwar die Behandlungspause. Diese lässt die einfache Argumentation zu, dass sich der Körper von der Chemotherpie erholen müsse, Aufbaumittel brauche und – unterstützt von gut geplanter analgetischer Therapie – sich wieder bewegen und kräftigen ließe. Diese Inhalte leuchten in der Regel den Patientinnen ein, insbesondere wenn sich dadurch eine gewisse konstruktive Betriebsamkeit um sie entfaltet im Sinne einer „maximalen Unterstützung“ (maximal supportive care). Sie besteht in keinen Alibihandlungen, sondern akkordierten Aktionen wie Implantation eines Portacath-Systems für die parenterale Kalorienzufuhr, einem Morphin-Bypass, allenfalls in Biphosphonatmedikation gegen Metastasenschmerzen und/oder Hyperkalziämie. Es kann eine sanfte Physiotherapie betrieben werden (Lehnstuhl, Bewegungsübungen, Muskelkräftigung etc.)

Damit wird die „Behandlungspause“ zu einer re-kreativen Therapie, wobei die Befürchtungen des Aufgegeben- oder Abgeschoben-Werdens gar nicht aufkommen. Stellt sich – vielleicht wider Erwarten – eine Besserung ein, so ist sogar die Wiederaufnahme einer bei der Patientin schon erprobten und halbwegs verträglichen second-line-Therapie zu erwägen, sofern die Lebensqualität dadurch nicht wieder nachhaltig beeinträchtigt wird. Wenn sich aber der Allgemeinzustand der Natur der Krankheit zufolge rasch verschlechtert und/oder durch die erforderliche (hohe) Dauerdosierung von Morphinderivaten eine gewisse Einschränkung der Vigilanz in Kauf genommen werden muss, sind die Patienten leichter geneigt, den Wunsch nach der eingeforderten Chemotherapie zu vergessen.

Schlussfolgerung

Das große Vertrauen und die großen Hoffnungen der Patientin lassen vermuten, dass das Therapeutenteam in der Vergangenheit kompetent, aber auch einfühlsam und menschlich korrekt agiert hat. Das Dilemma der Strategie in der Endphase des Krankheitsverlaufs muss aber ohne die aus Mitleid erfolgte drastische Dosisreduktion (Scheinbehandlung) auskommen. Eine solche Behandlung ist nicht ein fromme, sondern unter Umständen eine gefährliche Lüge, wenn die Nebenwirkungen der Therapie dennoch auftreten, die spezifisch erwünschte Wirkung aber längst nicht mehr zur Geltung kommt. Als Alternative hat sich in solchen Situationen die konstruktive (re-kreative) Behandlungspause mit intensivierter, umfassender Umsorgung (maximal supportive care) bewährt, bei deren Erfolg ohne Heuchelei die Hoffnung auf eine Weiterführung einer gut verträglichen second-line-Therapie genährt werden darf.

Bei allgemeiner Verschlechterung leitet die „Behandlungspause“ zur letzten Wegstrecke der Sterbebegleitung über, welche von Angehörigen und Therapeuten frei von Ambivalenz durchgestanden werden kann. In dieser letzten Phase wird die Patientin, ohne Illusionen zu wecken, auf der Endstrecke ihres Lebensweges begleitet.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
Wilhelminenspital, 2. Medizinische Abteilung
Montlearstraße 37, A-1171 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: