Fallbericht: Patientenvertrauen und Scheinbehandlung

Imago Hominis (2000); 7(4): 307

Bei der 60jährigen Patientin ist seit 3 Jahren ein metastasierendes Mamma Karzinom bekannt. Durch die regelmäßige Einnahme der Antiöstrogene konnte eine Ausbreitung der Knochenmetastasen hintangehalten werden. Bei einer neuerlichen Nachsorgeuntersuchung klagt die Patientin jedoch über Müdigkeit, Gewichtsverlust und diffuse WS-Beschwerden. Bei den daraufhin durchgeführten Untersuchungen muss festgestellt werden, dass es doch zu einer Zunahme der Metastasen gekommen ist. So wird der Patientin eine Zytostatika-Therapie vorgeschlagen. Sie willigt ein und beteuert immer wieder, dass sie große Hoffnung hat, doch geheilt zu werden. Die Chemotherapiezyklen werden 2-tägig stationär durchgeführt, dazwischen liegt jeweils ein wöchentlicher Abstand. Auftretende Nebenwirkungen – Haarausfall, Übelkeit, Stomatitis und Zystitis – werden von ihr tapfer ertragen. Sie beteuert anlässlich der Visitengespräche immer wieder, dass sie großes Vertrauen in die Ärzte hat und diese Nebenwirkungen als notwendiges Übel gern auf sich nimmt, da sie nur so geheilt werden könne. Da sie gerade erst in Pension gegangen sei, wolle sie noch etwas von ihrem Leben haben, Reisen unternehmen, von der Welt etwas sehen. Familiär habe sie erst kürzlich ihre Eltern zu Grabe getragen, die kinderlose Ehe ist in den letzten Jahren zunehmend belastend, da ihr Mann vermehrt dem Alkohol zugesprochen hat. Wirklich gut versteht sie sich nur mit ihrer besten Freundin, die sie auch regelmäßig zu den Spitalsaufenthalten bringt und wieder abholt.

Die Ärzte und das Pflegepersonal haben bei keinem Gespräch mit ihr über eine mögliche Heilung gesprochen und sind im Gegenteil über den Fortschritt der Erkrankung und das blinde Vertrauen der Patientin erschüttert. In einem vorsichtig geführten Gespräch versucht der behandelnde Arzt die Patientin über den tatsächlichen Zustand aufzuklären und einen Behandlungsabbruch vorzuschlagen. Die Patientin akzeptiert den Vorschlag nicht. Sie missversteht die Andeutungen und unterstellt den Ärzten, dass man sie nicht weiter behandeln und abschieben wolle. Erst durch die Stationsschwester wird eine kleine Aussöhnung in die Wege geleitet. Das behandelnde Team überlegt nun, die Angehörigen in die Problematik mit einzubeziehen. Als Gesprächspartner kommt der Ehemann nicht wirklich in Frage, weil er selbst seit Jahren Alkoholiker ist und noch nie zu Besuch gekommen ist. Die beste Freundin der Patientin wäre zwar ansprechbar, da sie aber nicht verwandt ist, scheuen die Ärzte davor zurück, sie einzubeziehen.

Die Ärzte entscheiden sich dafür, das Vertrauensverhältnis nicht zu trüben und die Behandlung fortzusetzen, so wie es die Patientin auch erbeten hatte. Durch die Dosisreduktion werden die Nebenwirkungen hintangehalten, allerdings verschlechtert sich der Zustand der Patientin zusehends. Schließlich verstirbt die Patientin bei eingeschränktem Bewusstsein durch die hoch dosierte Analgetika-Therapie, aber in ungetrübten Vertrauen zu den Ärzten und dem Pflegepersonal.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: