Fallbeispiel

Imago Hominis (2000); 7(4): 305-306

Ein 59 Jahre alter Patient kommt in die Ordination eines Facharztes für Kardiologie und erzählt ihm folgende Krankengeschichte: er sei von Beruf Bauer, vor 5 Jahren habe er einen Herzinfarkt erlitten und den Hof an den Sohn übergeben. Er wurde damals auf Diät wegen Übergewicht und Hypercholesterinämie eingestellt. Medikamentös erhielt er einen ß-Rezeptoren-Blocker und Molsidolat. Der Blutdruck war damit gut eingestellt und er sei mit dieser Behandlung bis heuer Beschwerde frei gewesen. Er konnte am Hof mithelfen und auch schwerere Arbeiten ohne Probleme verrichten. Heuer hätte ihm nun der Hausarzt einen Rehabilitationsaufenthalt angeraten, gleichsam ein Generalservice, zu dem sich der Patient auch entschlossen hatte. Dort angekommen wurde er gleich zu Beginn vom kardiologischen Spezialisten medikamentös umgestellt: Molsidolat wurde abgesetzt, mit dem Kommentar „dieses Medikament sei veraltert und nicht Evidenz-gesichert“. Dafür erhielt der Patient zusätzliche ein Statin und ein Aspirin sowie einen ACE-Hemmer. Daraufhin ging es dem Patienten miserabel. Er bekam plötzlich Stenokardien bei nur geringfügiger Anstrengung, außerdem Übelkeit und Krämpfe in den Beinen. Er ging zum behandelnden Arzt des Rehabilitationszentrums und verlangte die alten Medikamente. Dies sei unmöglich, bekam er zur Antwort: Die nun verordnete Therapie sei weltweit der Standard und könne sein Leben retten. Die Nebenwirkungen müsse er in Kauf nehmen. Er soll froh sein, dass er nun stenokardische Beschwerden bekomme, da er auf diese Weise sein Belastungslimit feststellen könne. Wegen der Magenbeschwerden wird dem Patienten noch ein H2-Blocker verordnet. Wieder zu Hause konnte der Patient plötzlich seine gewohnte Arbeit am Hof nicht mehr verrichten. Gott sei Dank hatte er noch einige Restbestände von Molsidolat daheim, die er einnahm und worauf es ihm wieder besser ging. Nachdem nun diese Restbestände aufgebraucht waren, ging der Patient zu seinem Hausarzt und bat ihn um die alte medikamentöse Einstellung. Dieser freilich meinte, er könne nun dies nicht mehr verantworten, wo doch die Spezialisten anderes entschieden hätten und Molsidolat verschreibe er ihm auch nicht, er möchte sich nicht noch einmal als veralteter Praktiker desavouieren lassen. Daraufhin ging der Patient zum nahegelegenen Internisten, der ähnlich reagierte wie der praktische Arzt. Zuletzt kam der Patient nun in die Ordination des Kardiologen mit der Frage, ob es wirklich lebensgefährlich sei, die Medikamente abzusetzen und die alte Therapie mit Molsidulat und dem ß-Rezeptoren-Blocker weiterzuführen. Der Kardiologe beruhigte den Patienten: Die zusätzlich verordneten Medikamente seien nur Vorsichtsmaßnahmen, von denen der Patient mit einer Wahrscheinlichkeit von 100:1 nicht profitieren würde. In Anbetracht der erheblichen Nebenwirkungen könne er daher ruhig darauf verzichten. Außerdem können ihm die Medikamente das Leben nicht retten oder den Herzinfarkt verhindern, sondern bestenfalls das Ereignis um einige Zeit hinausschieben. Der Patient bekam daraufhin wieder seine alte Medikation wieder verschrieben bekommen und war damit wieder Beschwerde frei, belastbar und zufrieden.

Kommentar zum Fall:

Dieses Beispiel ist ein klassischer Fall für die Frage die sich der praktische Arzt immer wieder stellen muss: Wie soll die Erkenntnis wissenschaftlicher Daten sinnvoll am konkreten Einzelpatienten umgesetzt werden. Heute wird weltweit die sogenannte Evidence Based Medicine (EBM) eingefordert und die Ärzteschaft wird mit einer Unmenge von Daten konfrontiert, auf Grund derer dann eine ganz bestimmte Therapie mit einer Unbedingtheit gefordert wird, der sich der praktisch tätige Arzt kaum entziehen kann. Andererseits erscheint im Einzelfall eine ärztliche Maßnahme letztlich nur dann sinnvoll, wenn sie dem Patienten in seiner Gesamtheit hilft und nicht nur im Gesamtkollektiv als statistisch wirksam belegt ist. Der Arzt steht also heute oft vor dem Dilemma zwischen einer Art Defensivmedizin zur eigenen forensischen Absicherung für den gerichtlichen Ernstfall und dem Wohl des Patienten. Wissenschaftlich gesicherte Daten (EBM) sind allerdings zwar ein notwendiger, keinesfalls aber schon ein ausreichender Grund um eine Therapie im Einzelfall zu beginnen. Wenn Nebenwirkungen auftreten wie im konkreten Beispiel oder wenn die Anzahl der eingenommenen Medikamente bereits so groß ist, dass ernsthaft an der nötigen Compliance des Patienten gezweifelt werden muss (bekanntlich nimmt die Compliance mit der Anzahl der eingenommenen Medikamente deutlich ab), muss der zu erwartende Nutzen einer Behandlung gegen die Nachteile abgewogen werden. Die Gefahr eine Medizin, die ausschließlich auf statistischer Signifikanz basiert, besteht gerade darin, Patienten nach Mehrheitsverhältnissen im Kollektiv zu behandeln, ohne seine individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Metaanalysen, Computerprogramme und pauschale Richtlinien von Konsens-Konferenzen sind starre, statische Größen, deren Prinzip es ist, gerade vom individuellen Patienten abzusehen. Sie können zwar dem Arzt eine große Hilfe in Diagnose und Therapie sein, ihm aber niemals eine Therapieentscheidung aufzwingen oder ihm umgekehrt die Verantwortung für seine Entscheidung abnehmen. Die ärztliche Entscheidung resultiert immer aus einem dynamischen Prozess vielfältiger Überlegungen. Diese müssen neben der theoretischen Wirkung (Effekt) auch die Zweckmäßigkeit (Wirksamkeit) einer Therapie und ihre Relevanz berücksichtigen und sie ins rechte Verhältnis zu den individuellen Bedürfnissen des Patienten setzen (Prinzip, Verhältnismäßigkeit). Erst dann kann beurteilt werden wie sinnvoll, d.h. hilfreich eine Behandlung für den konkreten Patienten letztlich wirklich ist. Sinnvoll erscheint eine Therapieempfehlung nur dann, wenn sie dem Patienten in seiner Gesamtheit nützt. Ärztliche Kunst besteht also gerade darin, aus einem Netzwerk vielfältiger objektiver und subjektiver Komponenten im partnerschaftlichen Dialog mit dem individuellen Patienten selbst die letztlich für ihn richtige und daher sinnvolle Entscheidung zu treffen. Ein Hauptproblem gerade in der Präventivmedizin besteht in der Tatsache, dass die (kardiovaskulären, onkologischen, usw.) Ereignisse nicht, wie oft behauptet wird, „verhindert“ sondern eben nur um einige Zeit (oft nur Monate) hinausgeschoben werden können.1 Man fragt sich, ob uns Ärzten diese Tatsache wirklich immer so bewusst ist? Unserer Meinung nach sollte man in der Präventivmedizin mit den Ausdrücken „Leben retten“ oder „Ereignisse verhindern“ vorsichtiger umgehen, weil sie den wahren Sachverhalt verschleiern und Heilung vortäuschen, wo in Wirklichkeit nur eine relativ kurze Ereignisverzögerung bzw. geringe Lebensverlängerung erreicht werden kann. Dieser Tatsache sollte bei der Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen mehr Rechnung getragen werden.

Aus dieser Perspektive einer Sinnorientierten Medizin hat der zu Rate gezogene Kardiologe richtig gehandelt, weil er zugunsten einer verbesserten Lebensqualität entschieden hat und eine möglicherweise etwas verkürzte Lebenserwartung in Kauf genommen hat.

Referenzen

  1. Bonelli, J., Prat, E. H., Sinnorientierte Medizin (S.O.M.). Paradigmenwechsel in der Medizin: von der Machbarkeit zur Sinnhaftigkeit - Medizin für den Einzelfall, Imago Hominis 1999, 3: 187-207
Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: