Editorial

Imago Hominis (2005); 12(4): 253-254

Erkrankt der Mensch unserer Gesellschaft an seinem Lebensstil? Nietzsche hat den Menschen als das nicht festgestellte Tier bezeichnet. Ja, der Mensch vervollkommnet sich laufend mit Hilfe seines eigenen vernünftigen Handelns. Er ist ein Kulturwesen mit dem Vermögen, natürliche Mängel zu kompensieren und durch Technik und Lebensstil sich das, was die Anthropologie die zweite Natur (d. h. Kultur) nennt, zu gestalten. Diese zweite Natur ist kein Luxus, sondern für den Menschen überlebenswichtig. Sie ist eine Blitzableiterkultur (R. Safranski), weil prinzipiell darauf ausgerichtet, Gefahren und Risiken zu bewältigen, Ängste und Stress zu reduzieren. Durch kulturelles Handeln ergänzt der Mensch seine Natur, aber er entfernt sich gleichzeitig von ihr, denn als Kulturwesen ist er kein reines Naturwesen mehr. Offensichtlich gibt es eine optimale „Entfernung“ – man könnte sie auch Mischung nennen – zwischen Kultur und Natur. Wird sie überschritten, dann entstehen Stress und zusätzliche Risiken. Kann es sein, dass sich durch den Lebensstil Kultur und Natur zu weit entfernen, so dass man krank wird?

Vieles spricht dafür, dass der Mensch unserer Gesellschaft am Lebensstil erkrankt, denn der oft zitierte Stress und die Stresskrankheiten nehmen zu. Das zeigt sich auch in den gesundheitsgefährdenden kulturellen Widersprüchen, in die der heutige Mensch verstrickt ist. Während von der Wellness-Industrie z. B. verlangt wird, dass sie unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel in kurzer Zeit das fehlende Wohlbefinden wieder herstellt und streng genommen Wunder wirkt, ist kaum jemand bereit, seine gewohnte (ungesunde) Lebensführung aufzugeben: Chronische Schlafdefizite, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Dauerstress, 60 Stunden Arbeitszeit pro Woche oder mehr, wechselnde Partnerschaften, Beziehungslosigkeit, und der nicht selten hinzu kommende Konsum von Genussmitteln wie Alkohol, Tabakrauch, leichten Drogen oder Medikamenten stehen für viele Zeitgenossen unserer Gesellschaft auf der Tagesordnung. Von der Lifestyle-Medizin verlangt man zusätzlich , dass sie alle Exzesse des Lebensstils kompensiert. Diese eigentümliche Gespaltenheit rächt sich nicht selten mehrfach. Der allgemein verspürte Zweifel ob der Angemessenheit der Lebensart erlangt durch den plötzlichen Ausbruch einer physischen oder psychischen Krankheit Gewissheit. Dann ist es vielleicht noch nicht zu spät, wie zahlreiche Zeugnisse berichten: Erst durch den Ausbruch einer Erkrankung alarmiert, kam das Umdenken und die Änderung des Lebens zustande. Ob es einen prophylaktischen Lebensstil gibt? Man kann davon ausgehen, dass eine Grundintuition des Menschen – oder das Gespür für das, was richtig oder falsch ist, nicht zur Gänze verloren ist. Auf diese innere Stimme zu hören scheint bisweilen mehr wert zu sein, als den „Wellness-Propheten“ Glauben zu schenken.

In der vorliegenden Ausgabe wurde der Frage nachgegangen, ob es Zusammenhänge zwischen Lifestyle und psychischer Gesundheit gibt. Oder andersherum gefragt: Macht unsere Gesellschaft psychisch krank? Dabei sind Neurologen und Psychiater zu Wort gekommen. Welche Rolle spielt der Stress in unserem Leben, und macht er in jedem Falle krank (Stelzig)? Was brauchen Kinder, um sich gut und gesund entwickeln zu können und welche Form der Lebensführung zeitigt ihre schädigende Wirkung so, dass auch die Zukunft davon geprägt sein wird (Thun-Hohenstein)? Ja, kann man davon sprechen, dass insgesamt weltweit gesehen die psychiatrischen Erkrankungen zugenommen haben? Diese Frage wird mit einem zaghaften Ja beantwortet, wobei der Analyse der pathogenen Faktoren höchste Bedeutung zukommt (Hoffmann). Die Frage nach der Innerlichkeit des Menschen mit der Dimension des Religiösen war lange Zeit Stiefkind in der Therapie psychischer Alterationen. Und dennoch muß ihr ein Stellenwert eingeräumt werden, der nach und nach in seiner Bedeutsamkeit für die Therapie erkannt wird (Bonelli). Wie komplex die Zusammenhänge zwischen Lifestyle und psychischer Gesundheit sind, wird im Fachbereich der Geriatrie und speziell der geriatrischen Psychiatrie deutlich. Hier tritt eine Überschneidung mit der Gesellschaftspolitik zu Tage, die die nächsten Generationen noch stark beschäftigen wird (Stübben).

Erfreulicherweise können wir über eine Vergrößerung unseres Redaktions-teams berichten. Susanne Kummer wird ab nun gemeinsam mit Notburga Auner die Schriftleitung übernehmen. Sie wird außerdem die Öffentlichkeitsarbeit im Institut führen und als wissenschaftliche Referentin einige Projekte bearbeiten. Im nächsten Jahr wird Imago Hominis eine Neuerung erfahren: es wird über den Lit-Verlag herausgegeben und auch in Fachbuchhandlungen bezogen werden können. Wir hoffen auf eine Erweiterung unseres Leserkreises!

Allen unseren Lesern wünschen wir ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes Neues Jahr 2006!

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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