Der instrumentalisierte Patient im Gesundheitswahn

Imago Hominis (2008); 15(4): 335-338
Reinhard Lenzhofer

Medizin und Machbarkeit

Als Bürger des 21. Jahrhunderts blicken wir mit Genugtuung, Dankbarkeit und Stolz auf die Errungenschaften des medizintechnischen Fortschritts der letzten hundert Jahre, der wesentliche Quelle einer phänomenalen Verlängerung der Lebenserwartung aller Menschen in unserer Gesellschaft geworden ist. Diese Erfolge und Fortschritte in der Medizin haben eine weitreichende, grundlegende Änderung im Bewusstsein vieler Menschen bewirkt und dazu geführt, dass an die Stelle der vormals nicht hinterfragten Akzeptanz schicksalhafter Verläufe von krankhaften Zustandsbildern heute sehr oft die Forderung nach menschlichen Machbarkeitsentscheidungen getreten ist. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die mit der naturwissenschaftlichen Entwicklung der Medizin einhergehenden Erfolge höchste Anerkennung fordern dürfen. Ausgehend von der erfolgreichen Seuchenbekämpfung, wie von Pest, Cholera, Tuberkulose und Pocken im letzten Jahrhundert, bis hin zur Einführung lebensrettender Substitutionstherapien, wie Insulin und Schilddrüsenhormonen reichen die großartigen Leistungen der modernen Medizin, die kein Mensch in Abrede stellen kann. Diese Erfolge waren so überwältigend, dass in weiten Bereichen eine Zukunftsgläubigkeit um sich gegriffen hat, die letztlich dazu führte, dass viele Menschen zu glauben begonnen haben, dass „alles machbar“ ist.

Medienrummel und Politikerversprechen

Echte und angebliche Erfolge und Fortschritte in der Medizin werden heute nicht selten von einer gewissen Wissenschaftshysterie begleitet, die von den Medien oft unkontrolliert in die Welt getragen wird. Es ist für unsere Zeit charakteristisch, dass sowohl der Patient als auch der Arzt in einem bis dato nicht gekannten Ausmaß der Einwirkung von Medien ausgesetzt sind. Auf der einen Seite werden völlig ungefiltert angebliche Ergebnisse der Spitzenforschung, lange bevor sie praktisch anwendbar geworden sind, in die Öffentlichkeit getragen. Die Medienlandschaft greift diese Informationen gierig auf und wirft sie ungefiltert und häufig unseriös in die Zeitungen und auf die Bildschirme. Die Heilsmeldungen finden sich auf den ersten Seiten der Tageszeitungen und Wochenblätter, meist geschmückt mit dem Bild des jeweiligen Arztes. Der nicht gerade seltene Fehlschlag steht meist Wochen später irgendwo zwischen dem Kleingedruckten, ganz hinten, wenn überhaupt. Diese oft falsch verstandenen Sensationsnachrichten rufen bei vielen Menschen ein falsches Anspruchsdenken hervor, das bei Nichterfüllung der eigenen, oft illusionären Wunschvorstellungen sogar zur gerichtlichen Klage führen kann.

Diese offensichtlich pseudoreligiös aufgeheizte Verklärung der Gesundheit in unserer Gesellschaft, die ein klarer Ausdruck eines sonst an allen Ecken und Enden festzustellenden Werteverlustes im Rahmen einer universellen Glaubenskrise ist, hat dazu geführt, dass Politiker in ihrer Funktion als verlängerter Arm des Volkswillens auf diesen Gesundheitsexpresszug kritiklos aufgesprungen sind und sich vor gesundheitspolitischen Fragen, die bei Nichtlösung hinter vorgehaltener Hand als potentiell staatsbedrohlich erkannt werden, drücken und zumeist aus opportunistischen Gründen die notwendigen politischen Entscheidungen verantwortungslos auf einen späteren Zeitpunkt hinausschieben.

Hoffnung auf Heilung – Anspruch auf Gesundheit?

Gesundheit ist also ein Gut, von dem viele Menschen glauben, dass sie darauf eine Art berechtigten Anspruch erheben können, insbesondere dann, wenn aus Fachkreisen Signale kommen, die Hoffnungen auf Heilung schüren. Gesundheit wird in weiten Kreisen der Bevölkerung als das höchste für einen Menschen erreichbare Gut betrachtet. Es ist deshalb auch nur verständlich, dass zur Aufrechterhaltung und Wiedergewinnung dieses Zustandes alles getan werden muss und keine Kompromisse akzeptabel erscheinen. Wenn wir uns aber die Definition der WHO vor Augen führen, bei der Gesundheit einen Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens darstellt, wird uns klar, dass es praktisch keinen Menschen gibt, der für sich diese Eigenschaft „gesund zu sein“ beanspruchen könnte. Selbst im extremen Ausnahmefall eines körperlich gesunden und sozial abgesicherten Millionärs wird die häufig zu beobachtende Depression ein Grund sein, dass man ihn als krank bezeichnen muss. Wenn man aber die These vertritt, wie dies heute geschieht, dass wirklich alles getan werden muss, um diese Art von Gesundheitszustand zu erreichen, dann wird auch die Diskussion über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit gewisser medizinischer Maßnahmen letztlich nicht gehaltvoll zu führen sein. Wir befinden uns deshalb in einer scheinbar unlösbaren Situation, weil wir Gesundheit zum allerhöchsten Gut erhoben haben und deshalb eben alles getan werden muss, um dieses, entsprechend der WHO Definition ohnehin theoretisch niemals erreichbare Ideal doch noch zu erreichen. Die heute immer wieder geführte Diskussion um die Ressourcenknappheit kann unmöglich einer Lösung zugeführt werden, wenn das Ziel, für das Ressourcen aufgebracht werden müssen , theoretisch nicht erreichbar ist und gleichzeitig ein gesellschaftlich akzeptierter Anspruch auf die Bereitstellung aller im Moment vorhandenen therapeutischen Methoden besteht.

Um dieses Dilemma aufzulösen, wird es notwendig sein, den Machbarkeitswahn unserer Tage etwas zu korrigieren und den Menschen die wahren Möglichkeiten der Medizin etwas näher zu bringen, damit sie selbst in den Entscheidungsprozess verantwortungsvoll miteingebunden werden können. Nur wer selbst entscheidet, kann als mündiger Patient bezeichnet werden.

Ehrlichkeit am Krankenbett

Es ist nicht unproblematisch, dass wir Ärzte Verbesserungen des Gesundheitszustandes oder auch der Lebensqualität unserer Patienten nur mit sogenannten objektiven Parametern messen und dabei die individuellen Wertvorstellungen der Betroffenen zu wenig berücksichtigen. Wir sind oft fälschlich der Meinung, dass Patienten nach einem durchgeführten Aufklärungsgespräch dieselbe Vorstellung vom zu erwartenden Nutzen einer bestimmten Therapie wie wir selber haben. Wenn wir in vielen Situationen genau wissen, dass der zu erwartende Nutzen einer bestimmten Therapie objektiv betrachtet bescheiden sein wird, erhoffen die betroffenen Patienten trotzdem die Wiedererlangung der vollen Gesundheit. Diese Diskrepanz lässt Enttäuschung aufkommen und führt oft zur Flucht des Patienten aus der wissenschaftlichen Medizin.

Um die Ehrlichkeit am Krankenbett leben zu können, die eine unabdingbare Voraussetzung für eine gute Arzt-Patienten Beziehung darstellt, wird es notwendig sein, neue Richtlinien zu schaffen, um sich nicht dem berechtigten Vorwurf der naturwissenschaftlichen Blindheit aussetzen zu müssen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass wir mit verständlichen Worten den betroffenen Kranken und deren Angehörigen ehrlich mitteilen müssen, dass so manche Therapie zwar die einzig verfügbare wirksame Behandlung in einer bestimmten Situation ist, diese aber trotzdem nicht vermag, die Gesundheit in vollem Umfang wiederherzustellen, sondern nur eine kurze Verzögerung von wenigen Wochen oder vielleicht Monaten darstellt, bis der unausbleibliche Tod nach menschlichem Ermessen eintreten wird. Das Beziehen einer individuellen, ganz persönlichen Position in einem derartigen Moment wird so manchem Patienten erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht, wenn ihm die Wertigkeit einer zwar statistisch signifikanten, aber fraglich relevanten Medizin als euphorisches Muss von uns Ärzten präsentiert wird.

Liegt hier nicht eine Manipulation und Instrumentalisierung des Patienten vor, wenn wir ihm von Verbesserungschancen seiner schweren Erkrankung nach Anwendung einer bestimmten Therapie berichten, von der wir zwar die statistische Signifikanz kennen, aber auch gleichzeitig wissen, dass nur wenige Wochen oder gar Tage Lebenszeitverlängerung zu erwarten sind?

Untersuchungskollektiv versus persönliche Behandlung

Wenn ein Patient zum Arzt geht, erwartet er sich normalerweise eine individuelle Behandlung. Er möchte verständlicherweise die beste Therapie, die das geringste Risiko aufweist. Viele Patienten werden aber heute in Studien behandelt, die entsprechend unserem naturwissenschaftlichen Grundverständnis als randomisierte klinische Studien konzipiert sind. In diesen Studien wird jeder individuelle Patient zu einem Teil des gesamten Untersuchungskollektivs reduziert und damit zu einem Instrument, um diese Studie entsprechend den wissenschaftlichen Kriterien durchführen und eine wissenschaftliche Frage beantworten zu können. Obwohl die freiwillige Zustimmung zur Teilnahme an derartigen Studien eine grundsätzliche Voraussetzung darstellt, kann man im Fall einer Studienteilnahme nicht mehr von einer individuellen, maßgeschneiderten Therapie sprechen. Erst das Ergebnis einer derartigen Studie eröffnet die Möglichkeit, auch für zukünftige Patienten maßgeschneiderte Standards festzulegen.

Derartige Standards werden heute, einem modernen naturwissenschaftlichen Verständnis entsprechend, auf Basis der sogenannten „Evidence based Medicine“ gefunden. Evidence based bedeutet jedoch nur, dass sich das Ergebnis einer in Prüfung befindlichen Therapie vom Ergebnis einer randomisiert angewendeten Standardtherapie statistisch signifikant unterscheidet. Ob dieser Unterschied auch, wenn er einer potentiell betroffenen Patientenschaft oder der Allgemeinbevölkerung zur Beurteilung vorgelegt wird, praktisch relevant ist, wird nicht beantwortet. Diese Frage ist eindeutig eine gesellschaftliche und kann auch nur von der Gesellschaft selbst oder von jedem Individuum persönlich beantwortet werden. Um diese Problematik verständlicher zu machen und klarer zu formulieren, möchte ich eine praktische Frage aufwerfen, die sich nach den euphorischen Publikationen nach dem diesjährigen ASCO Meeting, dem 2008 abgehaltenen Meeting der amerikanischen Krebsgesellschaft, in dem diese Nachricht als größte Errungenschaft des letzten Jahres bezeichnet wurde, förmlich aufdrängt: „Wie relevant ist ein statistisch signifikanter Überlebensvorteil von 1,4 Monaten bei Anwendung einer bestimmten Therapie bei Vorliegen eines Lungentumors?“

Wenn wir diese Frage an Ärzte richten, so wird die Antwort lauten, dass Patienten selbstverständlich ein Anrecht darauf haben, diese Therapie ohne jeglichen persönlichen Kostenaufwand bekommen zu können, hat doch jeder Mensch in unserem Staat das gesetzlich festgeschriebene Anrecht darauf, die allerbeste Therapie, die heute mittels der Krücke der statistisch signifikanten Evidence based Medicine definiert wird, zu erhalten, koste es, was es wolle. Patienten haben nicht nur ein Anrecht darauf, sondern könnten auch, im Fall, dass sie diese Therapie nicht bekommen sollten, mit guter Aussicht auf Erfolg den betreffenden Arzt  klagen.

Wenn wir diese Frage an die das Präparat zur Verfügung stellende Industrie richten, so wird die Antwort möglicherweise noch etwas pointierter ausfallen, im großen und ganzen jedoch gleich beantwortet werden.

Wenn wir diese Frage jedoch den betroffenen Patienten selbst stellen, so wird höchstwahrscheinlich nicht jedes betroffene Individuum diesen 1,4 Monate Zeitabstand einer relativen Verbesserung gleich positiv beantworten. Es wird so manchen Patienten geben, der für sich selbst eine derartig minimale Verbesserung als irrelevant einstuft und die mit dieser Therapie einhergehenden Nebenwirkungen und Belastungen nicht in Kauf zu nehmen bereit sein wird. Wir werden aber auch vielleicht zur Kenntnis nehmen müssen, dass es keine allgemein gültige und regelmäßig reproduzierbare Antwort auf solch eine schwierige Frage geben kann und wird, da es auch hier Menschen geben wird, für die diese Pseudogesundheit das allerhöchste Gut ist, für das auch das Letzte eingesetzt werden muss.

Gesundheit: ein hohes, aber relatives Gut

Obwohl die Gesellschaft als Ganzes letztlich selbst zu entscheiden hat, was das absolut höchste Gut im Leben sein sollte und was ein medizinischer Fortschritt überhaupt ist, der von einem Patienten auf Kosten der Allgemeinheit beansprucht werden darf, dürfen wir uns als Ärzte nicht nur hinter den heute üblichen statistischen Aussagen einer Evidence based Medicine verstecken, sondern müssen unsere Verantwortung einer individuellen Betreuung ernst nehmen und jeden Patienten als unser Alter Ego betrachten. Wir Ärzte haben eine fundamentale Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann, und sind verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass jeder Mensch letztlich die Begrenzung des Lebens annehmen muss, dass Krankheit und Sterben nicht nur ein absolutes Defizit, sondern auch manchmal eine Quelle bescheidenen Glücks sein kann.

Ärzte, die aus egozentrischen Gründen öffentlich dazu auffordern, dass die Gesellschaft beschließen muss, dass die Gesundheit des Individuums das allerhöchste Gut ist, das ein Mensch anstreben kann, und damit meinen, dass sich jegliche Fragen nach der Finanzierbarkeit z. B. aller grenzwertigen onkologischen Therapien automatisch erübrigen würden, verhindern eine verantwortungsvolle Diskussion der Ressourcenverteilung, von der anzunehmen ist, dass nur eine solche letztlich zu einer dem Menschen angepassten Handlungsweise führen kann. Wir müssen endlich begreifen, dass auch in unserer so fortgeschrittenen Zeit jedes Leben früher oder später in eine Situation führt, die im naturwissenschaftlichen Sinne nicht mehr korrigierbar ist. Eigenartigerweise ist es in unserer sich sonst so fortschrittlich bezeichnenden Welt sogar notwendig, auf diese so banal klingende Tatsache hinzuweisen, dass es ein Leben ohne Tod nicht gibt und nicht geben wird, ja, dass diese Vorstellung ein unvorstellbares Horrorszenario darstellt, gäbe es tatsächlich das ewige Leben auf Erden, womit auch automatisch die Unwiederholbarkeit jedes einzelnen individuellen Menschenschicksals aufgehoben wäre.

Es wird auf Grund eines offensichtlichen Defizits notwendig sein, auch uns Ärzte auf die Situation der nicht mehr behandelbaren letzten Wegstrecke besser vorzubereiten und uns klar zu machen, dass das Sterben noch nicht den Tod bedeutet, sondern diese Zeit des Sterbens einen wichtigen Teil, vielleicht den wichtigsten Teil des Lebens darstellt.

Es genügt nicht, die Gesundheit mit einem pseudoreligiösen Mäntelchen zu umgeben und damit jegliche gesellschaftliche Frage nach einer Güterabwägung im Keim zu ersticken. In den Spitälern unseres Landes spüren wir diese Spannung fast täglich, da wir mit beschränkten finanziellen Mitteln auskommen müssen und nicht selten gleichzeitig mit Forderungen konfrontiert werden, deren medizinische Sinnhaftigkeit nicht unumstritten ist. Wir würden uns bisweilen eine echte Gesundheitspolitik wünschen, die in gerechter Weise den Menschen unseres Landes dient und auch Diskussionen zulässt, die letztlich, basierend auf nüchternen Betrachtungen, zu einer Kunst des Abwägens führt.

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Lenzhofer
Kardinal Schwarzenberg’sches Krankenhaus
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