Editorial

Imago Hominis (2008); 15(3): 183-185
Friedrich Kummer

Es gehört zu den anthropologischen Grundlagen, dass der Mensch für die Gemeinschaft konzipiert ist. Auf sich allein gestellt, ist er praktisch nicht lebensfähig. Wenn ein Kind geboren wird, verlässt es den schützenden Bereich des mütterlichen Organismus, wird aber in einer neuen Geborgenheit aufgefangen, im „sozialen Uterus“ (Adolf Portmann), dessen Klima zunächst von den Eltern zu einem wesentlichen Teil mitgestaltet wird. Der Mensch, der heranreift, ist aber immer auch der jeweiligen sozialen Großwetterlage ausgesetzt, die in Geborgenheit oder anhaltender Herausforderung besteht. Kann es sein, dass diese „Wetterfühligkeit“ nicht nur unsere Sinne involviert, sondern uns buchstäblich „zu Leibe rückt“? Wenn das eben erblickte Licht der Welt mit einem sozialen Frösteln verbunden ist: Hat dies einen Einfluss auf das spätere Leben? Es scheint, als leide das Wohlergehen (im weitesten Sinn) eher und mehr, wenn der Mensch einer gelebten Gemeinschaft entzogen ist, so wie der Fisch, dem das Wasser knapp wird. Auch bestätigen uns die Biosoziologen, dass dann die Krankheitsanfälligkeit steigt und – damit das „Gesundheitsniveau“ einer ganzen Population sinken kann. Warum nur wird nach wie vor die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie gegenüber instabilen Partnerschaften oder einer Patchwork-Familie als Ideal empfunden?

Dieses endemische Unbehagen erscheint berechtigt, wenn statistisch belegbar wird, dass für die im Familienverband Lebenden nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Gesundheit und sogar Lebensdauer höher ist als bei den „Unverbundenen“.

Dieses Heft ist der Interaktion von Familie und Krankheit gewidmet, wobei wir Beiträge von namhaften Experten versammeln konnten, die jeweils aus ihrer fachlichen Sicht und dennoch in erstaunlicher Einmütigkeit die sogenannte „funktionierende“ Familie als gesundheitlichen Vorteil ansehen.

Es scheint mittlerweile schwerer geworden zu sein, die „Familie“ zu definieren.

Für die Kinderpsychologin Brigitte Rollett ist Familie ein weitgehend subjektiv geprägter Begriff, der auf einer selbst empfundenen Zugehörigkeit zu einem (teils schicksalhaften, teils frei gewählten) Personenkreis beruht. In diesem Mikrokosmos sind – genau wie in der großen Welt – die Qualität der partnerschaftlichen Beziehung, die Kultur der Kommunikation und deren Training (!) für jegliches Stressmanagement von größter Bedeutung. Eine Herausforderung spezieller Art ist die behutsame Einbeziehung der Kinder bei der Konfrontation mit Pflegebedürftigkeit und Tod eines Familienmitglieds.

Der Psychosomatiker Peter Gathmann sieht in der Familie eine Gruppe von Personen mit gemeinsamer Geschichte, der sie nicht entkommen. Für ihn beginnt die familiäre Einbettung der Nachkommenschaft längst schon vor der Geburt, zumal die Erzeuger an ihrer je eigenen Geschichte zu tragen haben. Wenn Patienten beim Arzt vorsprechen, bringen sie diese mit, sodass ein radikal-maschinelles Heilungsparadigma zu kurz greift. Daher sein Appell an die Kollegen: Verschließt euch nicht den geschichtlichen (biographischen) Interaktionen eurer Patienten!

Der Kinderpsychiater Leonhard Thun-Hohenstein stellt uns einen neuen Namen für einen alten Begriff vor: die Resilienz. „Vulnerable but invincible“ heißt hier die Parole, die ein Phänomen der Bewältigung von ungünstigsten Lebenssituationen bezeichnet, etwa wie in der Boxersprache das „Auspendeln“ von Schlägen. Eine solche Fähigkeit fasziniert zuweilen die Biographen von berühmten Aufsteigern und vom Schicksal gebeutelten, letztlich aber erfolgreichen Menschen. Solches ereignet sich aber wohl auch, ganz unspektakulär, in unserer alltäglichen Nachbarschaft. Und wieder ist es die Familie, die dieses „Verkraften“ schwächen, aber eben auch begünstigen kann.

Markus Schwarz, Präsident der Gesellschaft für Familienorientierung, beleuchtet gemeinsam mit dem Kinderarzt Ludwig-Christoph Dóczy das vielfach unterschätze Problem der Gewalt in der Familie und geht dabei auf die besondere Rolle von Tätigen in Gesundheitsberufen zur Aufdeckung solcher Fälle ein.

Der Neurologe Gunther Ladurner nimmt sich gemeinsam mit Markus Schwarz und Tim Johansson vom Institut für Public Health, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg, der statistischen Erfassbarkeit von Familien- und Sozialstrukturen an. Sie können auf deren oftmals überraschende, wenn auch mittelbare Einflüsse auf Krankheitsneigung und Lebensdauer verweisen. Schon länger bekannt sind Negativeinflüsse von Bildungsmangel und niederem Sozialniveau. Neueren Datums sind die Untersuchungsergebnisse bezüglich der Benachteiligung von Unverheirateten bzw. Geschiedenen gegenüber jenen, die in harmonischen Beziehungen leben. Den ersteren drohen erhöhte Risken von Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen, aber auch von Unfällen und Selbstmord. Eigenartigerweise gilt dies viel mehr für unfreiwillige Singles als für Menschen, die die Ehelosigkeit aufgrund einer Berufung oder Aufgabe freiwillig gewählt haben. Erklärungsversuche der Zusammenhänge zwischen Familie und Krankheit (zitiert werden die Cohen’schen Modelle) leiten über zur Analyse von „Therapie-Ansätzen“. Diese konzentrieren sich auf die Forderung nach einer im großen Maßstab familienfreundlichen Politik, ein Stachel im Gewissen der Verantwortlichen, der aktueller ist denn je.

F. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: