Gescheiterte Gesundheitsreform – was nun?

Imago Hominis (2008); 15(3): 186-187
Enrique H. Prat

Die scheidende österreichische Regierung ist beim Versuch einer so genannten Gesundheitsreform kläglich gescheitert. Experten, Politiker und Publizisten sind von allen Seiten für oder gegen die Reformpläne der Regierung aufgetreten. Eine Einigung wurde nicht erzielt. Nun ist der Debatte mit dem Bruch der Koalition und der Ausrufung von Neuwahlen ein vorläufiges Ende gesetzt.

Kaum durchschaubar ist allerdings bis heute, was genau hätte reformiert werden sollen. Das österreichische Gesundheitssystem liegt laut Euro Health Consumer Index 2007 der Brüsseler Agentur Health Consumer Powerhouse auf Platz 1 in Europa. Herr und Frau Österreicher schätzen sich glücklich und atmen auf, dass die vom Zaun gebrochene Diskussion um die Gesundheitsreform ihr vorläufiges Ende gefunden hat. Die Frage ist: Wie lange? Werden die nach dem 28. September 2008 maßgeblichen Politiker etwas dazugelernt haben, um die Finanzmisere der Kassen zu lösen? Tatsache ist, wie eine Ende Juli 2008 durchgeführte Umfrage von OEKONSULT gezeigt hat, dass 54,8 Prozent der Österreicher befürchten, dass sie in absehbarer Zukunft aus Kostengründen nicht mehr die bestmögliche medizinische Behandlung beanspruchen werden können.

Wenn Geld und die ökonomische Effizienz das oberste Ziel der Reform sind, dann sollten die kommenden Verantwortlichen das auch klar aussprechen und nicht so tun, als ob das Beste reformiert, in seiner Qualität steigen und zugleich vor allem billiger gemacht werden sollte – das wäre die Quadratur des Kreises.

Dass ökonomische Interessen im Vordergrund stehen, ist offensichtlich. Eine reine Geldbeschaffung, um das Defizit jener Selbstverwaltungseinheiten, die die Krankenkassen sein wollen, aber nicht sind, in noch höheren Summen vom Staat decken zu lassen, kann für den Patienten nichts Gutes bringen, sogar bedrohlich sein.

Aus Sicht der politischen Ethik wird hier ein Etikettenschwindel betrieben. Es geht nach wie vor um eine Sanierung der Krankenkassen. Aber auch die Art, wie dieser Reformprozess geführt wird, ist ein wenig rühmliches Beispiel politischer Moral, in der einfach das Gesetz des Stärkeren durchgesetzt wird.

Die Gretchenfrage lautet: Wer soll zahlen?

Dass die Patienten zur Kassa gebeten werden, soll tunlichst nicht zum Thema werden – das wäre politischer Selbstmord. Niemand will für gleiche Leistung mehr zahlen. Gesundheitspolitiker und -experten reden schön, dass die im System vorhandenen Einsparungspotentiale durch effizienteren Einsatz der Ressourcen ausgeschöpft werden können. Klingt sehr gut, ist aber unglaubwürdig.

Das Gesundheitssystem ist ein vom Staat stark beeinflusster Markt, in dem es Angebot und Nachfrage von Leistungen und Medikamenten gibt. Den Ärzten kommt eine besondere Stellung zu: Sie sind einerseits Teil des Marktangebots, weil sie Leistungen anbieten, d. h. Behandlungen und Beratung. Die Tätigkeit des Arztes als Leistungsanbieter wird von den Krankenkassen kontrolliert und geregelt. Die Ärzte sind aber andererseits auch Teil der Nachfrage, denn im Arzneimittelmarkt, einem Teilmarkt des Gesundheitswesens, werden die Konsumentenentscheidungen bei Medikamenten vor allem von der Ärzteschaft getroffen. Alle rezeptpflichtigen und die meisten freiverkäuflichen Arzneimittel werden zuerst vom Arzt verordnet und dann vom Patienten direkt oder über das Krankenhaus gekauft. Deshalb ist der behandelnde Arzt – und nicht der Produktverbraucher, wie es in den meisten anderen Märkten der Fall ist – das Ansprechsubjekt der Firmen und der Adressat der Informations- und Werbestrategien – vor allem bei der Markteinführung von Arzneimitteln.

De facto ist das Vis-à-Vis des Arztes immer weniger der Patient, sondern immer mehr der Staat und die Pharmaindustrie. Gegenüber diesen zwei Marktriesen – Staat und Pharmaindustrie – ist die Unabhängigkeit der Ärzte fast eine Illusion oder zumindest stark bedroht. Wer dabei der Verlierer ist, ist klar: der Patient.

Ein unverzichtbares, ohnehin schon bedrohtes Fundament der Effizienz im Gesundheitswesen wird weiter angegriffen: das Arzt-Patient-Vertrauen. Die Apparatemedizin hat dieses Fundament bereits teilweise ausgehöhlt, weil sie Tendenzen enthält, sowohl den Patienten als auch den Arzt zu anonymisieren. Die anstehende Finanzierungsreform sollte sehr darauf achten, dieser Tendenz entgegenzuwirken, statt sie zu verstärken.

Offensichtlich soll die Reform (Geldbeschaffung) auf dem Rücken der Ärzte und der Pharmaindustrie ausgetragen werden. Dass die Pharmaindustrie zur Kassa gebeten wird, stört Herrn und Frau Österreicher wenig. Die Pharmaindustrie macht nach wie vor höhere Gewinne als jede andere Industriebranche. Und machen wir uns nichts vor: Die nationalen Gesetze kommen kaum gegen die global agierende Pharmaindustrie an. Sie wird schon einen Weg finden, um ihre gewohnt hohen Erträge trotz Reform beizubehalten.

Natürlich gibt es auch Einsparungspotentiale bei der Tätigkeit der Ärzte. Doch sollte man sehr genau die Einführung von neuen Kontrollen und verwaltungsaufwändigen Maßnahmen prüfen, denn sie nagen an der Unabhängigkeit der Ärzte. Damit zu spielen, ist gefährlich. Aus politisch-ethischer Sicht ist der Ball bei den Kassen, d. h. bei den Sozialpartnern. Sie, die Selbstverwalter, sind es, die sich um mehr Transparenz bemühen und bei sich selbst zu sparen beginnen müssen.

Die neue Regierung wird sich bald nach dem 28. September mit dieser Frage beschäftigen müssen. Sie täte gut daran, aus den Erfahrungen des letzten, gescheiterten Versuches zu lernen.

Erstens: Wenn es um die Sanierung der Kassen geht, soll man nicht von einer Gesundheitsreform, sondern nur von Kassenfinanzierungsreform sprechen. Zweitens: Sie soll nicht die schwächeren Verhandlungspartner (Ärzte und Patienten) in die Knie zwingen. Dies würde die Unabhängigkeit der Ärzte und das Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis untergraben. Drittens: Die Ärzteschaft weiß selbst am besten, wo sie zur Einsparung beitragen kann, ohne die Qualität der Versorgung zu gefährden. Man sollte die Vorschläge der Ärzteschaft ernst nehmen und darüber eine breite Diskussion unter Einbeziehung von unabhängigen Experten führen. Viertens: Die Machthaber sollen die Dingen richtig benennen, d. h. den Mut haben, auch die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass man die Kassen nicht sanieren kann, ohne höhere Beiträge einzufordern, wie auch immer sie gestaffelt werden. Laut eingangs erwähnter Umfrage von OEKONSULT erwarten 63 Prozent der Österreicher eine solche Erhöhung. Die Menschen spüren ziemlich genau, was auf sie zukommt.

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Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
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